Das vorliegende Werk ist unseres Wissens das erste, welches den Schamanismus in seinem ganzen Umfang behandelt und ihn zugleich in eine allgemein religionsgeschichtliche Perspektive stellt; damit sind von vornherein gewisse Unvollkommenheiten und Gefahren gegeben. Das Material, das uns heute über die verschiedenen Arten des Schamanismus - sibirischen, nord- und südamerikanischen, indonesischen, ozeanischen - zur Verfügung steht, ist beträchtlich. Viele in mehr als einer Hinsicht bedeutende Arbeiten haben die Erforschung des Schamanismus (oder einer seiner Arten) in ethnologischer, soziologischer und psychologischer Hinsicht in Gang gebracht, doch mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen - wir denken dabei vor allem an die Arbeiten Holmberg-Harvas - hat das riesige Schrifttum es versäumt, eine Interpretation dieses überaus komplexen Phänomens im Rahmen der allgemeinen Religionsgeschichte zu unternehmen. Wenn wir nun unsererseits den Versuch gemacht haben, uns dem Schamanismus zu nähern und ihn zu begreifen und darzustellen, so geschah dies in unserer Eigenschaft als Religionshistoriker. Es sei ferne von uns, die bewundernswerten Untersuchungen zu verkleinern, welche von Gesichtspunkten der Psychologie, Soziologie und Ethnologie durchgeführt wurden; sie sind unserer Ansicht nach unentbehrlich für die Kenntnis des Schamanismus und seiner verschiedenen Aspekte. Aber vielleicht ist daneben auch Raum für eine andere Perspektive, wie wir sie auf den folgenden Seiten herauszuarbeiten versuchten.
Wer sich dem Schamanismus als Psychologe nähert, wird dazu kommen, ihn in erster Linie als das Sichtbarwerden einer Seele in ihrer Krise, ja ihrem Niedergang zu betrachten; er wird ihn unfehlbar mit bestimmten Formen seelischer Verirrung vergleichen oder gar unter die geistigen Krankheiten hysteroider und epileptischer Struktur einreihen.
Wir werden auseinandersetzen (s. S. 33 ff.), warum uns die Gleichsetzung des Schamanismus mit irgendeiner Geisteskrankheit unannehmbar erscheint. Doch ein Punkt bleibt, und zwar ein wichtiger, auf den der Psychologe immer wieder mit Recht die Aufmerksamkeit lenken wird: Die Berufung zum Schamanen gibt sich wie eine jede religiöse Berufung durch eine Krise kund, durch einen vorübergehenden Bruch im geistigen Gleichgewicht des künftigen Schamanen. Alle Beobachtungen und Analysen, die man über diesen Gegenstand zusammengetragen hat, sind kostbar, denn sie zeigen uns gewissermaßen am lebenden Objekt, welche Erschütterungen im Inneren der Seele durch das hervorgerufen werden, was wir die Dialektik der Hierophanien genannt haben: durch die radikale Trennung zwischen Profanem und Heiligem und die Durchbrechung des Wirklichen, die damit geschieht. Hierin und in nichts anderem liegt u. E. die Bedeutung derartiger religionspsychologischer Untersuchungen.
Der Soziologe beschäftigt sich vor allem mit der sozialen Funktion des Schamanen, Priesters, Zauberers; er wird sich den Ursprung der magischen Fähigkeiten zum Gegenstand nehmen, ihre Rolle in der Gliederung der Gesellschaft, das Verhältnis zwischen religiösen und politischen Oberhäuptern und dergleichen. Eine soziologische Analyse der Mythen vom «Ersten Schamanen» wird beredte Zeichen für die Ausnahmestellung der frühesten Schamanen in bestimmten archaischen Gesellschaften zutage bringen. Die Soziologie des Schamanismus bleibt noch zu schreiben; sie wird zu den bedeutsamsten Kapiteln einer allgemeinen Religionssoziologie gehören. Über alle diese Untersuchungen und ihre Ergebnisse hat der Religionshistoriker Buch zu führen. Wie die psychologischen Bedingungen, welche der Psychologe eruiert, verdeutlichen auch die soziologischen im weitesten Sinn des Wortes das menschlich und historisch Konkrete an den Zeugnissen, die der Religionshistoriker zu bearbeiten hat.
