Nicki holte mich kurz vor dem Essen ab, eigentlich wollte sie mir im Orden besondere Orte zeigen, von denen sie behauptete, dass man diese einfach kennen musste, wenn man hier lebte. Jedoch hatten wir das auf einen anderen Tag verschoben, weil ich zugegeben doch ein wenig fertig war. Stattdessen gingen wir gemeinsam zum Essen, so wie ich es Damien angekündigt hatte. Ich musste normal wirken, und das ging nicht, wenn ich neben mir zwei Bodyguards hatte.
»Ich habe doch recht damit, dass Damien und Will voll auf dich abfahren, oder?« Nickis blaue Augen fixierten mich, während wir zum Speisesaal gingen.
»Ganz ehrlich, bei Will kann ich es nicht sagen. Aber bei Damien denke ich schon. Ein wenig.« Ein wenig stand in diesem Moment für mich für Knutschen im Aufzug. Ich musste ihr ja nicht gleich erzählen, dass wir übereinander hergefallen waren.
»Also wenn Damien etwas möchte, dann entwickelt er einen Ehrgeiz, der von niemandem übertroffen werden kann, noch nicht einmal von Will. Und wenn die beiden gleichzeitig etwas wollen, geht das meistens nicht gut aus. Aber meine Worte sind natürlich keine Garantie, dass Will dich auf diese Art mag. Alles nur reine Vermutungen.«
Ehrlicherweise hoffte ich, dass es nicht stimmte, was Nicki sagte. Das Gefühl hatte ich bei Will außerdem nicht wirklich. Ich konnte Blicke gut einschätzen. Bei Damien war es eine Mischung aus Verlangen und Neugierde, während Wills liebevoll und umsorgend waren. Jedoch nicht auf eine sexuelle Weise, wie ich fand.
»Na ja, kommen wir mal zu einem anderen Thema. Brauchst du bei irgendetwas Hilfe? Vielleicht im Training oder so?«
Für einen Moment überlegte ich und verzog nachdenklich den Mund.
»Tatsächlich erst mal nicht. Ich denke, dass ich mich ein wenig hineinfinden muss, aber falls dann etwas sein sollte, komme ich zu dir.«
Nicki stimmte erfreut zu, und ihre blonden Haare, die zu einem Zopf geflochten waren, schwangen hin und her. Sie war einen guten Kopf kleiner als ich, doch hatte diese verdammte Ausstrahlung, die ihr eine gewisse Wichtigkeit verlieh. Ihr eigenes Selbstbewusstsein strahlte regelrecht nach außen.
»Das freut mich, wenn ich neuen Mitgliedern helfen kann, vor allem wieder einer Kitsune auf ihrer Reise.«
»Wieder?«, fragte ich und runzelte die Stirn. Das hieß, dass sie auch eine Kitsune kannte. »Lebte die andere Kitsune auch hier im Orden?«
Nickis Blicke huschten unruhig umher, und ich wusste automatisch, dass es ein heikles Thema war.
»Das sollte dir lieber Damien oder Meister Nakamura beantworten, was mit deiner Vorgängerin ist.«
Vorgängerin bedeutete, dass sie tot war. Ich hatte mir gemerkt, dass eine neue Kitsune nur erwachte, wenn zuvor eine verstarb. Ich fröstelte und Nicki sah mich mitleidig an.
»Ich werde Damien danach fragen.«
»Gut«, stieß Nicki erleichtert aus. Sie fühlte sich deutlich unwohl bei diesem Thema, und ich wollte nicht penetrant danach fragen. Es war der anderen Person gegenüber respektvoll, deren Reaktionen zu deuten und entsprechend zu reagieren. Denn ich dachte nicht, dass Nicki mich noch gern näher kennenlernen wollte, wenn ich ihr mit einer negativ behafteten Erinnerung im Gedächtnis blieb.
»Kein Thema.«
»Weißt du, es ist nicht so, dass ich nicht offen darüber reden darf, aber ich kann nicht so gut erzählen und bringe deshalb manchmal einige Dinge und Fakten falsch rüber, sodass sich alles schlimmer anhört, als es eigentlich ist.«
Ich nickte verstehend und schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln.
»Verstehe ich. Außerdem wollte Damien unbedingt, dass ich mit in den Orden gehe, also soll er auch die schwierigen Themen anpacken.«
Nicki lachte und ich grinste. Zum Glück konnte ich die Situation auflockern und entspannen. Doch nun im Wissen darüber zu sein, dass meine Vorgängerin noch nicht so lange tot war, machte mir Bauchschmerzen.
