DER SCHAMANISMUS IN NORD- UND SÜDAMERIKA

Der Schamanismus bei den Eskimo

Wie es sich auch mit den historischen Beziehungen zwischen Nordasien und Nordamerika verhalten mag, der Kulturzusammenhang zwischen Eskimo und modernen arktischen Völkern Asiens und sogar Europas (Tschuktschen, Jakuten, Samojeden und Lappen) leidet nicht den Schatten eines Zweifels1. Eines der Hauptelemente dieses Kulturzusammenhangs bildet der Schamanismus; die Schamanen spielen im religiösen und sozialen Leben der Eskimo dieselbe Hauptrolle wie bei ihren asiatischen Nachbarn. Wie wir gesehen haben, trägt die scha-manische Initiation hier und dort dieselben Grundzüge der mystischen Initiationen: Berufen werden, sich in die Einsamkeit zurückziehen, Lehrzeit bei einem Meister, Gewinnung eines oder mehrerer Hausgeister, symbolisches Ritual mit Tod und Auferstehung, Geheimsprache. Wie wir sogleich sehen werden, gehören zu den ekstatischen Erlebnissen der Eskimo-angakok der mystische Flug und die Reise in die Tiefe des Meeres, was beides für den nordasiatischen Schamanismus kennzeichnend ist. Man bemerkt auch engere Beziehungen zwischen dem Eskimoschamanen und der Himmelsgottheit bzw. dem Kos-mokraten, der später an deren Stelle getreten ist2. Freilich gibt es auch 

1 Vgl. W. Thalbitzer, Parallels within the culture of the arctic peoples (Annaes do XX Congresso Internacional de Americanistas, 1. Bd.; Rio de Janeiro 1924, S. 283-287); Fr. Birket-Smith, über die Herkunft der Eskimo und ihre Stellung in der zirkumpolaren Kulturentwicklung (Anthropos. 2S. Bd.. 1930, S. 1-23); Paul Rivet, Los origines del honibre americano (Mexiko 1943), S. 103 ff. Man hat sogar versucht, eine sprachliche Verwandtschaft zwischen der Eskimosprache und den zentralasiatischen Mundarten zu finden, vgl. z. B. Aurélien Sauvageot. Eskimo et Ouralieu. Journal de la Société des Américanistes de Paris, neue Serie, 16. Bd.. 1924. S. 279-316. Doch hat diese Hypothese noch nicht die Zustimmung der Spezialisten gefunden.

2 Vgl. K. Rasmussen, Die Thulefahrt (Frankfurt a. Main. 1926), S. 145 ff., als Vermittler zwischen den Menschen und Sila (dem Kosmokrator, dem Herrn des Universums) widmen die Schamanen diesem Großen Gott eine ganz besondere Verehrung und bemühen sich, durch Konzentration und Meditation mit ihm in Berührung zu treten.

gewisse weniger wichtige Unterschiede gegenüber Nordostasien, so fehlt dem Eskimoschamanen eine Ritualtracht im eigentlichen Sinn und die Trommel,

Die Hauptvorrechte des Eskimoschamanen sind Heilung, Unterseereise zur Mutter der Tiere zwecks Sicherung des Wildreichtums, Beeinflussung des Wetters (durch seine Beziehung zu Sila) und Abhilfe für die Unfruchtbarkeit der Frauen3. Die Krankheit wird durch Verletzung der Tabus hervorgerufen, also durch eine Unordnung im Sakralen, oder sie kommt daher, daß ein Toter die Seele geraubt hat. Im ersteren Fall bemüht sich der Schamane den Flecken durch kollektive Schuldbekenntnisse auszulöschen4, im zweiten unternimmt er die ekstatische Reise zum Himmel oder in die Tiefen des Meeres, um dort die Seele des Kranken zu finden und sie in seinen Körper zurückzubringen5. Nur durch ekstatische Reisen vermag der Schamane sich Takânakapsâluk auf dem Grund des Ozeans oder Sila in den Himmeln zu nähern. Er ist übrigens Spezialist im magischen Flug. Gewisse Schamanen haben den Mond besucht, andere sind rund um die Erde geflogen6. Nach den Überlieferungen fliegen die Schamanen wie die Vögel; sie breiten ihre Arme aus wie der Vogel seine Flügel. Die an-gäkut kennen außerdem die Zukunft, machen Prophezeiungen, kündigen das Umschlagen des Wetters an und tun sich in magischen Wundertaten hervor.

Trotzdem erinnern sich die Eskimo einer Zeit, wo die angàkut viel mächtiger waren als heute (Rasmussen, Iglulik Eskimos, S. 131 ff., 3    W. Thalbitzer, The Heathen Priests of East Greenland (XVI. Internationaler Amerikanistenkongreß, 1908, Wien und Leipzig 1910, 2. Bd.. S. 447-464), S. 457; Knud Rasmussen. Intellectual Culture of the Iglulik Eskimos (Report of the fifth Thule Expedition 1921-1924, 6. Bd., Nr. 1, Kopenhagen 1929), S. 109; E. M. Weyer, Eskimos. Their environment and folkways (New Haven 1952). S. 422, 437 ff.; K. Rasmussen, Intellectual Culture of the Copper Eskimos (Report. 9. Bd„ Kopenhagen 1932), S. 28 ff.

4    Vgl. z. B. Rasmussen. The Iglulik Eskimos, S. 135 ff., 144 ff.

5    Man glaubt, daß sich die Seele des Kranken n.i h Gegenden wendet, die reich an Sakralem jeder Art sind, nach den großen kosmischen Regionen («Mond», «Himmel»), den von Toten besuchten Orten, den Quellen des Lebens (das «Bärenland* wie bei den grönländischen Eskimo; vgl. Thalbitzer, Les magiciens esquimaux, S. 80 ff.).

6 K. Rasmussen, The Pietsihk Eskimos, Social Life and Spiritual Culture (Report, 7 Kopenhagen 1931). S. 299 ff.; G. Holm in The Ammasalik Eskimo, hrsg. von William Thalbitzer, 1. Teil (Kopenhagen 1914), S. 96 ff. über die Reise der Zentraleskimo in den Mond s. unten. Ein überraschender Zug: diese Traditionen von den ekstatischen Reisen der Schamanen fehlen vollständig bei den Copper-Eskimo, vgl. Rasmussen. The Copper Eskimos, S. 33.

ders., Nelsilik Eskimos, S. 295). «Ich bin selber Schamane», sagte jemand zu Rasmussen, «aber ich bin nichts im Vergleich mit meinem Großvater Titqatsaq. Der lebte noch in einer Zeit, wo ein Schamane bis zur Mutter der Meertiere hinabsteigen, bis zum Mond auffliegen und Reisen durch die Lüfte machen konnte...» (Rasmussen, The Netsilik Eskimos, S. 299). Bemerkenswert, daß auch hier die Vorstellung von der gegenwärtigen Dekadenz der Schamanen auftaucht, der wir bereits in anderen Kulturen begegnet sind.

Der Eskimoschamane weiß nicht nur um gutes Wetter zu Sila zu beten (vgl. Rasmussen, The Thulefahrt, S. 168 ff.), er kann auch selbst den Sturm aufhalten durch ein ziemlich kompliziertes Ritual, welches den Beistand von Hilfsgeistern, eine Totenbeschwörung und ein Duell mit einem anderen Schamanen enthält, in dessen Verlauf dieser mehrmals «getötet» und «wieder auf erweckt» wird7. Gleich welchen Gegenstand sie haben, finden die Sitzungen immer am Abend und in Anwesenheit des ganzen Dorfes statt. Von Zeit zu Zeit ermuntern die Zuschauer den angakok durch gellende Lieder und Schreie. Der Schamane hält lange Gesänge in «Geheimsprache», um die Geister zu beschwören. Wenn er in Trance gefallen ist, spricht er mit hoher, fremder Stimme, die nicht ihm selbst zu gehören scheint8. Die improvisierten Gesänge während der Trance lassen zuweilen etwas von den mystischen Erlebnissen des Schamanen erkennen.

«Mein ganzer Körper ist nichts als Augen.

Schaut ihn an! Habt keine Angst!

Ich schaue nach allen Seiten!»

singt ein Schamane (Thalbitzer, Les magiciens esquimaux, S. 102) und meint damit ohne Zweifel das mystische Erlebnis des inneren Lichts, das er erfährt, bevor er in Trance gerät.

Doch neben diesen Sitzungen, die durch kollektive Probleme (Stürme, Wildmangel, Wettervorhersage usw.) oder Krankheit (die ebenfalls auf die eine oder andre Art das Gleichgewicht der Gesell-schaft bedroht) geboten sind, unternimmt der Schamane ekstatische Reisen zum Himmel oder ins Totenland auch nur zum Vergnügen («for joy alone»). Er läßt sich anbinden, wie es bei der Vorbereitung zu einer Auffahrt üblich ist, und entfliegt in die Lüfte; dort unterhält er sich, lange mit den Toten usw., und wenn er wieder auf der Erde ist, erzählt er vom Leben der Abgeschiedenen im Himmel (Rasmussen, lglulik, S. 129-131). Dieser Zug ist ein Beweis für das Bedürfnis des Schamanen nach dem ekstatischen Erlebnis um seiner selbst willen und erklärt zugleich seinen Hang zur Einsamkeit und Meditation, seine langen Unterhaltungen mit seinen Hilfsgeistern und sein Ruhebedürfnis.

Für den Aufenthalt der Toten gibt es im allgemeinen drei Regionen (vgl. z. B. Rasmussen, Netsilik, S. 315 ff.), den Himmel, eine Unterwelt unmittelbar unter der Erdrinde und eine zweite Unterwelt sehr tief in der Erde, ln den Himmeln wie in der wirklichen, tiefen Unterwelt füllten die Toten ein glückliches Dasein und erfreuen sich eines Lebens der Freude und des Glücks. Der einzige große Unterschied zum irdischen Leben liegt darin, daß dort unten immer die entgegengesetzten Jahreszeiten sind wie auf der Erde: Wenn bei uns Winter ist, ist im Himmel und in der Unterwelt Sommer, und umgekehrt. Nur in der Unterwelt direkt unter der Erdrinde, die verschiedenen Arten von Tabu-verletzern und den mittelmäßigen Jägern Vorbehalten ist, herrschen Hunger und Verzweiflung (Rasmussen, ebd.). Die Schamanen kennen jede von diesen Gegenden ganz genau, und wenn ein Toter Angst hat den Weg ins Jenseits allein anzutreten und sich der Seele eines Lebenden bemächtigt, weiß der angakok, wo er ihn zu suchen hat.

Manchmal geschieht die Jenseitsreise des Schamanen während einer kataleptischen Trance, die alle Anzeichen eines Scheintodes zeigt. So bei einem Schamanen in Alaska, der angibt drei Tage tot gewesen und zwei Tage lang den Weg der Abgeschiedenen gegangen zu sein, und zwar sei dieser Weg recht gut gebahnt gewesen von allen denen, die ihm vorausgegangen waren. Im Gehen hörte er fortwährend Weinen und Wehklagen und er erfüllt, daß das die Lebenden waren, die ihre Toten beweinten. Er kam zu einem großen Dorf, ganz wie die Dörfer der Lebenden; dort führten ihn zwei Schatten in ein Haus. Ein Feuer brannte in der Mitte des Hauses und ein paar Fleischstücke schmorten auf der Kohlenglut, aber sic hatten lebendige Augen, die den Bewegungen des Schamanen folgten. Die Begleiter schärften ihm ein, das Fleisch nicht anzurühren (wenn der Schamane einmal von den Gerichten des Totenlandes gekostet hätte, hätte er Schwierigkeiten mit der Rückkehr auf die Erde gehabt). Als er einige Zeit in dem Dorf zugebracht hatte, setzte er seinen Weg fort, kam an die Milchstraße, lief lange auf ihr und stieg schließlich auf sein Grab herab. Sobald er wieder im Grab war, kam sein Körper zum Leben zurück, und der Schamane verließ den Friedhof, kam in das Dorf und erzählte seine Abenteuer9.