Einen weiteren Akzent wird dieses Konkrete von den Untersuchungen des Ethnologen empfangen. Es ist Sache der ethnologischen Monographien, den Schamanen in sein kulturelles Milieu zu stellen. So könnte man die wahre Persönlichkeit eines tschuktschischen Schamanen leicht verkennen, wenn man den Bericht seiner Taten läse ohne etwas von Leben und Traditionen der Tschuktschen zu wissen. Ebenso wird erschöpfendes Studium von Schamanentracht und -trommel oder Beschreibung der Sitzungen, Aufzeichnungen der Texte und Melodien Sache des Ethnologen sein. Durch die Aufstellung einer «Geschichte» dieses und jenes konstitutiven Elementes des Schamanismus - der Trommel, des Gebrauchs von Narkotika während der Sitzung - wird der Ethnologe, unter Umständen von einem vergleichenden Ethnologen und einem Historiker unterstützt, uns die Bewegung des fraglichen Motivs in Zeit und Raum beschreiben, Ausbreitungszentrum, Etappen und Chronologie seiner Verbreitung soweit als möglich bestimmen. Kurz, der Ethnologe wird selbst zum «Historiker» werden, ob er sich nun die Kulturkreislehre von Graebner-Schmidt-Koppers zu eigen macht oder nicht. Auf jeden Fall verfügen wir heute neben einer bewundernswerten rein deskriptiven ethnographischen Literatur auch über viele Arbeiten aus der historischen Ethnologie. In der erdrückenden «grauen Masse» des Materials über die sogenannten «geschichtslosen» Völker beginnt man jetzt bestimmte Kraftlinien sich abzeichnen zu sehen; man beginnt «Geschichte» wahrzunehmen, wo man nur «Naturvölker», «Primitive» und «Wilde» zu finden gewohnt war.
Es wäre müßig, davon zu sprechen, welch große Dienste schon jetzt die historische Ethnologie der Religionsgeschichte erwiesen hat. Dennoch glauben wir nicht, daß sie die Religionsgeschichte zu ersetzen vermag: Deren Berufung ist es, die Resultate der Ethnologie, der Psychologie und der Soziologie zu integrieren; dazu kann sie der eigenen Methode ebensowenig entraten wie ihrer spezifischen Perspektive. So kann die Kulturethnologie wohl das Verhältnis des Schamanismus zu bestimmten Kulturkreisen, die Verbreitung dieses oder jenes schama-nischen Komplexes aufdecken - trotzdem ist es nicht ihre Sache, den tiefen Sinn all dieser religiösen Phänomene zu enthüllen, ihre Symbolik zu erhellen und sie in die allgemeine Religionsgeschichte einzugliedern. Dem Religionshistoriker obliegt es in letzter Instanz, alle die Einzeluntersuchungen über den Schamanismus zu ihrer Synthese zu bringen und eine Sicht des Ganzen zu geben, die zugleich Morphologie und Geschichte dieses komplexen religiösen Phänomenes ist.