»Da hast du recht!«
Die Kantine kam in Sichtweite, und ich wurde mit einem Schlag unruhig.
Nicki schüttelte leicht den Kopf, als hätte sie meinen Umschwung bemerkt.
»Die meisten hier sind wirklich nett, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Sie möchten dich alle kennenlernen. Ich meine, du bist die Kitsune. Der Fuchs, der den Dämon verbannen wird, den wir nicht aufhalten können. Jeder von ihnen möchte an deiner Seite kämpfen. Komm, ich helfe dir.« Sie griff nach meiner Hand und zog mich in die Kantine. Die ersten Blicke spürte ich schon beim Eintreten, danach folgten immer mehr. Doch das war in Ordnung. Nicki drückte meine Hand und rempelte mich spielerisch mit der Schulter an, wobei sie meinen Oberarm traf. Gemeinsam holten wir uns etwas zu essen und ich landete wieder bei Joseph. Sein freundliches Gesicht nahm ein wenig Last von meinen Schultern.
»Hallo, was kann ich euch heute anbieten? Wir haben einen Gemüseauflauf mit …«
»Nehm ich«, platzte ich heraus und Joseph grinste mich an.
»Gute Wahl.«
Ich lächelte und stellte das Gericht auf mein Tablett.
Nicki entschied sich für das Gleiche, und gemeinsam machten wir uns daran, einen Tisch zu finden. Die meisten waren besetzt, jedoch bemerkte ich, dass wir nicht auf einen leeren zusteuerten, sondern auf einen voll besetzten. Es saßen Männer sowie Frauen daran. Sie alle hatten ein Tablett vor sich und aßen, während sie sich zwischendurch immer mal wieder miteinander unterhielten. Als wir auf den Tisch zukamen, sah eine von ihnen auf und rempelte ihren Nachbarn an. Es waren vier Personen, und plötzlich sahen sie uns alle an.
Nicki lächelte mir ermutigend zu, als ich zu ihr sah. »Hey, Leute, ich habe jemanden mitgebracht.«
Auf den Gesichtern breiteten sich mehrere Lächeln aus, die mir jeweils ein unterschiedliches Gefühl vermittelten. Viele verschiedene Begrüßungen wurden ausgesprochen, und ich grinste, weil sie sich ernst gemeint anfühlten. Nachdem ich mich gesetzt hatte und aufblickte, sprach der Typ mir gegenüber.
»Hey, ich bin Jesse, schön, dich kennenzulernen.«
Ich grüßte ihn und folgte der nächsten Stimme.
»Hallo, May, mein Name ist Blue.« Eine Frau mit dunklen Haaren sah mich an. Ihre Augen hatte sie ein wenig zugekniffen.
»Ich bin Janson«, sagte der Kerl links neben mir, mit seinen grünen Haaren war er nicht zu übersehen.
»Dann bin ich wohl die Letzte. Clare, so heiße ich, und wenn du jemals nach meinem richtigen Namen fragen solltest, dann werde ich dich an einen Ort bringen, den du niemals wieder verlassen wirst.« Sie sah mich so ernst an, dass ich schluckte. Sie lachte laut auf und schlug mit einer Hand auf den Tisch. »Das war nur ein Scherz, alles gut. Ich lege mich mit keiner Kitsune an. Einmal und nie wieder. Trotzdem, frage nie nach meinem richtigen Namen.«
Die anderen am Tisch stiegen genauso wie ich in das Lachen mit ein, und ein befreiendes Gefühl legte sich über mich.
»Okay! Gut zu wissen. Ich bin übrigens May«, stellte ich mich selbst vor.
»Als ob wir das noch nicht wüssten, Schätzchen.« Jansons Stimme klang amüsiert. Ich zuckte mit den Schultern.
»Ich geh eigentlich nicht davon aus, dass man mich kennt. Normalerweise bin ich nicht bekannt oder gar beliebt.«
»Du bist nicht nur bekannt, sondern berühmt«, nuschelte Clare, während sie sich ein Stück ihrer Pizza in den Mund schob.
Es gab Pizza? Wo war die denn? Die hatte ich nicht gesehen.
»Ich würde sogar sagen, ein richtiger Star.«
Jesse nickte bei seinen Worten und schloss für einen Moment die Augen. Hoffentlich war ich das nicht.
»Solange ich keine Autogramme geben muss, ist alles gut.«
»Oh, ich würde mich nicht darauf verlassen«, murmelte Nicki neben mir. Ich beschloss für den Moment einfach, dass sie falschlag.