Wir haben hier mit einem ekstatischen Erlebnis zu tun, dessen Gehalt über die Sphäre des Schamanismus im eigentlichen Sinn hinausreicht, das aber, wiewohl auch anderen privilegierten Menschen zugänglich, doch im schamanischen Milieu sehr häufig ist. Die Unterweits- und Paradiesfahrten aus den Heldentaten der polynesischen, turktatarischen, nordamerikanischen und anderer Heroen fügen sich in diese Klasse ekstatischer Reisen in die verbotenen Zonen, und die betreffenden Totenmythologien sind von Heldentaten dieser Art gespeist.

Seine ekstatischen Fälligkeiten erlauben dem Eskimoschamanen jede beliebige Reise «im Geiste» in jede kosmische Region. Er trifft immer die Vorsichtsmaßnahme sich mit Seilen binden zu lassen, damit er nur «im Geist» reisen kann; andernfalls würde er durch die Lüfte davongetragen und verschwände für immer. Gehörig festgebunden und manchmal von den anderen Anwesenden durch einen Vorhang getrennt beginnen sie mit der Beschwörung ihrer Hausgeister; mit ihrer Hilfe verlassen sie die Erde und erreichen den Mond oder dringen in die Eingeweide des Ozeans oder der Erde hinab. So wurde ein Schamane bei den Baffin-Eskimo von seinem Hilfsgeist (in diesem Fall einem Bären) auf den Mond getragen; dort traf er auf ein Haus, dessen Tür, der Schlund einer Robbe, den Eindringling zu zerreißen drohte (das wohlbekannte Motiv vom «schwierigen Eingang», auf das wir später noch zurückkommen werden). Er dringt aber in das Haus ein und trifft dort den Mondmann und seine Frau, die Sonne. Nach manchem Abenteuer kommt er auf die Erde zurück und sein Körper, der während der Ekstase leblos gelegen hat, gibt Zeichen des Lebens. Zum Schluß entledigt sich der Schamane aller Stricke, die ihn ge-9 E. W. Nelson, The Eskimo about Bering Strait (18 Annual Report of the Bureau of American Ethnology* 1896-1897, 1.Teil, Washington 1899, S. 19-518), S. 433 ff-

fangen hielten, und erzählt den Anwesenden die Wechselfälle seiner Reise1.

Diese ohne ersichtliches Motiv unternommenen Taten wiederholen in gewissem Maß die mit Gefällten übersäte Initiationsreise und speziell den Durchgang durch eine «enge Pforte», die nur für einen Augenblick offen bleibt. Der Eskimoschamane fühlt ein Bedürfnis nach diesen ekstatischen Reisen, denn in der Trance wird er am meisten er selbst; das mystische Element ist ihm unentbehrlich, denn es bildet ein Konstitutivum seiner eigenen Persönlichkeit.

Doch nicht nur die «Reisen im Geiste» verlangen solche Initiationsproben von ihm. Die Eskimo werden periodisch von den bösen Geistern terrorisiert und die Schamanen haben die Aufgabe sie zu entfernen. Die hiezu nötige Sitzung enthält einen scharfen Kampf zwischen den Hausgeistern des Schamanen und den bösen Geistern (die entweder durch Verletzung von Tabus gereizte Naturgeister oder aber die Seelen bestimmter Toter sind). Zuweilen verläßt der Schamane die Hütte und kommt mit blutigen Händen zurück (Rasmussen, Iglulik Eskimos, S. 144 ff.).

Wenn der Schamane daran ist in Trance zu fallen, macht er Bewegungen, wie wenn er untertauchen würde. Auch wenn er in die Gegenden unter der Erde hinabdringt, macht er den Eindruck, als ob er tauchte und wieder an die Oberfläche des Ozeans zurückkäme. Man erzählte Thalbitzer, daß ein Schamane «zum drittenmal zurückkam, bevor er für ganz untertauchte» (The Heathen Priests, S. 459). Der am häufigsten benützte Ausdruck, wenn man von einem Schamanen spricht, ist »der auf den Meeresgrund hinabsteigt» (Rasmussen, Iglulik, S. 124). Die Unterseefahrten sind, wie wir gesehen haben, symbolisch auf der Tracht vieler sibirischer Schamanen verbildlicht (Entenfüße, Zeichnungen von Tauchervögeln usw.). Auf dem Meeresgrund befindet sich ja die Mutter der Meertiere, eine mythische Formel für die Große Göttin der wilden Tiere, Quelle und Mutterschoß allen Lebens, von deren Wohlwollen die Existenz des Stammes abhängt. Aus diesem Grund muß der Schamane periodisch dort hinabsteigen, um den geistigen Kontakt mit der Mutter der Tiere wiederherzustellen. Doch wie schon bemerkt schließt die große Bedeutung dieser Göttin für das religiöse Leben der Gesamtheit und das mystische Erlebnis des Schamanen keineswegs die Verehrung Silas, des Höchsten Wesens himmlischer Struktur aus, das seinerseits über das Wetter herrscht und Orkane und Schneestürme schickt. Deshalb scheinen die Eskimoschamanen weder auf Unterseefahrten noch auf Himmelfahrten spezialisiert zu sein; ihr Handwerk verlangt das eine wie das andere.

Der Abstieg zu Takânakapsâluk, der Mutter der Robbe, wird auf Verlangen einer einzelnen Person wegen Krankheit oder schlechtem Jagdglück unternommen, und in diesem Fall empfängt der Schamane ein Entgelt. Doch manchmal kommt es auch vor, daß das Wild ganz und gar ausbleibt und das ganze Dorf von der Hungersnot bedroht ist; dann vereinigen sich alle Einwohner in dem Haus, wo die Sitzung stattfindet, und die ekstatische Reise des Schamanen geschieht im Namen der ganzen Gemeinschaft. Die Anwesenden müssen ihre Gürtel und Schnürbänder lösen und schweigend und mit geschlossenen Augen verharren. Der Schamane schweigt einige Zeit und atmet tief, dann beschwört er die Hilfsgeister. Wenn sie kommen, beginnt der Schamane zu murmeln: «Der Weg ist offen vor mir! Der Weg ist offen!» und die Anwesenden wiederholen im Chor: «Amen!» Und wirklich öffnet sich die Erde, aber im nächsten Augenblick schließt sie sich wieder, und der Schamane hat noch lang mit unbekannten Kräften zu ringen, bevor er endlich ausruft: «Jetzt ist der Weg ganz offen!» Und die Zuschauer rufen im Chor: «Daß der Weg vor ihm offen bleibt, daß er einen Weg vor sich hat!» Man hört, zuerst unter dem Bett, dann weiter entfernt auf dem Weg den Schrei «halala-he-he-he, halala-he-he-he!» - das Zeichen, daß der Schamane schon abgereist ist. Der Schrei klingt immer ferner, bis er ganz aufhört.

Inzwischen singen die Geladenen mit geschlossenen Augen im Chor, und es kommt vor, daß die Kleider des Schamanen, die er vor der Sitzung abgeworfen hat, sich beleben und über die Köpfe weg durchs Haus zu fliegen anfangen. Man hört auch Seufzer und tiefes Atmen von Personen, die schon lange gestorben sind; das sind die abgeschiedenen Schamanen, die gekommen sind, um ihrem Mitbruder auf seiner gefährlichen Reise zu helfen. Und die Seufzer und das Atmen scheinen von sehr weit unter dem Wasser zu kommen, als ob es Meertiere wären.

Auf dem Meeresgrund angekommen findet sich der Schamane vor drei großen Steinen in ständiger Bewegung, die ihm den Weg versperren; er muß zwischen ihnen hindurch auf die Gefahr, zermalmt zu werden. (Wieder ein Bild des «engen Durchgangs», der den Zugang zur höheren Seinsebene jedem «Nichteingeweihten» verwehrt, also jedem, der nicht fähig ist sich als «Geist» zu gebaren. ) Nach Überwindung dieses Hindernisses folgt der Schamane einem Pfad und gelangt an eine Art Bucht; auf einem Hügel erhebt sich in Stein gebaut und mit einem engen Eingang versehen das Haus Takánakapsâluks. Er hört die Seetiere schnaufen und keuchen, sieht sie aber nicht. Ein zähnebleckender Hund verwehrt den Eintritt; er ist gefährlich für alle, die vor ihm Angst haben, doch der Schamane schreitet über ihn weg und der Hund merkt, daß er es mit einem sehr mächtigen Zauberer zu tun hat. (Alle diese Hindernisse erwarten nur den gewöhnlichen Schamanen; die wirklich starken kommen direkt auf den Meeresgrund und zu Takánakapsâluk, indem sie unter ihr Zelt oder ihre Schneehütte tauchen, wie wenn sie in ein Rohr glitten ...)

Wenn die Göttin den Menschen zürnt, erhebt sich eine große Mauer vor ihrem Haus. Der Schamane muß sie mit einem Schulterstoß einschlagen. Andere sagen, das Haus Takánakapsâluks habe kein Dach, damit die Göttin von ihrem Feuerplatz die Taten der Menschen sehen kann. In einem Teich rechts von der Feuerstelle sind Seetiere aller Art beisammen, man hört sie schreien und schnaufen. Das Gesicht der Göttin ist von ihren Haaren verhangen und sie ist schmutzig und ungepflegt; die Sünden der Menschen machen sie beinahe krank. Der Schamane muß sich ihr nähern, sie bei der Schulter fassen und ihr die Haare kämmen (denn die Göttin hat keine Finger und kann sich nicht selber kämmen). Bevor er soweit kommt, gibt es noch ein Hindernis zu überwinden: Der Vater Takánakapsâluks hält ihn für einen Toten auf dem Weg zum Schattenreich und will seine Hand auf ihn legen, aber der Schamane ruft: «Ich bin von Fleisch und Blut!» und darf weitergehen.

Während er Takánakapsâluk kämmt, sagt der Schamane zu ihr: «Die Menschen haben keine Robben mehr... !» Und die Göttin antwortet ihm in der Geistersprache: «Die heimlichen Fehlgeburten der 

Frauen und die Verletzungen des tabu durch Essen von gekochtem Fleisch haben den Tieren den Weg versperrt!» Der Schamane muß nun alles in Bewegung setzen um die Göttin zu besänftigen, und schließlich öffnet sie den Teich und läßt die Tiere frei. Man gewahrt ihre Bewegungen am Meeresgrund und bald darauf hört man das stoßweise Atmen des Schamanen, wie wenn er an die Wasseroberfläche auf tauchte. Ein langes Schweigen folgt. Schließlich kündigt der Schamane an: «Ich habe etwas zu sagen!» Alle antworten: «Sagt es! sagt es!» Und der Schamane verlangt in der Geistersprache das Bekenntnis der Sünden. Eine nach der andern gestehen die Frauen ihre Fehlgeburten und die Tabuverletzungen und erwecken Reue11.

Dieser ekstatische Abstieg auf den Meeresgrund bringt also eine ununterbrochene Reihe von Hindernissen, die zum Verwechseln den Proben bei einer Initiation gleichsehen. Motive wie der Durchgang durch einen Zwischenraum, der sich jeden Augenblick schließen kann, der Übergang über eine Brücke, die so breit ist wie ein Haar, der Höllenhund, das Besänftigen der erzürnten Göttin durchziehen wie Leitmotive sowohl die Initiationsberichte wie diese mystischen Reisen ins «Jenseits». Im einen wie im andern Fall geschieht die nämliche Durchbrechung der ontologischen Ebene. Diese Proben sollen erhärten, daß der Held einer solchen Tat die menschliche Verfassung überstiegen, daß er sich den «Geistern» angeglichen hat (also ein Bild für eine Veränderung ontologischer Art: er hat zur Welt der «Geister» Zugang). Wenn er kein «Geist» wäre, könnte der Schamane niemals durch einen so engen Zwischenraum hindurch kommen...

Außer den Schamanen kann auch jeder andere Eskimo die Geister befragen; diese Methode heißt qilaneq. Man braucht dazu nur den Kranken auf die Erde zu setzen und ihm den Kopf mit dem Gürtel hochzuhalten. Man ruft die Geister an, und wenn der Kopf schwer wird, ist das das Zeichen, daß die Geister anwesend sind. Nun stellt man ihnen Fragen; wird der Kopf noch schwerer, so ist die Antwort ja, scheint er dagegen leicht, so ist die Antwort nein. Die Frauen benützen häufig dieses bequeme Mittel des Wahrsagens durch die Geister. Auch die Schamanen greifen manchmal dazu; sie bedienen sich ihres eigenen Fußes (Rasmussen, Iglulik Eskimos, S. 141 ff.).