Doch es ist an der Zeit, sich über die Bedeutung zu verständigen, die man bei dieser Art von Studien der «Geschichte» beizumessen hat. Wir haben schon mehr als einmal festgestellt und werden in dem ergänzenden Werk zum Traité d’Histoire des Religions ausführlich zu zeigen haben, daß die historische Bedingtheit eines religiösen Phänomens,
wiewohl von höchster Bedeutung - alles Menschliche ist letzten Endes historisch -, es doch nicht völlig erschöpft. Nur ein Beispiel: Der Schamane ersteigt im Ritus eine Birke, an der man eine bestimmte Anzahl von Sprossen angebracht hat; die Birke symbolisiert den Weltenbaum, die Sprossen stellen die verschiedenen Himmel dar, welche der Schamane im Laufe seiner ekstatischen Himmelsreise zu passieren hat; sehr wahrscheinlich ist das in diesem Ritual enthaltene kosmologische Schema von orientalischem Ursprung. Religiöse Ideen des alten Nahen Orients haben sich sehr weit nach Zentral- und Nordasien vorgeschoben und stark zu dem gegenwärtigen Aussehen des zentralasiatischen und sibirischen Schamanismus beigetragen - ein gutes Beispiel dafür, wie die «Geschichte» über die Verbreitung der religiösen Lehren und Praktiken Aufschluß zu geben vermag. Doch, wie wir schon sagten, die Geschichte eines religiösen Phänomens kann uns nicht alles mit-teilen, was dieses Phänomen, einfach durch sein Offenbarwerden, uns zeigen will. Nichts erlaubt anzunehmen, daß die Einflüsse der orientalischen Kosmologie und Religion bei den Altaiern Ideologie und Ritus der Himmelfahrt geschaffen hätten; ähnliche Ideologien und Riten wachsen so ziemlich überall auf der Welt, auch in Gegenden, wo altorientalische Einflüsse von vornherein außer Betracht bleiben müssen. Wahrscheinlich haben die orientalischen Vorstellungen die Himmelfahrt in ihrer rituellen Formel und ihrem kosmologischen Gehalt nur modifiziert, denn diese Himmelfahrt scheint ein Urphänomen zu sein, das heißt zum Menschen als solchem, in seiner Integrität zu gehören und nicht zu ihm als historischem Wesen - das bezeigen die Auffahrtsträume, -halluzinationen und -bilder, wie sie überall auf der Welt und ohne jede historische oder andere «Bedingtheit» begegnen. Alle diese Träume, Mythen und Heimwehäußerungen mit dem zentralen Thema des Aufstiegs oder des Fluges sind durch eine psychologische Erklärung nicht zu erschöpfen; immer bleibt am Ende der Erklärung ein nicht zurückführbarer Kern, und dieses unzurückführbare Etwas kann uns vielleicht die wahre Situation des Menschen im Kosmos entdecken, die - ich werde nie müde werden, das zu wiederholen - nicht einzig eine «historische» ist.
So notwendig es für den Religionshistoriker ist, seine Fakten so gut als möglich in eine historische Perspektive zu bringen, da sie nur auf diese Weise «konkret» werden, so darf er doch eines nicht vergessen:
Die Phänomene, mit denen er zu tun hat, enthüllen Grenzsituationen des Menschen, Situationen, die begriffen und begreiflich gemacht werden wollen. Diese Arbeit der Entzifferung des tiefen Sinnes der religiösen Phänomene steht von Rechts wegen dem Religionshistoriker zu. Gewiß, der Psychologe, der Soziologe, der Ethnologe, sogar der Philosoph und Theologe werden ihr Wort zu sagen haben, jeder von seiner Perspektive aus und mit der Methode, die ihm eigen ist. Doch der Religionshistoriker wird am meisten Gültiges sagen über das religiöse Faktum, sofern es religiöses Faktum ist - und nicht soweit psychologisches, soziales, ethnisches, philosophisches oder selbst theologisches Faktum. Genau in diesem Punkt unterscheidet sich der Religionshistoriker auch vom Phänomenologen: dieser versagt sich, wenigstens grundsätzlich, die Arbeit des Vergleichens. Er beschränkt sich angesichts dieses oder jenes religiösen Phänomens darauf, sich ihm zu «nähern» und seinen Sinn zu erahnen; der Religionshistoriker hingegen gelangt zum Begreifen eines Phänomens erst nach gehörigem Vergleich mit Tausenden von ähnlichen oder verschiedenen Phänomenen und entsprechender Einordnung, und diese Tausende von Phänomenen sind durch Raum und Zeit voneinander getrennt. Aus analogem Grund wird der Religionshistoriker sich nicht einfach auf eine Typologie oder Morphologie der religiösen Fakten beschränken: er weiß sehr wohl, daß die «Geschichte» den Gehalt eines religiösen Faktums nicht erschöpft, doch er vergißt deswegen nicht, daß nur in der Geschichte - im weiten Sinn des Wortes - ein religiöses Faktum alle seine Seiten entwickelt, alle seine Bedeutungen offenbart. Mit andern Worten, der Religionshistoriker benützt alle historischen Kundgebungen eines religiösen Phänomens, um zu entdecken, was dieses Phänomen «sagen will»; er hält sich einerseits an das historisch Konkrete, aber er bemüht sich andererseits um die Entzifferung dessen, was ein religiöses Faktum durch die Geschichte hindurch an Übergeschichtlichem offenbart.