Janson schob ein Stückchen seines Essens zu Clare. Diese tat dasselbe, es war wie automatisch. Ganz so, als würden sie das regelmäßig tun. Ich bewunderte Blues Haare, die sie an ihrem Kopf entlang nach hinten geflochten hatte. Auf mich wirkte sie direkt wie eine Kämpferin.
»Seht mal, die Aufpasser sind angekommen«, mäkelte Jesse und stocherte mit seiner Gabel in seinem Essen herum.
Ich wusste, wen er meinte, trotzdem drehte ich mich um. Will und Damien kamen herein. Beide Augenpaare schienen die Masse abzusuchen und hielten bei mir inne. Während Will mir zulächelte, blieb Damiens Gesicht ausdruckslos. Innerhalb weniger Sekunden hatte er die Personen um mich herum abgecheckt und kniff die Lippen beinahe unzufrieden zusammen. Gemeinsam gingen sie zur Essensausgabe. Der intensive Blick, der sich in meinen Rücken einbrannte, nahm mir den Atem und hinderte mich am Essen.
Ich sah über die Schulter und begegnete Damiens Blick. Er betrachtete mich mit einem bedeutsamen Ausdruck, als würde es niemanden außer ihm und mir auf dieser Welt geben.
Nur wir beide.
Und plötzlich hörte ich keine Geräusche mehr um mich herum, sondern sah nur noch sein Gesicht, die Gefühle in seinen Augen, die darin schimmerten, und seine angespannte Körperhaltung. So als würde er sich bereit machen, um jeden Moment zu mir zu stürmen und mich zu küssen. Dasselbe Verlangen spiegelte sich in meinen Augen wider. Alles kribbelte, und es wurde immer stärker, bis mich ein Stoß in die Seite zur Besinnung brachte.
»Autsch«, schnaufte ich und sah Nicki an, die ihren Ellenbogen in meine Leber gerammt hatte.
»Auffälliger kann man es nicht machen, oder?« Ich sah sie fragend an. »Man merkt, dass du ebenfalls in Damien verschossen bist. Und wenn du nicht sofort damit aufhörst, wissen es alle. Keine Ahnung, ob du das möchtest, falls ja, dann starr weiter«, erklärte sie mir im Flüsterton.
Sie hatte recht, wenn ich nicht aufhörte, wäre ich nicht nur ein Star, sondern auch noch einer, über den noch mehr getratscht wurde. Das wollte ich nicht riskieren, deshalb zwang ich mich, nach vorn zu blicken und meine Gegenüber anzusehen.
Die anderen am Tisch redeten und quatschten. Ich unterhielt mich mit Janson, und selbst als ich sah, dass sich eine blonde Person am mir vorbeibewegte, sah ich nicht hin. Das schaffte ich.
War es normal, dass man sich dauerhaft unter Strom fühlte, wenn man sich in eine Person verliebte? Irgendwie befürchtete ich das schon, denn als ich aus dem Augenwinkel sah, dass er sich zwei Tische diagonal von uns niederließ, konnte ich nicht anders, als ihn zu betrachten. Nur kurz. Für einen winzigen Moment. Sein Blick lag bereits auf mir. Ich wusste, dass die Küsse unsere Gefühle füreinander verstärkt hatten. Will sagte etwas zu Damien, und dieser antwortete, ohne seine Aufmerksamkeit von mir zu abzuwenden.
»Na ja, wenigstens nicht mehr so auffällig«, murmelte Nicki, und ich grinste sie an. Die Ehrlichkeit ihrerseits wusste ich zu schätzen. Wir aßen auf und brachten gemeinsam unsere Tabletts weg. Während der Zeit, die ich am Tisch verbracht hatte, war mir das Starren der anderen Menschen gar nicht mehr bewusst gewesen. Doch in gewisser Weise war es mir egal, denn ich hatte gerade Menschen kennengelernt, die mich nicht in Grund und Boden starrten, sondern ganz normal mit mir sprachen. Vielleicht würde ich öfter bei ihnen sitzen. Als Nicki und ich auf dem Weg zu meinem Zimmer waren, bemerkte ich, dass hinter uns jemand ging. In einem gewissen Abstand, aber dennoch so, dass ich es bemerkte. Ich musste auch nicht raten, wer das sein könnte.
»Ich hoffe, du schläfst gut, und wir sehen uns morgen. Wenn du willst, kann ich dich dann wieder abholen und wir essen wieder gemeinsam. Was sagst du?«
»Ja, das klingt super. Danke, dass ich bei euch sitzen durfte. Das war schön.« So unauffällig wie möglich sah ich nach hinten, doch der Gang war leer.