Möglich wird dies alles durch den allgemeinen Glauben an Geister und besonders durch den lebhaft empfundenen Verkehr mit den Seelen der Toten. In den mystischen Erlebnissen der Eskimo ist etwas wie ein elementarer Spiritismus enthalten. Man fürchtet nur die Toten, die infolge verschiedener Tabuverletzungen grausam und boshaft geworden sind. Mit den übrigen treten die Eskimo gern in Beziehung. Zu den Toten kommt eine Unzahl von Naturgeistern, die, jeder auf seine Art, den Eskimo Dienste erweisen. Jeder Eskimo kann die Hilfe oder den Schutz eines Geistes oder eines Toten erlangen, doch ist damit keine Schamanenkraft verbunden. Hier wie in sovielen anderen Kulturen ist nur der ein Schamane, der sich infolge mystischer Berufung oder eigener Entscheidung der Unterweisung eines Meisters unterzieht, mit Erfolg die Initiationsproben ablegt und ekstatischer Erlebnisse fähig wird, die den übrigen Sterblichen unzugänglich sind.

Nordamerikanischer Schamanismus

Bei vielen nordamerikanischen Stämmen beherrscht der Schamanismus das religiöse Leben oder liefert wenigstens seinen wichtigsten Aspekt. Nirgends aber hat der Schamane das Monopol für alle religiösen Erlebnisse. Es gibt außer ihm noch andere Techniker des Sakralen: den Priester, den Zauberer (Schwarzmagier); auf der anderen Seite bemüht sich, wie wir gesehen haben, ein jedes Individuum zu seinem persönlichen Vorteil um gewisse religiös-magische Kräfte, die meistens mit bestimmten Schutz- oder Hilfs«geistern» identifiziert werden. Nichtsdestoweniger unterscheidet sich der Schamane von den einen und den andern - von seinen Kollegen und den Profanen - durch die Intensität seiner religiös-magischen Erlebnisse. Jeder Indianer kann einen «Schutzgeist» oder eine «Macht» erlangen, die ihn zu «Visionen» fähig macht und seine Reserven an Sakralem vermehrt, aber nur der Schamane vermag dank seiner Beziehungen zu den Geistern tiefer in die übernatürliche Welt einzudringen; mit anderen Worten, nur er bringt es zu einer Technik, die ihm ekstatische Reisen nach Belieben erlaubt.

Weniger deutlich sind die Unterschiede zwischen dem Schamanen und den anderen Spezialisten des Sakralen (Priestern und Schwarzmagiern). Swanton hat die folgende Zweiteilung vorgeschlagen: Die Priester arbeiten für den ganzen Stamm oder die ganze Nation, auf jeden Fall für irgendeine Gesellschaft, während die Autorität der Schamanen einzig von ihrer persönlichen Fähigkeit abhinge12. Doch Park bemerkt richtig, daß in bestimmten Kulturen (z. B. an der Nordwestküste) die Schamanen gewisse priesterliche Funktionen erfüllen13. Wissler optiert für die herkömmliche Unterscheidung zwischen Kenntnis und Praxis der Rituale als Kennzeichen der Priester und dem direkten Erlebnis übernatürlicher Kräfte als Kennzeichen des Schamanen14. Im Ganzen drängt sich dieser Unterschied auch wirklich auf, aber man darf nicht vergessen, daß auch der Schamane, um es noch einmal zu sagen, sich ein corpus von Doktrinen und Traditionen anzueignen hat und sich manchmal einer Lehrzeit bei einem alten Meister unterzieht oder eine Initiation durch einen «Geist» erfährt, wobei ihm die scha-manische Überlieferung des Stammes zuteil wird.

Park seinerseits (a.a.O., S. 10) definiert den nordamerikanischen Schamanismus mit der übernatürlichen Kraft, welche der Schamane durch ein unmittelbares, persönliches Erlebnis erwirbt. «Diese Kraft wird im allgemeinen so angewendet, daß sie sich auf die ganze Gemeinschaft auswirkt. Deshalb kann die Ausübung der Zauberei ein ebenso wichtiger Bestandteil des Schamanismus sein wie die Behandlung der Krankheiten oder der Jagdzauber für die gemeinsame Jagd. Wir w'ollen mit dem Terminus Schamanismus alle Praktiken bezeichnen, durch welche die Menschen übernatürliche Kraft erlangen, ferner die Anwendung dieser Kraft zum Guten oder zum Bösen sowie auch alle auf diese Kräfte bezüglichen Ideen und Glaubensvorstellungen.» Diese Definition ist bequem und vermag viele ziemlich disparate Phänomene einzubegreifen. Wir möchten demgegenüber noch mehr die Ekstasefähigkeit des Schamanen im Vergleich zum Priester und seine positive Funktion im Vergleich zu der antisozialen Tätigkeit des Zauberers, des schwarzen Magiers, hervorheben (wenn auch in vielen Fällen der nordamerikanische Schamane wie seine Genossen in aller Welt diese beiden Haltungen vereinigt).

Die Hauptfunktion des Schamanen ist die Heilung, doch spielt er auch bei anderen religiös-magischen Riten eine wichtige Rolle, z. B. bei der gemeinsamen Jagd15, und dort, wo sie bestehen, in den Geheimgesellschaften (Typ Midewiwin) und mystischen Sekten (Typ «Ghost-dance religion»). Wie alle ihresgleichen rühmen sich auch die nordamerikanischen Schamanen der Gewalt über das Wetter (Regen und Trockenheit), kennen sie die Zukunft, entdecken Diebe usw. Sie schützen die Menschen vor dem Zauber der Zauberer; in der ältesten Zeit genügte es, daß ein Paviotso-Schamane einen Zauberer eines Verbrechens anklagte und er wurde hingerichtet und sein Haus angezündet (Park, a.a. O., S. 44). Anscheinend war früher, wenigstens bei gewissen Stämmen, die magische Kraft der Schamanen größer und theatralischer. Die Paviotso sprechen noch von den alten Schamanen, die sich brennende Kohlen in den Mund steckten und ungestraft rotglühendes Eisen anfaßten (Park, ebd., 57; doch siehe auch unten S. 303, Anm. 32). Heute sind die Schamanen mehr Heiler geworden, obgleich ihre Ritualgesänge und auch ihre eigenen Erklärungen von einer fast göttlichen Allmacht wissen. «Mein weißer Bruder», sagte ein Apachenschamane zu Reagan, «Sie werden mir wahrscheinlich nicht glauben, aber ich bin allmächtig. Ich werde niemals sterben. Wenn Sie mit einem Gewehr auf mich zielen, wird die Kugel nicht in mein Fleisch eindrin-gen, oder wenn sie eindringt, wird sie mir nichts tun ... Wenn Sie mir ein Messer nach oben in den Hals stoßen, wird es oben zu meinem Schädel herauskommen und mir nichts tun... Ich bin allmächtig. Wenn ich jemand töten will, brauche ich nur die Hand ausstrecken und ihn berühren, und er stirbt. Meine Macht ist wie die eines Gottes16

Vielleicht steht dieses euphorische Allmachtsbewußtsein mit Initiationstod und -auferstehung in Zusammenhang. Auf jeden Fall sind mit den medizinisch-magischen Kräften der nordamerikanischen Schamanen weder ihre ekstatischen noch ihre magischen Fähigkeiten ausgeschöpft. Man hat allen Grund zu der Annahme, daß die Geheimgesellschaften und die modernen mystischen Sekten zum großen Teil die ekstatische Aktivität an sich gezogen haben, welche früher den Schamanismus kennzeichnete. Man erinnere sich z. B. an die bereits erwähnten ekstatischen Himmelsreisen der Gründer und Propheten der neuen mystischen Bewegungen, die morphologisch der Sphäre des Schamanismus angehören. Die schamanische Ideologie hingegen ist stark in gewisse Sektoren der nordamerikanischen Mythologie17 und Folklore eingedrungen, besonders soweit sie auf das Leben jenseits des Grabes und auf Unterweltsreisen Bezug haben.

Die schamanische Sitzung

Wenn der Schamane zu einem Kranken gerufen wird, bemüht er sich zuerst die Ursache der Krankheit zu entdecken. Man unterscheidet zwei Haupttypen von Krankheiten: solche, die vom Eindringen eines pathogenen Gegenstandes, und solche, die vom «Verlust der Seele»18 herrühren. In ihrer Behandlung unterscheiden sich die beiden wesentlich. Im ersten Fall handelt es sich darum, das Agens, welches das Übel bewirkt, auszutreiben, im zweiten, die flüchtige Seele des Kranken zu finden und wieder in ihn einzufügen. Im letzteren Fall kommt nur der Schamane in Betracht, denn nur er kann die Seelen sehen und fangen. In Gemeinschaften, wo es außer dem Schamanen noch medicine-men und Heilkundige gibt, können diese wohl gewisse Krankheiten behandeln, aber der «Verlust der Seele» bleibt immer den Schamanen reserviert. Handelt es sich um eine Krankheit, die durch die Einführung eines störenden magischen Objektes hervorgerufen ist, so gelangt der Schamane nur durch seine ekstatischen Fähigkeiten und nicht etwa durch eine Überlegung auf Grund seines profanen Wissens zur Diagnose; verfügt er doch über zahlreiche Hilfsgeister, welche für ihn die Ursache der Krankheit suchen. Die Sitzung enthält daher auf jeden Fall die Beschwörung dieser Geister.

Der Ursachen für das Fortfliegen der Seele sind viele: Träume, welche die Flucht der Seele verursachen; Tote, die sich nicht zum Fortgehen in das Reich der Schatten entschließen und um die Lager herum-streifen, um eine andere Seele mit sich zu nehmen. Oder die Seele des Kranken verirrt sich selber weit weg von seinem Körper. Ein Paviotso-Gewährsmann sagte zu Park: «Wenn jemand plötzlich stirbt, muß man den Schamanen rufen. Wenn er sich nicht zu weit entfernt hat, kann der Schamane ihn zurückbringen. Er fällt in Trance, um die Seele zurückzubringen. Wenn die Seele schon weit gegen die andere Welt vorgedrungen ist, kann der Schamane nichts tun; es ist ein zu großer Abstand zwischen ihm und der Seele» (Park, S. 41). Die Seele verläßt den Körper auch im Schlaf; wenn man jemand jäh aufweckt, kann man ihn töten. Nie darf man einen Schamanen plötzlich aufwecken.

Die unheilstiftenden Gegenstände stammen im allgemeinen von den Zauberern. Es sind kleine Steine, winzige Tiere, Insekten; sie werden nicht in concreto von dem Zauberer hineingebracht, sondern durch die Macht seines Gedankens geschaffen (Park, S. 43). Sie können auch von den Geistern geschickt sein, die sich manchmal selbst in den Körper des Kranken begeben (Bouteiller, S. 106). Wenn die Schamanen die Ursache der Krankheit entdeckt haben, ziehen sie die magischen Objekte durch Saugen heraus.

Die Sitzungen sind nachts und fast immer im Hause des Kranken. Der rituelle Charakter der Kur wird deutlich betont: Schamane und Kranker sind an bestimmte Verbote gebunden (sie meiden schwangere und menstruierende Frauen und ganz allgemein jede Quelle von Unreinheit, enthalten sich von Fleisch und gesalzenen Speisen, der Schamane gebraucht Brechmittel zu radikaler Reinigung, usw.). Zuweilen beobachtet auch die Familie des Patienten Fasten und Enthaltsamkeit. Der Schamane nimmt am Morgen ein Bad; sobald es dämmert, übt er sich in Betrachtungen und Gebeten. Da die Sitzungen öffentlich sind, rufen sie in der ganzen Gemeinschaft eine gewisse religiöse Spannung hervor und bei dem Fehlen anderer religiöser Zeremonien bilden die schamanischen Heilungen das Ritual par excellence. Schon die Einladung des Schamanen durch ein Mitglied der Familie sowie die Festsetzung des Honorars haben einen ritualen Charakter (Park, S. 46; Bouteiller, S. 111 ff.). Verlangt der Schamane einen zu hohen Preis oder gar nichts, so wird er krank. Übrigens wird das Honorar der Kur nicht durch ihn selber, sondern durch seine «Macht» festgesetzt (Park, S. 48 ff.). Nur seine Familie hat ein Recht auf kostenlose Behandlung.