Wir wollen uns bei diesen methodologischen Betrachtungen nicht zu lange aufhalten; um sie hinlänglich zu behandeln, bietet ein Vorwort nicht genug Raum, Trotzdem sei folgendes betont: Das Wort «Geschichte» führt manchmal zu Verwirrungen, denn es kann ebensowohl die Geschichtsschreibung bezeichnen (den Akt, die Geschichte von etwas zu schreiben) als einfach das, «was sich begeben hat» auf der Welt; und diese zweite Wortbedeutung zerlegt sich wieder in mehrere
Nuancen: Geschichte im Sinne dessen, was sich innerhalb bestimmter räumlicher und zeitlicher Grenzen begeben hat (Geschichte eines bestimmten Volkes, einer Epoche), also Geschichte einer Kontinuität, einer Struktur; doch auch Geschichte im allgemeinen Sinn des Wortes wie in den Ausdrücken «die geschichtliche Existenz des Menschen», «geschichtliche Situation», «geschichtlicher Moment» usw., oder auch in der existentialistischen Bedeutung des Wortes: Der Mensch ist «in einer Situation», das heißt also in der Geschichte.
Religionshistorie ist nicht immer und nicht notwendig Historiographie der Religionen, denn wer die Geschichte einer Religion oder eines vorgegebenen religiösen Faktums (des Opfers bei den Semiten, des Heraklesmythos) schreibt, ist nicht immer imstande nun alles, «was sich begeben hat», in chronologischer Sicht zu zeigen; gewiß, man kann das tun, wenn die Zeugnisse es erlauben, aber man ist nicht verpflichtet Historiographie zu treiben, wenn man Religionsgeschichte schreiben will. Die Mehrdeutigkeit des Terminus «Geschichte» hat hier die Mißverständnisse unter den Forschern begünstigt; in Wirklichkeit kommt der philosophische und allgemeine Sinn von «Geschichte» unserem Fach am meisten zu. Man treibt Religionsgeschichte, sofern man die religiösen Fakten als solche studiert, das heißt auf ihrer spezifischen Manifestationsebene; diese spezifische Manifestationsebene ist immer geschichtlich, konkret, existentiell, auch wenn die religiösen Fakten, die sich manifestieren, nicht immer und nicht völlig auf Geschichte zurückzuführen sind. Von den elementarsten Hierophanien - der Manifestation des Heiligen in diesem Baum oder jenem Stein zum Beispiel - bis zu den am höchsten ausgebildeten («Vision» einer neuen «göttlichen Gestalt» durch einen Propheten oder Religionsgründer) manifestiert sich alles im historisch Konkreten, und alles ist in gewissem Sinn bedingt durch die Geschichte. Und doch, in der bescheidensten Hierophanie regt sich ein «ewiger Wiederbeginn», eine ewige Rückkehr zu einem zeitlosen Augenblick, ein Wunsch nach Aufhebung der Geschichte, Auslöschung der Vergangenheit, Neuschaffung der Welt. Das alles ist in den religiösen Fakten «gezeigt», nicht der Religionshistoriker erfindet es. Ein Historiker, der nichts weiter sein will als Historiker, hat die Freiheit den spezifischen und übergeschichtlichen Sinn eines religiösen Faktums zu übersehen; ein Ethnologe, ein Soziologe, ein Psychologe darf das auch. Ein Religionshistoriker darf es nicht; vertraut mit einer großen Anzahl von Hierophanien ist sein Auge im Stande, die eigentlich religiöse Bedeutung eines Faktums zu entziffern. Und, um zu unserem Ausgangspunkt zurückzukommen, diese Arbeit verdient ganz genau den Namen Religionsgeschichte, auch wenn sie nicht in der chronologischen Perspektive der Historiographie verläuft.