»Sehr gern. Immer wieder.«
Ich umarmte Nicki, und anhand ihrer Reaktion konnte ich erkennen, dass sie nicht damit gerechnet hatte, dass ich das tun würde. Als sie sich von mir löste, grinste sie.
»Gute Nacht.«
»Die wünsche ich dir ebenfalls«, sagte ich und sah dann dabei zu, wie sie ging. Anschließend legte ich meine Hand an das Lesegerät neben der Tür und wartete auf das Klicken. Ich schaltete das Licht an und wartete gespannt, ob es gleich klopfen würde. Ein paar Augenblicke später ertönte es, und als ich die Tür öffnete, sah ich, wie Damien am Türrahmen lehnte. Praktischerweise war er so groß, dass er sich am Türstock festhalten konnte und nicht einfach hindurchfiel.
»Hey, Füchslein«, sagte er.
»Hallo.«
Er kniff seine Lippen zusammen, hob die Hand und stockte dann mitten in der Bewegung, so als würde er noch mal überlegen, bevor er sie gänzlich ausführte.
»Eigentlich wollte ich nur sehen, ob du gut angekommen bist und ob du eventuell noch etwas brauchst.« Schmunzelnd hielt ich meine verschränkten Arme vor die Brust gepresst.
»Nein danke, aber nett, dass du an mich gedacht hast.«
»Das tue ich immer, Füchslein«, wisperte er. Seine Stimme hatte einen beinahe rauchigen Unterton angenommen, und es klang fast wie ein Knurren in meinen Ohren.
Ich mochte diese Stimme gern.
»So lange kennen wir uns noch gar nicht. Du kannst nicht schon immer an mich denken«, rief ich ihm in Erinnerung, und er zuckte nur mit den Schultern. Sein Gesichtsausdruck sagte etwas anderes als sein Mund.
»Das ist nicht wichtig.« Wenn er meinte. »Dafür lernen wir uns jetzt kennen.«
Sein Blick lag auf meinen Lippen, und ich konnte einen gefährlichen Glanz in seinen Augen erkennen. Ich lächelte ihn so charmant an, wie es mir möglich war, und siehe da, er trat einen Schritt näher. Jedoch nicht, um mich zu küssen, sondern um mein Gesicht zu berühren. Er strich mit seinem Daumen über meinen Mund.
»Auflaufrest«, brummelte er.
Ich wurde feuerrot. War das peinlich, wie ein Kleinkind mit Essensresten im Gesicht herumzurennen. Bravo. Schnell wechselte ich das Thema.
»Weshalb habt ihr euch nicht an denselben Tisch wie gestern gesetzt?«, fragte ich.
»Weil das heute der Tisch unseres Teams war und wir gestern mit dir allein gesessen haben, damit wir dich nicht den Löwen zum Fraß vorwerfen.«
»Bei Nicki waren sie alle nett zu mir.«
»Das sind ja auch die Sparrows, kleine unschuldige Vögelchen. Wir sind die Lions, eines der beeindruckendsten Tiere, dazwischen liegt ein riesiger Unterschied.«
»Ich dachte, du stehst mehr auf Füchse?«
Nun war der Moment gekommen, in dem ich herausfinden würde, ob er wirklich Interesse an mir hatte oder ob das vorhin nur Spaß war. Gerade war mir selbst noch nicht so wirklich bewusst, was mir besser gefallen würde.
»Nur auf einen einzigen.« Er stand lauernd in der Tür, und mir wurde klar, dass er darauf wartete, dass ich irgendetwas tat.
Damien hielt sich zurück, das sah man ihm eindeutig an. Sein ruheloser Blick und die angespannte Haltung verrieten ihn.
»Gut, dann hätten wir das geklärt. Wir sehen uns morgen.«
Der Ausdruck von Enttäuschung huschte über sein Gesicht, und ich schmunzelte in mich hinein, da ich nicht explizit mit dieser offen zur Schau gestellten Reaktion gerechnet hatte.
»Bis morgen«, murmelte er und schenkte mir ein Lächeln. Den Glanz in seinen Augen hatte er weiterhin. Als ich die Tür schloss, erinnerte ich mich, dass er mir gegenüber wohnte und mich somit nicht wirklich verfolgt hatte. Trotzdem hatte er an meine Tür geklopft. Grinsend stand ich da und war froh, dass ich Enttäuschung in seinem Gesicht gesehen hatte.