In der ethnologischen Literatur über Nordamerika ist eine große Anzahl von Sitzungen beschrieben19, die sich in den großen Zügen alle gleichen. Wir wollen deshalb eine oder zwei Sitzungen von den am besten beobachteten mehr im Detail vorführen.

Schamanische Kur bei den Patiolso 20

Nachdem der Schamane die Kur übernommen hat, erkundigt er sich, was der Patient vor seiner Erkrankung getan hat, um ihre Ursache zu finden. Dann gibt er Anweisungen für die Anfertigung des Stockes, den man zu Hiiupten des Kranken aufstellt; das ist ein drei bis vier Fuß langer Stock aus Weidenholz mit einer Adlerfeder an der Spitze, die der Schamane liefert. Diese Feder bleibt während der ersten Nacht bei dem Kranken und der Stock wird sorgsam vor der Berührung mit Unreinem gehütet. (Es braucht ihn nur ein Hund oder ein Coyote zu berühren und der Schamane wird krank oder verliert seine Kraft.) Halten wir dabei die große Bedeutung der Adlerfeder bei der nordamerikanischen Schamanenheilung fest. Sehr wahrscheinlich steht dieses Symbol des magischen Flugs mit den ekstatischen Erlebnissen des Schamanen in Beziehung.

Der Schamane kommt gegen neun Uhr abends am Hause an, begleitet von seinem Dolmetsch, dem «Sprecher», der alle Worte, die der Schamane murmelt, mit lauter Stimme zu wiederholen hat. (Der Dolmetsch empfängt ebenfalls Honorare, die sich im allgemeinen auf die Hälfte des Honorars des Schamanen belaufen.) Manchmal spricht der Dolmetsch vor der Sitzung ein Gebet und wendet sich direkt an die Krankheit mit der Mitteilung, daß der Schamane angekommen sei. Ein anderes Mal greift er in der Mitte der Sitzung ein, um den Scha-manen auf rituelle Weise anzuflehen, daß er den Kranken heilt. Gewisse Schamanen verwenden außerdem noch eine Tänzerin, die schön und tugendhaft sein muß. Diese tanzt mit dem Schamanen oder allein, wenn dieser mit dem Saugen beginnt. Doch scheint die Teilnahme von Tänzerinnen an den magischen Heilungen eine ziemlich junge Neuerung zu sein, zum mindesten bei den Paviotso (Park, S. 50).

Der Schamane nähert sich dem Kranken mit nacktem Oberkörper und barfuß und beginnt gedämpft zu singen. Die Anwesenden, welche sich an den Wänden halten, wiederholen die Gesänge einen nach dem andern zusammen mit dem Dolmetsch. Diese Gesänge werden von dem Schamanen improvisiert und er vergißt sie, wenn die Sitzung zu Ende ist. Sie haben die Aufgabe, die Hilfsgeister zu rufen. Doch ist die Inspiration, die zum Singen führt, rein ekstatisch: Manche Schamanen behaupten, daß ihre «Kraft» sie während der Konzentration vor der Sitzung inspiriert, andere sagen, daß ihnen die Gesänge von dem Stock mit der Adlerfeder kommen (Park, S. 52).

Nach einiger Zeit steht der Schamane auf und schreitet im Kreis um das Feuer, das mitten im Haus brennt. Wenn eine Tänzerin dabei ist, folgt sie ihm. Dann kehrt er auf seinen Platz zurück, zündet seine Pfeife an, tut einige Züge daraus und reicht sie den Anwesenden, die auf seine Ermahnung in der Runde einen oder zwei Züge rauchen. Inzwischen gehen die Gesänge immer weiter. Die folgende Etappe hängt von der Natur der Krankheit ab. Ist der Patient bewußtlos, so leidet er offenbar an «Seelenverlust»; dann muß sich der Schamane jetzt gleich in Trance (yáika) begeben. Hat die Krankheit eine andere Ursache, so kann der Schamane sich in Trance begeben, um die Diagnose zu stellen oder um mit seinen «Kräften» über die Behandlung zu verhandeln. Doch wird in diesem letzteren Fall der Diagnosestellung nur dann von der Trance Gebrauch gemacht, wenn der Schamane ein sehr starker ist.

Seine siegreiche Rückkehr von der ekstatischen Reise um die Seele des Kranken teilt der Schamane den Anwesenden in einer langen Erzählung mit. Dient die Trance dem Zweck, die Ursache der Krankheit zu finden, so entdecken die in der Ekstase erscheinenden Bilder dem Schamanen das Geheimnis. Sieht er das Bild eines Wirbelwinds, dann war die Krankheit durch einen Wirbelwind verursacht; sieht er den Patienten unter Blumen Spazierengehen, so ist die Heilung sicher; wenn dagegen die Blumen verwelkt sind, ist der Tod unentrinnbar usw. Die Schamanen kommen singend aus der Trance zurück, bis sie das volle Bewußtsein erlangt haben. Sie beeilen sich, ihr ekstatisches Erlebnis kundzutun, und wenn die Krankheitsursache in einem Gegenstand liegt, der in den Körper des Patienten eingedrungen ist, schreiten sie nun zur Extraktion. Sie saugen an dem Körperteil, den sie in der Trance als Sitz der Krankheit erblickt haben. Im allgemeinen saugen die Schamanen direkt an der Haut; manche saugen durch einen Knochen oder ein Rohr aus Weidenholz. Während der ganzen Operation singen Dolmetscher und Anwesende im Chor, bis der Schamane ihnen durch heftiges Schütteln der Glocke Einhalt gebietet. Das herausgesaugte Blut spuckt der Schamane in ein kleines Loch, dann wiederholt er die Zeremonie, das heißt er nimmt einige Züge aus seiner Pfeife, tanzt um das Feuer und beginnt wieder zu saugen, bis er den magischen Gegenstand herausgezogen hat. Diesen Gegenstand, ein Steinchen, eine Eidechse, ein Insekt, einen Wurm, zeigt er rundherum, wirft ihn in das kleine Loch und deckt ihn mit Staub zu. Die Gesänge und das rituelle «Rauchen» der Pfeife gehen weiter bis Mitternacht; dann macht man eine Pause von einer halben Stunde, während der den Anwesenden Essen angeboten wird nach den Weisungen des Schamanen, der aber selber nichts nimmt. Dabei wird darauf geachtet, daß kein Brösel auf die Erde fällt; das Übriggebliebene wird sorgfältig eingegraben.

Erst kurz vor der Morgendämmerung geht die Zeremonie zu Ende. Unmittelbar vor dem Schluß fordert der Schamane die Anwesenden auf mit ihm fünf bis fünfzehn Minuten rund um das Feuer zu tanzen. Er selber führt den Tanz unter Gesang an. Darauf gibt er der Familie Anweisungen über die Ernährung des Kranken und bestimmt die Zeichnungen, die ihm auf den Körper gemalt werden müssen (Park, S. 55 ff.).

Auf dieselbe Weise zieht der Paviotsoschamane Kugeln und Pfeilspitzen heraus (ebd., S. 59). Viel seltener als die Heilungssitzungen sind schamanische Hellseh- und Wetterzeremonien. Aber man weiß, daß der Schamane Regen bringen, Wolken aufhalten, das Eis der Flüsse schmelzen kann einfach indem er singt oder eine Feder schwenkt (Park, S. 60 ff.). Wie schon gesagt, scheinen seine magischen Kräfte früher einmal viel größer gewesen zu sein und damals gefiel er sich darin, sie zur Schau zu stellen. Gewisse Paviotso-Schamanen machen Prophezeiungen und deuten Träume. Sie spielen jedoch keine Rolle im Krieg, sondern sind dann den militärischen Anführern untergeordnet (Park, S. 61 ff.).

Schamanische Sitzung bei den Achumawi

Von Jaime de Angulo besitzen wir eine sehr vollständige Beschrei-bund der schamanischen Kur bei den Achumawi21. Wie wir sogleich sehen werden, hat diese Sitzung nichts Mysteriöses oder Düsteres an sich. Manchmal verliert der Schamane sich in Meditationen und spricht sotto voce; er redet mit seinen damagomi, seinen «Kräften» («Hilfsgeistern»), um die Krankheitsursache zu entdecken. Denn in Wirklichkeit stellen die damagomi die Diagnose (S. 570). Im allgemeinen unterscheidet man sechs Kategorien von Krankheiten: 1. sichtbare Unfälle, 2. Überschreitung eines tabu, 3. Erschrecken durch die Erscheinung eines Untiers, 4. das «böse Blut», 5. Vergiftung durch einen anderen Schamanen, 6. den Verlust der Seele.

Die Sitzung findet am Abend im Haus des Patienten statt. Der Schamane kniet sich neben dem Patienten nieder, der mit dem Kopf nach Osten auf dem Boden liegt. «Er wiegt sich unter halblautem Singen, mit halbgeschlossenen Augen. Zuerst ist es ein Summen in einem klagenden Ton, wie wenn der Schamane trotz einem inneren Schmerz singen wollte. Das Summen wird stärker und nimmt eine richtige Melodie an, aber immer noch gedämpft. Man beginnt zu schweigen, man hört zu und paßt auf. Der Schamane hat sein damagomi noch nicht. Es ist irgendwo, vielleicht sehr weit weg in den Bergen, vielleicht ganz nahe in der Nachtluft. Das Singen soll es herzaubern, es auffordern, es zwingen (...). Diese Lieder, wie alle Lieder der Achumawi, bestehen aus ein oder zwei Versen mit zwei, drei oder höchstens vier musikalischen Phrasen. Man wiederholt sie zehn-, zwanzig-, dreißigmal hintereinander ohne jede Unterbrechung, wobei auf die letzte Note unmittelbar wieder die erste Note des Anfangs folgt ohne jede musikalische Pause. Man singt unisono. Den Takt schlägt man mit den Händen; er hat mit dem Rhythmus der Melodie nichts zu tun. Er hat einen anderen, ganz beliebigen Rhythmus, einförmig und ohne Ak-21 Jaime de Angulo, La psychologie religieuse des Achumawi: IV. Le chamanisme (Anthropos, 23. Bd., 1928, S. 561—582).

zente. Im allgemeinen schlägt zu Beginn eines Gesangs jeder einen etwas anderen Takt. Doch nach einigen Wiederholungen wird der Takt gleich. Der Schamane selber singt kaum mehr als einige Takte. Zuerst singt er allein, dann einige Stimmen, dann alle. Dann ist er still und überläßt es den Anwesenden, das damagomi herzubringen. Je lauter man singt und je besser unisono, desto besser geht das natürlich, desto mehr Aussicht hat man das damagomi zu wecken, wenn es irgendwo in der Ferne schläft. Nicht nur der physische Lärm weckt es auf, sondern ebenso und noch mehr die emotionelle Glut. (Das ist nicht meine Interpretation; ich wiederhole, was mir viele Indianer gesagt haben.) Der Schamane dagegen sammelt sich. Er schließt die Augen und horcht. Bald spürt er, wie sein damagomi kommt, wie es sich nähert, in der Nachtluft herumflattert, im Busch, unter der Erde, überall, sogar in seinem eigenen Bauch (...). Plötzlich klatscht der Schamane in die Hände, an einer beliebigen Stelle des Gesangs, und alle sind still. Tiefes Schweigen (dies ist sehr eindrucksvoll, mitten im Busch, unter den Sternen, beim flackernden Licht des Feuers, dieses plötzliche Schweigen nach dem jagenden und beinahe hypnotisierenden Rhythmus des Liedes). Nun wendet sich der Schamane an sein damagomi. Seine Stimme ist laut, als ob er zu einem Tauben spräche. Er spricht schnell, stoßweise, monoton, aber in gewöhnlicher Sprache, die jedermann versteht. Die Sätze sind kurz. Und alles, was er sagt, wiederholt der ,Dolmetsch' Wort für Wort (...). Der Schamane ist so überreizt, daß er sich beim Reden verwirrt. Sein Dolmetsch, wenn es sein gewöhnlicher ist. kennt diese versprochenen Stellen seit langem, da sie schon eine Gewohnheit sind (...).