Übrigens hat diese chronologische Perspektive, so interessant sie für gewisse Historiker sein mag, bei weitem nicht die Bedeutung, welche man ihr allgemein beimessen möchte. Denn, wie wir an anderer Stelle zu zeigen versuchten, die Dialektik des Heiligen selbst geht auf endlose Wiederholung einer Reihe von Archetypen aus, so daß eine Hiero-phanie, die in einem bestimmten «historischen Moment» geschieht, ihrer Struktur nach eine um tausend Jahre ältere oder jüngere Hiero-phanie wiederbringt. Diese Tendenz des hierophanischen Prozesses, dieselbe paradoxale Heiligung der Wirklichkeit ad infinitum zu wiederholen, erlaubt uns etwas am religiösen Phänomen zu begreifen und dessen «Geschichte» zu schreiben. Anders ausgedrückt, gerade weil die Hierophanien sich wiederholen, kann man die religiösen Fakten unterscheiden und zu ihrem Verständnis gelangen. Aber die Hierophanien haben die Eigentümlichkeit, daß sie das Heilige in seiner Ganzheit offenbaren wollen, selbst wenn die Menschen, in deren Bewußtsein sich das Heilige «zeigt», sich davon nur eine Seite oder ein bescheidenes Stückchen aneignen, ln der elementarsten Hierophanie ist alles gesagt: Die Manifestation des Heiligen in einem «Stein» oder einem «Baum» ist nicht weniger geheimnisvoll und würdig als die Manifestation des Heiligen in einem «Gott». Der Prozeß der Heiligung der Wirklichkeit ist derselbe, nur die Form, welche der Prozeß der Heiligung im religiösen Bewußtsein des Menschen annimmt, ist verschieden.
Dies ist nicht ohne Konsequenzen für den Begriff einer chronologischen Sicht der Religion. Obwohl es eine Geschichte der Religion gibt, ist sie nicht unumkehrbar wie jede andere Geschichte. Ein monotheistisches religiöses Bewußtsein ist nicht notwendig monotheistisch bis zum Ende seines Daseins, nur weil es an einer monotheistischen «Geschichte» teil hat und weil man innerhalb dieser Geschichte weiß, daß man nicht mehr Polytheist oder Totemist werden kann, wenn man den Monotheismus gekannt und geteilt hat; im Gegenteil, man kann sehr gut Polytheist sein oder sich religiös als Totemist betragen, während man sich vorstellt und vorgibt Monotheist zu sein. Die Dialektik des Heiligen erlaubt jede Umkehrung: keine «Form» ist dem Absinken und der Zersetzung entrückt, keine «Geschichte» endgültig. Nicht nur eine Gemeinschaft kann - bewußt oder unbewußt - eine Menge von Religionen ausüben, auch ein und dasselbe Individuum kann eine Unzahl von religiösen Erlebnissen kennen von den «erhabensten» bis zu den abgegriffensten und verirrtesten. Das ist vom umgekehrten Gesichtspunkt aus ebenso wahr: In jedem beliebigen Kulturmoment kann man die vollständigste Offenbarung des Heiligen haben, die der menschlichen Verfassung zugänglich ist. Die Erlebnisse der monotheistischen Propheten können sich, ungeachtet des enormen geschichtlichen Abstandes, inmitten des «hinterweltlichsten» primitiven Stammes wiederholen; es genügt dafür, die Hierophanie eines Himmelsgottes zu «realisieren», wie er ziemlich überall auf der Welt bezeugt ist, wenn auch gerade dem aktuellen religiösen Leben fast entschwunden. Es gibt keine Form von Religion, so weit sie auch gesunken sei, die nicht eine sehr reine und sehr zusammenhängende Mystik hervorbringen könnte. Wenn solche Ausnahmen nicht zahlreich genug sind, um sich den Beobachtern aufzudrängen, so liegt das nicht an der Dialektik des Heiligen, sondern an den menschlichen Verhaltensweisen gegenüber dieser Dialektik. Und das Studium der menschlichen Verhaltensweisen liegt jenseits der Aufgabe des Religionshistorikers; es geht den Soziologen, den Psychologen, den Moralisten, den Philosophen an. Als Religionshistoriker lassen wir uns an der Feststellung genügen, daß die Dialektik des