Der Schamane ist mehr und mehr im Zustand der Ekstase, er spricht mit seinem damagomi und sein damagomi antwortet auf seine Fragen. Er wird so eins mit seinem damagomi, er projiziert sich so sehr in dasselbe hinein, daß er selbst genau alle Worte des damagomi wiederholt (...)» (Jaime de Angulo, Le chamanisme, S. 567 f.).

Der Dialog zwischen dem Schamanen und seinen «Mächten» ist zuweilen erstaunlich monoton. Der Meister beklagt sich bei dem damagomi, daß es auf sich warten ließ, und dieses rechtfertigt sich: es sei an einem Fluß eingeschlafen gewesen usw. Der Meister schickt es fort und ruft ein anderes. «Der Schamane hält inne. Er öffnet die Augen wie einer, der aus tiefer Meditation erwacht. Er schaut ein wenig stumpfsinnig. Er verlangt seine Pfeife. Sein Dolmetsch stopft sie, zündet sie an und reicht sie ihm. Die anderen strecken sich, man zündet Zigaretten an, raucht plaudert, macht Spässe, setzt sich um den Herd. Der Schamane nimmt an den Spässen teil, aber immer weniger im Lauf der halben Stunde, der Stunde oder der zwei Stunden. Er wird immer zerstreuter und wilder. Er fängt wieder an, und noch einmal (...). Das dauert manchmal Stunden und Stunden. Manchmal dauert es auch kaum länger als eine Stunde. Manchmal gibt der Schamane die Heilung entmutigt auf. Seine damagomi finden nichts - oder sie haben Angst. Das .Gift’ ist ein sehr mächtiges damagomi, stärker als sie (...). Es hat keinen Sinn es anzugreifen» (ebd., S. 569).

Nachdem der Schamane die Krankheitsursache gefunden hat, schreitet er zur Heilung. Außer bei Seelenverlust besteht die Behandlung im Herausziehen des «Übels» oder im Blutsaugen. Beim Saugen zieht der Schamane mit den Zähnen einen kleinen Gegenstand «wie ein kleines Stück weißer oder schwarzer Faden, manchmal wie ein Stück abgeschnittener Nagel» heraus (ebd., S. 563). Eine Achumawi sagte zu dem Verfasser: «Ich glaube nicht, daß diese Sachen aus dem Körper des Kranken kommen. Der Schamane hat sie immer im Mund, bevor er mit der Kur anfängt. Er zieht damit nur die Krankheit an; er braucht das, um das Gift zu fangen. Wie sollte er es sonst fangen?» (ebd.).

Gewisse Schamanen saugen das Blut direkt heraus. Ein Schamane erklärte das Vorgehen auf folgende Weise: «Das ist schwarzes Blut, böses Blut. Zuerst spucke ich es in meine Hände um zu sehen, ob die Krankheit darinnen ist. Dann höre ich meine damagomi miteinander streiten. Sie wollen alle, daß ich ihnen zu trinken gebe. Sie haben viel für mich gearbeitet. Sie haben mir geholfen. Jetzt sind sie ganz erhitzt. Sie haben Durst. Sie wollen trinken. Sie wollen Blut trinken...» (S. 563). Wenn er ihnen kein Blut gibt, führen sich die damagomi wie die Verrückten auf und protestieren laut. «Nun trinke ich Blut. Ich schlürfe es. Ich gebe ihnen davon, und das befriedigt sie. Das beruhigt sie. Das erfrischt sie...» (ebd.).

Nach den Beobachtungen von Jaime de Angulo ist das «böse Blut» nicht aus dem Körper des Kranken gesaugt; es wäre «das Produkt einer hysterisch bedingten hämorrhagischen Absonderung im Magen des Schamanen» (S. 574). Und wirklich ist der Schamane am Ende der 

Sitzung sehr müde und fällt, nachdem er zwei bis drei Liter Wasser getrunken hat, «in einen schweren Schlaf» (ebd.).

Handelt es sich um eine Vergiftung durch einen anderen Schamanen, so ergreift der Heiler, nachdem er lange an der Haut gesaugt hat, das magische Objekt mit den Zähnen und zeigt es vor. Manchmal befindet sich der Vergifter unter den Anwesenden und der Schamane gibt ihm das «Objekt» zurück: «Schau, da ist dein damagomi, ich will es nicht behalten!» (S. 574). Handelt es sich um Verlust der Seele, so macht sich der Schamane, immer von seinen damagomi informiert, auf die Suche und findet die Seele verirrt in der Wildnis, auf einem Felsen usw. (ebd., St. 575-577).

Abstieg in die Unterwelt

Die Sitzung der Achumawi-Schamanen zeichnet sich durch ihre Mäßigung aus. Doch ist diese nicht immer die Regel. Die Trance, die bei den Achumawi eher schwach erscheint, ist anderswo von recht deutlichen ekstatischen Bewegungen begleitet. Der Shushwap-Scha-mane (Stamm im Inneren von Britisch-Columbia) «gebärdet sich wie ein Verrückter», sobald er seine rituelle Kopfbedeckung aufgesetzt hat (sie ist aus einer Matte gemacht, die zwei Meter lang und einen Meter breit ist). Er beginnt die Lieder zu singen, die ihn sein Schutzgeist im Augenblick der Initiation gelehrt hat. Er tanzt, bis er stark schwitzt und der Geist kommt und zu ihm spricht. Dann streckt er sich zur Seite des Kranken nieder und saugt ihm den schmerzenden Körperteil. Schließlich zieht er einen Riemen oder eine Feder, die Ursache der Krankheit, heraus und läßt sie verschwinden, indem er daraufbläst22.

Die Suche nach der verirrten oder von den Geistern geraubten Seele nimmt manchmal dramatischen Charakter an. Bei den Thompson-In-dianern setzt der Schamane seine Maske auf und macht sich zuerst auf den alten Pfad, den früher die Ahnen ins Totenland einschlugen; trifft er die Seele des Kranken nicht, so durchwühlt er die Friedhöfe, wo die christianisierten Indianer begraben sind. Auf jeden Fall muß er mit 22 Franz Boas, The Shushwap (in Sixth Report of the Commettee on the North-Western Tribes of Canada, Report of the British Association Leeds 1890), Sonderdruck, S. 95 ff.

den Gespenstern kämpfen, bevor er ihnen die Seele des Kranken entreißen kann, und wenn er auf die Erde zurückkehrt, zeigt er den Anwesenden seine blutige Keule. Bei den Tuana-Indianern im Staate Washington ist die Unterweltsfahrt noch realistischer. Vielfach öffnet man die Erdoberfläche; man ahmt das Überqueren eines Wasserlaufs nach, man spielt einen heftigen Kampf mit den Geistern usw.23.

Wie überall zieht auch hier die schamanische Unterweltsfahrt zur Rückführung der Seele den unterirdischen Reiseweg der Abgeschiedenen heran und fügt sich damit in die Totenmythologie des betreffenden Stammes ein. In selteneren Fällen wird der nordamerikanische Schamane gerufen um den Schutzgeist eines Menschen zurückzubringen, der von Verstorbenen in die Totenregion mitgenommen worden ist24.

Meistens aber setzt der Schamane seine Kenntnis der unterweltlichen Topographie und seine Fähigkeit zu ekstatischem Hellsehen für die Suche der Seele des Kranken ein. Es hätte keinen Sinn, hier alle Befunde über Seelenverlust und Seelensuche im nordamerikanischen Schamanismus zusammenzustellen25. Es genügt uns die Feststellung, daß dieser Glaube in Nordamerika, besonders seiner westlichen Zone, ziemlich häufig ist und daß sein Vorkommen auch in Südamerika die Hypothese einer neueren Entlehnung aus Sibirien ausschließt26. Wie noch im folgenden zu zeigen sein wird, scheint die Theorie vom Seelen-  James Teil, The Thompson Indians oj Bsisish Columbia (Memoirs of lire Ameri-(an Museum of Natural History, II: The Jesup North Pacific Expedition, 1. Bd., 1898-1900, S. 163-442). S. 363 ff.; Rev. Myron Eels, The Twana, Chemakun and Klallam Indians of Washington Territory, S. 677 ff., zitiert bei Frazer, Taboo and the Perils of the Soul, 19Id.

Auf der Insel Vea im Pazifik begibt sich der Medizinmann ebenfalls in Prozession zum Friedhof. Dasselbe Ritual in Madagaskar; vgl. Frazer, a. a. O.

24 Vgl. z. B. Hermann Haeberlin. Sbetedàg. A shamanistic performance of the Coast Saltsh (American Anthropologist, 1918, 20. Bd., S. 249-257). Mindestens acht Schamanen zugleich führen diese Zeremonie aus. die in einer ekstatischen Unterweltsreise auf einer imaginären Barke besteht.

Vgl. Robert H. Lowie, Notes on Shoshonean ethnography (American Museum of Natural History, Anthropological Papers, 20. Bd.. 3. Teil, 1924, S. 183-314), S. 294 ff.; Park. a.a. O., S. 137; Clements, Primitive concepts of disease, S. 195 ff.

26 So die Hypothese von R. L. Lowie (Primitive Religion, Neuyork 1924, S. 176 ff.), die er später aufgegeben hat, vgl. On the historical connection between certain Old World and New World beliefs (Congrès International des Americanistcs, XXIe Session, 2. Teil abgehalten in Göteborg 1924, Göteborg 1925, S. 546—549). Vgl. auch Clements. Primitive concepts of disease, S. 196 ff.; Park, S. 157.

Verlust zwar wahrscheinlich jünger als die Erklärung durch ein störendes Agens, aber nichtsdestoweniger ziemlich archaisch zu sein; ihr Vorkommen auf dem amerikanischen Kontinent läßt sich nicht als später Einfluß des sibirischen Schamanismus erklären.

Hier wie überall begegnet die schamanistische Ideologie (oder genauer der Teil der traditionellen Ideologie, den die Schamanen sich assimiliert und weiterentwickelt haben) auch in solchen Mythen und Legenden, wo keine Schamanen im eigentlichen Sinn Vorkommen. So zum Beispiel in dem sogenannten «nordamerikanischen Orpheusmythus», der bei der Mehrzahl der Stämme, speziell im Westen und Osten des Kontinents, bezeugt ist27. Bei den Telumni Yokuts hat er folgende Version: Ein Mann verliert seine Frau: Er beschließt ihr zu folgen und wacht am Grab. In der zweiten Nacht erhebt sich die Frau und beginnt wie im Schlaf nach Tipikinits, dem Totenland, zu gehen, das gegen Westen (oder Nordwesten) liegt. Der Gatte folgt ihr, bis sie an einen Fluß kommt, über den eine Brücke führt, die beständig zittert und schwankt. Die Frau dreht sich um und sagt zu ihm: «Was tust du hier? Du bist lebendig und kannst nicht über die Brücke gehen. Du wirst ins Wasser fallen und ein Fisch werden.» In der Mitte der Brücke wachte ein Vogel; durch seine Schreie erschreckte er die Passanten und manche fielen in den Abgrund. Aber der Mann hatte einen Talisman, eine Zauberschnur; mit ihrer Hilfe gelang es ihm den Fluß zu überschreiten. Am anderen Ufer trifft er seine Frau inmitten einer Menge von Abgeschiedenen, welche rund herum tanzen (die klassische Form des «Ghost-dance»), Der Mann nähert sich ihnen und alle beklagen sich über seinen schlechten Geruch. Der Bote Tipikinits', des Herrn der Unterwelt, ladet ihn zu Tisch ein. Die Frau des Boten selbst reicht ihm unzählige Gerichte, von denen er ißt, ohne daß sie weniger werden. Der Herr der Unterwelt fragt ihn nach dem Grund seines Besuches. Wie er ihn erfahren hat, verspricht er ihm, daß er seine Frau mit auf die Erde nehmen kann, wenn er es fertig bringt die ganze Nacht zu wachen. Der Rundtanz beginnt wieder, aber der Mann bleibt abseits und schaut zu, um nicht müde zu werden. Tipikinits befiehlt ihm zu baden. Dann ruft er seine Frau, um zu prüfen, ob sie wirklich seine Gattin ist. Das Paar verbringt die ganze Nacht redend in einem Bett. Vor der Morgenröte schläft der Mann ein und beim Aufwachen findet er ein vermodertes Holzscheit in seinen Armen. Tipikinits schickt seinen Boten, um ihn zum Frühstück einzuladen. Er gibt ihm noch einmal eine Chance, und der Mann schläft den ganzen Tag, um in der folgenden Nacht nicht müde zu sein. Am Abend beginnt alles wieder wie am Vortag. Das Paar lacht und amüsiert sich bis zum Morgengrauen, wo der Mann wieder einschläft, um dann mit dem vermoderten Holzscheit in den Armen aufzuwachen. Tipikinits bestellt ihn wieder zu sich, gibt ihm ein paar Körner, mit denen er den Fluß überschreiten kann, und befiehlt ihm die Unterwelt zu verlassen. Zurückgekehrt erzählt er sein Abenteuer, bittet aber seine Verwandten darüber zu schweigen, denn wenn es ihm nicht gelingt, sechs Tage verborgen zu bleiben, wird er sterben. Nichtsdestoweniger erfahren seine Nachbarn von seiner Abwesenheit und Rückkehr, und der Mann beschließt, alles zu gestehen, damit er wieder zu seiner Frau kommt. Er ladet das Dorf zu einem großen Festmahl und erzählt, was er im Totenreich gesehen und gehört hat. Am nächsten Tag stirbt er an einem Schlangenbiß.