Heiligen die spontane Umkehrbarkeit einer jeden religiösen Position erlaubt. Gerade das Faktum dieser Umkehrbarkeit ist wichtig, denn sie bestätigt sich nur hier. Das ist der Grund dafür, daß wir uns durch gewisse Ergebnisse der kulturhistorischen Ethnologie nicht allzuviel suggerieren lassen. Natürlich sind die verschiedenen Kulturtypen an gewisse religiöse Formen organisch gebunden, doch das schließt in keiner Weise die Spontaneität und letzten Endes die Ungeschichtlichkeit des religiösen Lebens aus. Denn jede Geschichte ist irgendwie ein Absturz des Heiligen, eine Beschränkung und Minderung. Doch das Heilige hört nicht auf sich zu manifestieren, und mit jeder neuen Manifestation nimmt es seine erste Tendenz wieder auf, sich voll und ganz zu offenbaren. Freilich wiederholen die zahllosen neuen Manifestationen des Heiligen im religiösen Bewußtsein einer Gesellschaft zahllose andere Manifestationen, die diese Gesellschaft im Lauf ihrer Vergangenheit, ihrer «Geschichte» gekannt hat, doch diese Geschichte vermag die Spontaneität der Hierophanien nicht zu lähmen: In jedem Augenblick bleibt eine noch vollständigere Offenbarung des Heiligen möglich.
Nun aber ergibt es sich, und damit nehmen wir die Diskussion über die chronologische Perspektive in der Religionsgeschichte wieder auf, daß die Umkehrbarkeit der religiösen Positionen an den mystischen Erlebnissen der archaischen Gesellschaften noch stärker hervortritt. Denn wie oftmals zu zeigen sein wird, sind auf jeder Kulturstufe und in jeder religiösen Situation echte und reiche mystische Erlebnisse möglich. Das bedeutet, daß für manches in einer Krise befindliche religiöse Bewußtsein jederzeit ein geschichtlicher Sprung denkbar ist, der ihm eine eben noch unzugängliche religiöse Position zugänglich macht. Gewiß, am Ende kommt noch die «Geschichte» - die religiöse Überlieferung des betreffenden Stammes - und biegt die ekstatischen Erlebnisse der Privilegierten nach ihrem Kanon zurecht, doch dessen ungeachtet eignet solchen Erlebnissen oft nicht weniger Strenge und Adel als den Erlebnissen der großen Mystiker des Ostens und Westens.
Eben eine solche archaische Ekstasetechnik ist der Schamanismus, zugleich Mystik, Magie und «Religion» im weiteren Sinn. Wir haben uns bemüht, ihn in seinen verschiedenen historischen und kulturellen Aspekten darzustellen und haben sogar den Versuch einer kurzen Entstehungsgeschichte des zentral- und nordasiatischen Schamanismus gemacht. Das Hauptgewicht jedoch liegt auf der Darstellung des Phänomens Schamanismus, der Analyse seiner Ideologie und der Erörterung seiner Praktiken, seiner Symbolik, seiner Mythologie. Wir möchten glauben, daß eine solche Arbeit nicht nur den Spezialisten, sondern auch den Allgemeingebildeten zu interessieren geeignet sei, und an ihn wendet sich dieses Buch in erster Linie. Es wäre denkbar, daß etwa Ausführungen über die Ausbreitung der zentralasiatischen Trommel in die arktischen Gegenden zwar einen engen Kreis von Fachleuten interessierten, die übrigen Leser jedoch ziemlich gleichgültig ließen; aber die Sache sieht anders aus, wenigstens möchten wir es vermuten, wenn es sich darum handelt in ein so weites und bewegtes geistiges Universum wie das des Schamanismus und seiner Ekstasetechniken einzudringen. In diesem Fall hat man es mit einer ganzen geistigen Welt zu tun, die, von der unseren zwar verschieden, ihr doch an Interesse und innerem Zusammenhang nichts nachgibt. Wir wagen sogar zu denken, daß eine Kenntnis davon jedem guten Humanisten zugemutet werden kann, denn schon seit einiger Zeit ist es nicht mehr angängig, den Humanismus mit der geistigen Überlieferung des Abendlandes gleichzusetzen, so großartig und fruchtbar diese auch sein mag.
So aufgefaßt wird das vorliegende Werk keinen von den Aspekten ausschöpfen können, die es sich in seinen verschiedenen Kapiteln vornimmt. Eine erschöpfende Erforschung des Schamanismus war auch nicht unser Ziel, dazu hatten wir weder die Mittel noch die Absicht. Einzig als vergleichender Religionshistoriker haben wir diesen Gegenstand behandelt, und damit geben wir von vornherein die unvermeidlichen Lücken und Unvollkommenheiten einer Arbeit zu, welche letzten Endes der Versuch einer Synthese sein will. Wir sind weder Altaist noch Amerikanist noch Ozeanist, und es ist gut möglich, daß eine Anzahl von Spezialarbeiten uns entgangen ist.
Aber wir glauben kaum, daß sich dadurch das Bild, das hier entworfen wird, in seinen großen Zügen verändert hätte; viele Aufsätze enthalten nichts als Wiederholungen der ältesten Berichte mit minimalen Abwandlungen. Die Bibliographie von Popov, die 1932 erschienen ist und sich auf den sibirischen Schamanismus beschränkt, verzeichnet 650 Arbeiten von russischen Ethnologen. Auch die Literatur über den nordamerikanischen und indonesischen Schamanismus ist recht beträchtlich. Man kann nicht alles lesen. Noch einmal: wir denken nicht daran, den Ethnologen, Altaisten, Amerikanisten zu machen. Aber es wurde immer dafür gesorgt, daß in den Fußnoten die wichtigsten Arbeiten angegeben sind, wo man noch weiteres Material findet. Die Zeugnisse hätten sich natürlich vervielfachen lassen, aber nur in mehreren Bänden. Davon war kein Nutzen einzusehen: wir hatten ja nicht eine Monographienreihe über die verschiedenen Schamanismen im Sinn, sondern eine allgemeine Studie für ein nichtspezialisiertes Publikum. Viele Gegenstände, auf die wir nur anspielen konnten, werden übrigens in späteren Arbeiten noch genauer behandelt (Mort et Initiation, Mythologie de la Mort usw.).
Einen Teil der Ergebnisse habe ich schon in den Artikeln Le problème du chamanisme (Revue de l'Histoire des Religions, 131. Bd., 1946, S. 5-52), Schamanism (Forgotten Religions, herausgegeben von Vergilius Ferm, Philosophical Library, New York 1949, S. 299-308) und Schamanismus (Paideuma, 1950) und in den Vorträgen veröffentlicht, welche ich im März 1950 auf Einladung der Herren Professoren R. Pettazzoni und G. Tucci an der Universität Rom und am Istituto Italiano per il Medio ed Estremo Oriente zu halten die Ehre hatte.
Paris, März 1946 - März 1951 Mircea Eliade
N. B. Aus typographischen Gründen wurde die Transkription der orientalischen Wörter bedeutend vereinfacht.
Für die vorliegende deutsche Übersetzung wurde die Bibliographie auf den gegenwärtigen Stand gebracht.
Paris, September 1954 M. E.
In »Recent Works of Schamanism. A Review Article« (History of Religions I, Chicago 1961, 152-168) habe ich midi mit der weiteren, bis 1960 erschienenen Literatur auseinandergesetzt.
Chicago, Februar 1975 M. E.