Die Varianten dieses Mythus zeigen alle eine erstaunliche Einförmigkeit. Die Brücke, das Seil, auf dem der Held den Unterweltsfluß überschreitet, die wohlwollende Person (eine alte Frau oder ein alter Mann, der Herr der Unterwelt), das Tier, das die Brücke bewacht usw., alle diese klassischen Motive der Unterweltsfahrt kommen fast in allen Varianten vor. In mehreren Versionen (Gabriellino usw.) ist die Probe, der sich der Held unterziehen muß, eine Keuschheitsprobe; er muß drei Nächte neben seiner Gattin keusch bleiben (Gayton, S. 270, 272). In einer Alibamu-Version handelt es sich um zwei Brüder, die ihrer toten Schwester folgen. Sie gehen gegen Westen, bis sie den Horizont erreicht haben; dort bleibt der Himmel nicht stehen, sondern verläßt andauernd seinen Platz. Die beiden Brüder verwandeln sich in Tiere, dringen ins Jenseits ein und gehen mit Hilfe eines alten Mannes oder einer alten Frau aus vier Proben siegreich hervor. Wie sie oben angekommen sind, zeigt man ihnen ihr Haus auf der Erde, das sich genau unter ihren Füßen befindet (Motiv «Zentrum der Welt»), Sie wohnen dem Tanz der Toten bei; ihre Schwester ist darunter, sie berühren sie mit einem magischen Gegenstand, so daß sie hinfällt und sie sie in einem Flaschenkürbis forttragen können. Doch auf die Erde zurückgekehrt hören sie ihre Schwester im Innern des Kürbisses weinen, öffnen ihn unklugerweise und die Seele des jungen Mädchens entflieht (ebd., S. 273).

Einen ähnlichen Mythus werden wir in Polynesien antreffen, doch bewahrt der nordamerikanische besser die Erinnerung an die Initiationsprobe, welche die Unterweltsfahrt enthielt. Die vier Proben der Ali-bamu-Variante, die Keuschheitsprobe und besonders die Probe des «Wachens» haben deutlichen Initiationscharakter2. Das «Schama-nische» an allen diesen Mythen ist der Abstieg in die Unterwelt, um die Seele der geliebten Frau zurückzubringen. Den Schamanen wird ja die Fähigkeit zugeschrieben, nicht nur die schweifenden Seelen der Kranken zurückzubringen, sondern auch die Toten wieder zum Leben bringen zu können29, und diese erzählen bei der Rückkehr aus der Unterwelt den Lebenden, was sie gesehen haben, ganz wie die anderen, die «im Geist» ins Totenland hinabgestiegen sind, die in der Ekstase Unterwelt und Paradies besucht und die vieltausendjährige Visionsliteratur der ganzen Welt gespeist haben. Es wäre Übertreibung, diese Mythen als ausschließliche Schöpfungen schamanischer Erlebnisse anzusehen; sicher aber ist, daß sie solche Erlebnisse benützen und interpretieren. In der Alibamu-Variante fangen die Helden die Seele ihrer Schwester auf dieselbe Art, wie sich der Schamane der ins Totenland entführten Seele des Kranken bemächtigt, um sie auf die Erde zurückzuführen.

Die Geheimbruderschaften und der Schamanismus

Die Frage der Beziehungen zwischen dem Schamanismus im eigentlichen Sinn und den verschiedenen nordamerikanischen Geheimgesell-schaften und mystischen Bewegungen ist ziemlich komplex und noch weit von ihrer Lösung entfernt30. Man kann jedoch sagen, daß alle diese Bruderschaften auf Mysteriengrundlage eine schamanische Struktur haben in dem Sinn, daß ihre Lehre und ihre Techniken an der großen schamanischen Tradition teilhaben. Wir werden dafür sogleich einige Beispiele aus den Geheimgesellschaften (Typ midêwiwin) und Ekstasebewegungen (Typ «Ghost-dance religion») geben. Man erkennt daran mit Leichtigkeit die großen Linien der schamanischen Tradition: Initiation mit Tod und Auferstehung des Kandidaten, ekstatische Besuche im Land der Toten und im Himmel, Einfügung magischer Substanzen in den Körper des Kandidaten, Offenbarung der Geheimlehre, Unterweisung in der schamanischen Heilung usw. Der Hauptunterschied zwischen dem traditionellen Schamanismus und den Geheimgesellschaften besteht darin, daß diese jedermann offenstehen, der eine gewisse ekstatische Disposition zeigt, bereit ist den verlangten Beitrag zu zahlen und vor allem sich der Lehrzeit und den Initiationsproben unterziehen will. Man beobachtet nicht selten eine gewisse Opposition, ja sogar einen Antagonismus zwischen den Geheimbruderschaften und ekstatischen Bewegungen einerseits und den Schamanen andererseits. Bruderschaften wie Ekstasebewegungen opponieren gegen den Schamanismus, insoweit er sich der Zauberei und der schwarzen Magie genähert hat. Eine andere Opposition hat ihren Grund in dem exklusiven Geist gewisser schamanischer Kreise; die Geheimgesellschaften und ekstatischen Bewegungen legen dagegen eine deutliche Tendenz zum Proselytenmachen an den Tag, die letzten Endes darauf ausgeht, das Privileg der Schamanen überhaupt abzuschaffen. Alle diese Bruderschaften und mystischen Sekten haben die geistige Regeneration der ganzen Gemeinschaft, ja aller nordamerikanischen Stämme und damit eigentlich eine religiöse Revolution zum Ziel (vgl. die «Ghost-dance religion»). Damit stehen sie in bewußtem Gegensatz zu den Schamanen, welche in diesem Punkt am meisten für die Erhaltung der religiösen Tradition und am wenigsten für die Ausweitung der Spiritualität des Stammes zu tun geneigt sind.

In Wirklichkeit liegen die Dinge jedoch noch ungleich verwickelter. Denn unbeschadet des bisher Gesagten sind in Nordamerika die Unterschiede zwischen «profanen» und «sakralen» Personen mehr quantitativer als qualitativer Art; es handelt sich um die Menge des Sakralen, das ein Individuum sich angeeignet hat. Wie wir schon zeigten, strebt jeder Indianer nach religiösen Kräften, verfügt jeder über einen Schutzgeist, den er durch dieselben Techniken erwirbt wie ein Schamane die seinen. Der Unterschied zwischen einem profanen Menschen und einem Schamanen ist rein quantitativ: Der Schamane verfügt über eine größere Anzahl von Schutzgeistern und eine größere religiösmagische «Macht» 31. Man könnte fast sagen, ein jeder Indianer «scha-manisiert», auch wenn er nicht ausdrücklich Schamane werden will.

Ebenso undeutlich wie der Unterschied zwischen Profanen und Schamanen ist der zwischen Schamanentum und Geheimbruderschaften bzw. mystischen Sekten. Einmal trifft man bei diesen Bruderschaften «schamanische» Techniken und Ideologien und außerdem nehmen die Schamanen im allgemeinen an den bedeutendsten Mysterien-Geheim-gesellschaften teil, ja setzen sich sogar zuweilen an deren Stelle. Sehr deutlich sind diese Beziehungen bei der midêwiwin oder wie man (irrtümlich) sagt der «Großmedizin-Gesellschaft» der Ojibwa. Die Ojibwa kennen zwei Arten von Schamanen, die wâbêno («Mann der Morgenröte», «Mann des Ostens») und die jessakid, Propheten und Seher, auch «Gaukler» und «Enthüller verborgener Wahrheiten» genannt. Beide Kategorien legen schamanische Fähigkeiten an den Tag: Die wâbêno heißen auch «die mit dem Feuer Umgehenden», sie manipulieren ungestraft mit glühenden Kohlen, die jessakkid wirken Heilun-31 Zu den schon erwähnten Beispielen (s. o. S. 106 ff.) kommt die schöne Analyse von Leslie Spier, Klamath ethnography (University of California, Publications in American archaeology and ethnography. 30. Bd„ Berkeley 1930), S.93ff. («the power quest»), S. 107 ff. (quantitative Verschiedenheit der Macht), S. 249 ff. (Allgemeinheit des Strebens nach Macht) usw.

gen, Götter und Geister sprechen durch ihren Mund und sie sind berühmte «Gaukler», die sich im Augenblick der Stricke und Ketten entledigen, mit denen sie geknebelt sind32. Die einen wie die anderen schließen sich jedoch gerne der midêwiwin an und zwar tut der wâbêno das, wenn er sich in magischer Heilkunde und Beschwörungen spezialisiert hat, der jessakkid, wenn er sein Ansehen im Stamme heben will. Sie sind natürlich in der Minderheit, da die «Großmedizin» allen offen steht, die sidi für Spirituelles interessieren und die Aufnahmegebühr bezahlen können. Bei den Menomini, zu Hoffmans Zeit 1500 an der Zahl, hatte die midêwiwin hundert Mitglieder, darunter zwei wâbêno und fünf jessakktd (Hoffman, S. 158). Doch die Schamanen, die nicht zur midêwiwin gehörten, können nicht mehr viele gewesen sein.

Das Entscheidende aber ist, daß die «Großmedizinbruderschaft» selbst schamanische Struktur aufweist. Ihre Mitglieder, die midê, nennt Hoffman übrigens «Schamanen», während andere Autoren sie zugleich Schamanen und medicine-men, Propheten, Seher und sogar Priester nennen. Alle diese Bezeichnungen sind zum Teil richtig, denn die midê tun den Dienst von heilenden Schamanen wie von Schern und in gewissem Grad sogar von Priestern. Die historischen Anfänge der midêwiwin sind unbekannt, doch ihre mythologischen Traditionen sind von den sibirischen Mythen vom «ersten Schamanen» nicht allzu weit entfernt. Sie erzählen, daß Minabôzho, der Bote Dzhe Manidos (des Großen Geistes) und Mittler zwischen diesem und den Menschen, als er das Elend der kranken und schwachen Menschheit sah, der Fischotter die höchsten Geheimnisse entdeckte und in ihren Körper migis (Symbol der mide) einführte, damit sie unsterblich würde und die Menschen in die Geheimnisse einführen und zugleich weihen könnte33. Deshalb spielt die Satteltasche aus Fischotterhaut bei der Initiation der mide eine Hauptrolle; dort deponiert man die migi. kleine Muscheln, welche als Sitz der religiös-magischen Kraft gelten (Hoffman, S. 217, 220 ff.).

Die Initiation der Kandidaten folgt den großen Zügen jeder scha-manischen Initiation. Sie enthält die Offenbarung der Mysterien (also an erster Stellen den Mythus von Minabôzho und der Unsterblichkeit der Fischotter), Tod und Auferstehung des Kandidaten und die Einführung vieler migis in seinen Körper (was seltsam an die «magischen Steine» erinnert, mit denen man in Australien und anderen Ländern den Körper des Zauberlehrlings füllt). Es gibt vier Initiationsgrade, aber die drei letzten Initiationen sind nur Wiederholungen der ersten Zeremonie. Man errichtet die midêwigan, die «Große Medizinloge», eine Art Einfriedung von 25 zu 8 Metern; zwischen den Pfählen wird Laub angebracht zum Schutz gegen Neugierige. Etwa 30 Meter davon entfernt errichtet man eine wigiwan, das Dampfbad für den Kandidaten. Das Oberhaupt bestimmt einen Lehrer, der ihm Herkunft und Eigenschaften von Trommel und Glocken offenbart und ihn beides zur Anrufung des Großen Gottes (Manidou) und Austreibung der Dämonen anwenden lehrt. Er lernt auch Zauberlieder, Heilkräuterkunde, Therapie und vor allem die Elemente der Geheimlehre. Vom sechsten oder fünften Tag vor der Initiationszeremonie an reinigt sich der Kandidat täglich in dem Dampfbad, um dann den Vorführungen der magischen Kräfte durch die midê beizuwohnen; dabei lassen diese in der midêwigan verschiedene Holzfigürchen und vor allem ihre Satteltaschen sich auf Entfernung bewegen. Die letzte Nacht bleibt er im 33 Hoffman, The midewiwin, S. 166 fL, ders., Pictography and chamanistic rites of the Ojibwa (American Anthropologist 1, 1888, S. 209-229). S. 213 ff. Vgl. auch Sister Bernard Coleman, The Religion of the Ojibwa of Northern Minnesota (Primitive Man 10, 1937, S. 33-37), S. 44 (f. (über die midèwiwin).

Dampfbad mit seinem Lehrmeister allein und am nächsten Tag schreitet man nach einer neuen Reinigung und wenn der Himmel klar ist zur Initiationszeremonie. Alle mille sind in der großen Medizinloge versammelt. Nachdem sie lange schweigend geraucht haben, stimmen sie rituelle Gesänge über geheime (und meist unverständliche) Themen der Urtradition an. In einem bestimmten Moment erheben sich alle midê, nähern sich dem Kandidaten und «töten.» ihn, indem sie ihn mit migi berühren. Der Kandidat zittert, fällt auf die Knie nieder und streckt sich, sobald man ihm eine migi in den Mund steckt, leblos auf dem Boden aus. Nun berührt man ihn mit der Satteltasche und er «steht wieder auf». Man gibt ihm ein Zauberlied und der Häuptling überreicht ihm eine Satteltasche aus Fischotterhaut, in der der Kandidat seine eigenen migi deponiert. Um die Kraft dieser Muscheln zu erweisen, berührt er seine Mitbrüder der Reihe nach damit und sie fallen wie vom Blitz getroffen zu Boden, um dann auf dieselbe Berührung wiederaufzuerstehen. Damit hat er den Beweis, daß die Muscheln in gleicher Weise Tod und Leben geben. Bei dem anschließenden Festmahl erzählt der älteste midê die Überlieferung der Midêwiwin und zum Schluß singt das neue Mitglied sein Lied und schlägt die Trommel. Die zweite Initiation findet frühestens ein Jahr nach der ersten statt. Dabei wird durch Einführung einer großen Menge von migi in den Körper des Initianten, besonders an den Gelenken und in der Herzgegend, die magische Kraft vermehrt. Durch die dritte Initiation gewinnt der midê die Kraft eines jessakkid, das heißt er ist nun zu allen schamanischen Gauklerstücken fähig und speziell Meister in der Heilkunde geworden. Die vierte Initiation führt neue migi in seinen Körper ein (Hoffman, S. 204-276).

Dieses Beispiel zeigt, was für enge Beziehungen zwischen dem Schamanismus im eigentlichen Sinn und den nordamerikanischen Geheimgesellschaften bestehen; der eine wie die anderen haben an derselben archaischen Tradition religiöser Magie teil. Doch zeigt sich bei diesen Geheimbruderschaften und besonders bei der midêwiwin auch der Versuch einer «Rückkehr zu den Ursprüngen» im Sinn einer Bemühung um neuen Kontakt mit der Urtradition und um Beseitigung der Zauberer. Die Rolle der Schutz- und Hilfsgeister ist nur mäßig, während man dem Großen Geist und den Himmelreisen viel Gewicht beilegt. Man bemüht sich um Wiederherstellung der Verbindungen zwischen 

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Erde und Himmel, wie sie am Morgen der Zeiten bestanden. Doch trotz ihres «reformatorischen» Charakters greift die midêwiwin die altertümlichsten Techniken der religiös-magischen Initiation wieder auf (Tod und Auferstehung, Füllung des Körpers mit «magischen Steinen» usw.). Außerdem werden die midi Medizinmänner, da ihnen die Initiation auch die verschiedenen Techniken magischen Heilens vermittelt (Exorzismus, magische Pharmazie, Saugbehandlung usw.).

Etwas anders verhält es sich mit dem «Medizinritus» der Winnebago, dessen vollständiges Initiationszeremonial kürzlich von Paul Radin veröffentlicht wurde“. Auch hier handelt es sich um eine Geheimbruderschaft mit einem sehr komplexen Initiationsritual («Tod» und Auferstehung des Kandidaten durch Berührung mit magischen Muscheln, die in einer Satteltasche aus Otterfell aufbewahrt werden, Radin, S. 5 ff., 285 ff. usw.). Doch damit ist die Ähnlichkeit zwischen den midêwhvin der Ojibwa und der Menomini schon zu Ende. Wahrscheinlich wurde der Ritus der Einführung von Muscheln in den Körper des Kandidaten erst ziemlich spät (gegen Ende des 17. Jahrhunderts) einer viel älteren Winnebago-Zeremonie mit vielen schamanischen Elementen eingefügt (Radin, S. 75). Mehrere Ähnlichkeiten des «Medizinritus» der Winnebago mit der «Medizinmänner-Zeremonie» der Pawnee und die für eine direkte Entlehnung zu große Entfernung zwischen den beiden Stämmen lassen den Schluß zu, daß jede von diesen Zeremonien Reste eines ziemlich archaischen Rituals aus einem ursprünglich mexikanischen Kulturkomplex bewahrt (Radin, ebd.). Die midêwiwin der Ojibwa ist wohl nur eine Weiterentwicklung eines solchen Rituals. Auf jeden Fall hatte der «Medizinritus» der Winnebago die dauernde Regeneration des Initiierten zum Ziel. Der mythische Demiurg, der Hase, den der Schöpfer den Menschen zur Hilfe auf die Erde geschickt hatte, war sehr beeindruckt davon, daß die Menschen starben. Um dem Übel abzuhelfen, errichtet er die Initiationshütte und verwandelt sich selbst in ein kleines Kind. «Wenn jemand wiederholt, was ich getan habe», erklärt er, «wird er so aussehen» (Radin, ebd., S. 28). Doch der Schöpfer legt die Regeneration, die er den Menschen gewährt hat, auf andere Weise aus: Die Menschen können sich reinkarnieren, so oft sie wollen (ebd., S. 25). Im Grund teilt der «Medizinritus» das Geheimnis 34 Paul Radin, The Road of Life and Death. A ritual drama of the American Indians (Neuyork 1945).

einer unendlichen Wiederkehr auf die Erde mit, und zwar offenbart er zu diesem Zweck den wahren Reiseweg nach dem Tode samt den Worten, welche der Abgeschiedene an die Wächterin des Jenseits und an den Schöpfer selbst zu richten hat. Offenbar werden auch Kosmogonie und Ursprung des «Medizinritus» enthüllt, denn es handelt sich immer um die Rückkehr zu den mythischen Ursprüngen, die Aufhebung der Zeit und damit um den Anschluß an den wunderbaren Augenblick der Schöpfung.

Zahlreiche schamanische Elemente überleben auch in den großen mystischen Bewegungen der «Ghost-dance religion», welche zwar schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts endemisch waren, ihre umstürzende Wirkung in den nordamerikanischen Stämmen jedoch erst gegen Ende des Jahrhunderts ausübten35. Ein Einfluß des Christentums wenigstens auf einige ihrer «Propheten» ist sehr wahrscheinlich (vgl. Mooney, S. 748 ff., 780 usw.). Messianische Spannung und Erwartung des bevorstehenden «Endes der Zeit», das von den Propheten und Meistern der «Ghost-dance religion» verkündet wurde, waren einem verwischten, elementaren Christentumserlebnis leicht einzufügen. Doch ist deswegen die Struktur dieser bedeutenden mystischen Volksbewegung nicht weniger autochthon. Die Propheten hatten ihre Visionen im reinsten archaischen Stil; sie waren «tot» und sind zum Himmel aufgestiegen, wo eine Himmelsfrau sie anwies, sich dem «Meister des Lebens» vorzustellen (Mooney, S. 665 ff., 746 ff., 772 ff.); sie hatten ihre großen Offenbarungen in Trancen, in denen sie die Regionen des Jenseits bereisten, und nach ihrer Rückkehr erzählten sie, was sie gesehen hatten (ebd., S. 672); während ihren freiwilligen Trancen konnte man sie mit Messern schneiden und brennen, ohne daß sie etwas spürten (S. 719 ff.) usw.

Die «Ghost-dance religion» prophezeite das Nahen einer allgemeinen Regeneration. Dann würden alle Indianer, tote und lebendige, auf einer «regenerierten Erde» leben dürfen; zu dieser paradiesischen Erde würden sie mit Zauberfedern fliegen (ebd., S. 777 ff., 781, 786). 

Gewisse Propheten, wie John Slocum, der Gründer der «Zitterer»-Be-wegung, erhoben sich gegen die alte indianische Religion, besonders gegen die Medizinmänner. Das hat jedoch nicht verhindert, daß die Schamanen der Bewegung anhingen, fanden sie hier doch die alte Tradition der Himmelfahrten und mystischen Lichterlebnisse wieder, und wie die Schamanen vermochten auch die «shakers» Tote zu erwecken (s. z. B. den Fall der vier Auferweckten, S. 748). Das Hauptritual dieser Sekte bestand in langdauernder Betrachtung des Himmels und in fortwährendem Zittern der Arme - einfache Techniken, die man, auch in noch abwegigeren Formen, im antiken und modernen Nahen Orient findet und zwar immer in «schamanischem» Umkreis. Andere Propheten griffen die Zauberpraktiken und die Medizinmänner des Stammes an, doch mehr um sie zu reformieren und regenerieren, siehe das Beispiel des Shawano-Propheten, der etwa dreißig Jahre alt zum Himmel entrückt wurde und dort vom Meister des Lebens eine neue Offenbarung empfing, die ihm Vergangenheit und Zukunft enthüllte; obwohl er den Schamanismus angriff, wollte er die Kraft empfangen haben alle Krankheiten zu heilen und sogar den Tod in der Schlacht abzuhalten (ebd., S. 672). Dieser Prophet hielt sich übrigens für die Inkarnation Manabozhos, des ersten «Großen Demiurgen» der Algonkin, und wollte die midêwiwin reformieren (ebd., S. 675 f.).

Der erstaunliche Erfolg der «Ghost-dance religion» beim Volk ist jedoch der Einfachheit ihrer mystischen Technik zuzuschreiben. Um die Ankunft des Erlösers der Rasse vorzubereiten, tanzten die Mitglieder der Bruderschaft vier bis fünf Tage nacheinander und fielen so in Trancen, in denen sie die Toten sahen und mit ihnen sprachen. Man tanzte am Feuer rund herum, man sang, jedoch ohne Trommelbeglei-tung. Der Apostel bestätigte die Neupriester, indem er ihnen beim Tanz eine Adlerfeder gab; er brauchte einen Tänzer nur mit einer solchen Feder anzurühren und dieser fiel leblos nieder und blieb lange in diesem Zustand, während seine Seele den Toten begegnete und sich mit ihnen unterhielt (ebd., S. 915 ff.). Auch von den übrigen wesentlichen Elementen des Schamanismus fehlte keines; die Tänzer wurden Heiler (S. 786), sie zogen «Gespensterhemden» («ghost shirts») an, Ritualtrachten mit Darstellungen von Gestirnen, mythologischen Wesen und sogar Trancevisionen (S. 789 ff., Taf. 103, S. 895), schmückten sich mit Adlerfedern (S. 791), gebrauchten das Dampfbad (S. 823 ff.) usw. Betont sei, daß sie tanzten - eine mystische Technik, die zwar nicht ausschließlich schamanisch ist, doch, wie wir gesehen haben, bei der Vorbereitung des Schamanen zu seiner Ekstase eine entscheidende Rolle spielt.

Natürlich geht die «Ghost-dance religion» über den Schamanismus im strengen Sinn in jeder Beziehung hinaus. Das Fehlen der Initiation und einer traditionellen Geheimunterweisung genügt, um sie vom Schamanismus zu trennen. Doch haben wir es hier mit einem religiösen Kollektiverlebnis zu tun, das sich um das Bevorstehen eines «Weitendes» kristallisiert hat; die Quelle dieses Erlebnisses, die Verbindung mit den Toten, schließt für den, der seiner teilhaftig wird, die Abschaffung der gegenwärtigen Welt und die (wenn auch nur provisorische) Herbeiführung eines «Durcheinanders» ein, das sowohl den Beschluß des jetzigen kosmischen Zyklus wie die Keime der glorreichen Wiederherstellung eines neuen, paradiesischen Zyklus mit sich bringt. Da die mythischen Visionen von «Anfang» und «Ende» der Zeit gleichbedeutend sind, insofern die Eschatologie, zumindest unter bestimmten Gesichtspunkten, sich mit der Kosmogonie begegnet, konnte das eschalon der «Ghost-dance religion» das mythische illud tempus wiederbringen, wo die Verbindungen mit dem Himmel, dem Großen Gott und den Toten allen menschlichen Wesen offen standen. Vom traditionellen Schamanismus trennte diese mystischen Bewegungen der Umstand, daß sie, wiewohl unter Bewahrung der wesentlichen Elemente schamanischer Ideologie und Technik, für das ganze Indianervolk die Zeit gekommen glaubten, wo ihm der privilegierte Zustand des Schamanen erreichbar war, wo die «leichten Verbindungen» mit dem Himmel wiederhergestellt waren ganz wie am Morgen der Zeit. 

Der südamerikanische Schamanismus: verschiedene Rituale

Der Schamane scheint bei den Stämmen Südamerikas eine ziemlich wichtige Rolle zu spielen36. Er ist nicht nur der Heiler par excellence 

36 A. Métraux, Le shamanisme chez les Indiens de l'Amérique du Sud tropicale, S. 329 ff.: vgl. auch A. Métraux, Shamanism (Handbook of South American Indians, 5. Bd.: The comparative ethnology of South American Indians, Washington 1949, S. 588-599); Schamanismus bei den Randstämmen, ebd., S. 650 ff. (Steward); A. Mé-und in bestimmten Gegenden der Geleiter der Seele des Abgeschiedenen zu seiner neuen Wohnstatt, er ist auch der Mittler zwischen Menschen und Göttern oder Geistern, wobei er sich zuweilen an die Stelle der Priester setzt (z. B. bei den Taino auf den Großen Antillen, den Mojo und den Manasi in Ostbolivien usw.)37, er verschafft den rituellen Verboten Achtung, schützt den Stamm vor den bösen Geistern, zeigt den günstigen Ort für Jagd und Fischfang, vermehrt das Wild38, regiert über die atmosphärischen Erscheinungen39, erleichtert die Geburten40, enthüllt die Zukunft41 usw. Deshalb genießt er bei den südamerikanischen Gesellschaften viel Ansehen und Autorität. Nur die Schamanen können reich werden, d. h. Messer, Kämme, Äxte anhäufen. Sie gelten als Wundertäter (die Wunder haben dann streng schamanischen Charakter: magischer Flug, Schlucken von glühenden Kohlen usw.; Métraux, Le shamanisme..., S. 334). Die Guarani trieben die Verehrung ihrer traux. The social organization of the Mojo and Manasi (Primitve Man 16. 1943, S. 1-30), S. 9-16. (Mojo-Schamanismus), S. 22-28 (Manasi-Schamanismus). Über das Problem der südamerikanischen Kulturkreise s. P. Wilhelm Schmidt. Kulturkreise und Kulturschichten in Südamerika (Zs. für Ethnologie, 45. Bd., 1913, S. 1014 bis 1124); dazu Kritik von Roland Dixon, The building of cultures (Neuyork 1928. S. 182 ff.) und Antwort von W. Schmidt. Anthropos 24, 1929, S. 695-699 und Handbuch der kulturhistorischen Methode der Ethnologie (Münster 1937; italienische Übersetzung: Manuale di Methodologia etnologica, Mailand 1949. S. 58 ff.); vgl. auch Rafael Karsten, The Civilization of the South American Indians (London 1926); John M. Cooper. Areal and temporal aspects of aboriginal South-American Culture (Primitive Man 15, 1942, S. 1-38). Über Ursprung und Geschichte der südamerikanischen Kulturen s. Erland Nordenskiöld, Origin of the Indian Civilization in South America (Comparative ethnographical studies, 9. Bd„ Göteborg 1931, bes. S. 1-76); Paul Rivet, Los origines del hombre americano (Mexico 1943), passim.

37    A. Métraux, Le shamanisme chez les Indiens .... S. 337 ff.

38    Ebd., S. 330 ff.

39    Die Schamanen gebieten den Regengüssen Einhalt, ebd., S. 331 ff. «Die Ipurina-Schamanen schicken ihren Doppelgänger zum Himmel, damit er die Meteore auslöscht, die das Universum in Brand zu setzen drohen»(ebd., S. 332).

40 Nach den Tapirapé und anderen Stämmen können die Frauen kein Kind zur Welt bringen, wenn nicht der Schamane ein Geisterkind in ihren Leib herabsteigen läßt. Bei gewissen Stämmen wird der Schamane gerufen um den Geist zu identifizieren, der sich in dem Kind inkarniert hat, Métraux, a. a. O.. S. 332.

41 Um die Zukunft zu erfahren, zogen sich die Tupinamba-Schamanen «in kleine Hütten zurück, nachdem sie verschiedene Tabus, darunter neuntägige Enthaltsamkeit beobachtet hatten» (ebd., S. 331). Die Geister stiegen herab und offenbarten die Zukunft in Geistersprache. Vgl. auch A. Métraux. La religion des Tupinamba, S. 86 ff. Am Vorabend von Kriegszügen zeigen sich die Träume des Schamanen von besonderer Wichtigkeit. (Métraux, Le shamanisme . . ., S. 331).

Schamanen so weit, daß sie einen Kult für ihre Gebeine hatten; man bewahrte die Überreste besonders mächtiger Zauberer in Hütten und ging sie um Rat fragen, wobei man ihnen Opfergaben brachte42.

Der südamerikanische Schamane kann natürlich wie alle seine Kollegen auch die Rolle des Zauberers spielen; er kann sich z. B. in ein Tier verwandeln und das Blut seiner Feinde trinken. Der Werwolfglaube ist in Südamerika sehr verbreitet (Métraux, Le shamanisme..., S. 335-336). Doch seine religiös-magische Stellung und soziale Autorität verdankt der südamerikanische Schamane mehr den ekstatischen Fähigkeiten als seinem Ansehen als Zauberer, denn diese ekstatischen Fähigkeiten ermöglichen ihm neben seinem Vorrecht zu heilen die mystischen Himmelsreisen, bei denen er unmittelbar mit den Göttern zusammenkommt und ihnen die Gebete der Menschen überbringt. (Manchmal steigt auch der Gott in die Zeremonialhütte des Schamanen herab, so bei den Manasi, wo der Gott auf die Erde niedersteigt, sich mit dem Schamanen unterredet und ihn zum Schluß mit sich in den Himmel entführt, um ihn kurz darauf wieder herabfallen zu lassen, Métraux, ebd., S. 338.)

Als Beispiel für die Übernahme priesterlicher Funktionen durch den Schamanen sei die periodische Gemeinschaftszeremonie der Araukanier, das ngillatun, erwähnt, das die Beziehungen zwischen dem Stamm und Gott neu verstärken soll43. Dabei spielt die macht die Hauptrolle. Sie fällt in Trance und entsendet ihre Seele zum «Himmlischen Vater», um ihm die Wünsche der Gemeinschaft vorzutragen. Die Zeremonie findet öffentlich statt; in früherer Zeit bestieg die macht die Plattform, die auf Sträuchern errichtet war (die reute), und hatte dort durch fortgesetztes Betrachten des Himmels ihre Visionen. Zwei von den Anwesenden erfüllten dabei eine Funktion von deutlich schamanischem Charakter: «Den Kopf mit einem weißen Taschentuch bedeckt, das Gesicht 

schwarz beschmiert, rittlings auf einem Holzpferd sitzend, ein hölzernes Schwert und ihre Pritsche in der Hand treiben sie (diese beiden Pagen) ihr Holzpferd hin und her und schütteln wie wahnsinnig ihre Glocken. (P. House), sobald die macht in Trance fällt. (Man erinnert sich dabei an das «Pferd» des buriätischen Schamanen und die Tänze der Muria auf einem hölzernen Pferd.) Während der Trance der Machi kämpfen andere Reiter gegen die Dämonen und werden böse Geister ausgetrieben44. Wenn die macht wieder zu sich gekommen ist, erzählt sie ihre Himmelsreise und verkündet, daß der Himmlische Vater alle Wünsche der Gemeinde erhört hat. Diesen Worten folgen lange Ovationen und eine allgemeine Begeisterung. Wenn der Tumult sich ein wenig gelegt hat, erzählt man der macht alles, was sich während ihrer Himmelsreise ereignet hat, den Kampf mit den Dämonen, ihre Austreibung usw.

Die Ähnlichkeit dieses araukanischen Rituals mit dem altaischen Pferdeopfer und der Himmelsreise des Schamanen zum Palast Bai Ülgäns ist frappant: beide Male ein periodisches Gemeinschaftsritual, das dem Himmelsgott die Wünsche des Stammes überbringen soll, beide Maie der Schamane in der Hauptrolle und zwar einzig dank seiner Ekstasekraft, die ihm Himmelsreise und direkte Unterredung mit Gott ermöglicht. Selten tritt die religiöse Funktion des Schamanen, die Mittlerschaft zwischen den Menschen und Gott, so klar zu Tage wie bei den Araukaniern und den Altaiern.

Andere Ähnlichkeiten zwischen südamerikanischem und altaischem Schamanismus haben wir bereits erwähnt: das Besteigen einer Plattform, die aus Pflanzen gebildet ist (bei den Araukaniern) oder an mehreren geflochtenen Stricken von der Decke der Zeremonialhütte hängt (bei den Kariben in Holländisch Guayana), die Rolle des Himmelsgottes, das Holzpferd, der rasende Galopp der Mitwirkenden. Ganz wie bei den Altaiern und Sibiriern sind auch gewisse südamerikanische Schamanen Seelengeleiter. Bei den Bakairi ist die Reise ins Jenseits so schwierig, daß ein Toter sie nicht allein machen kann; er braucht dazu jemanden, der den Weg kennt, weil er ihn schon mehrmals gemacht hat, und der Schamane erreicht ja den Himmel in einem Augenblick; für ihn ist, wie die Bakairi sagen, der Himmel nicht höher als ein Haus45. Bei den Manacica führt der Schamane die Seele des Abgeschiedenen zum Himmel, sobald das Leichenbegängnis zu Ende ist. Der Weg ist außerordentlich lang und schwierig: Es gilt einen jungfräulichen Wald zu durchqueren, einen Berg zu ersteigen, über Meere, Flüsse und Sümpfe zu setzen, bis man an das Ufer eines großen Flusses kommt, den man auf einer Brücke überschreiten muß, die von einer Gottheit bewacht wird46. Ohne die Hilfe des Schamanen wäre das alles der Seele niemals möglich.

Die schamanische Heilung

Wie überall ist auch in Südamerika die wesentliche und nur ihm eigene Funktion des Schamanen die Heilung47. Nicht immer hat sie ausschließlich magischen Charakter. Auch der südamerikanische Schamane kennt die medizinischen Kräfte der Pflanzen, verwendet die Massage usw. Aber da nach seiner Meinung die überwiegende Mehrheit der Krankheiten eine Ursache geistiger Art hat - entweder Flucht der Seele oder Einführung eines magischen Gegenstandes in den Körper durch Geister oder Zauberer -, muß er in diesen Fällen zur scha-manischen Heilung greifen.

Die Vorstellung von der Krankheit als Verlust der Seele, die sich verirrt hat oder von einem Geist oder Wiedergänger entführt wurde, ist in der Amazonas- und Andengegend sehr verbreitet3, im tropischen Südamerika dagegen seltener. Trotzdem ist sie auch bei gewissen Stämmen dieses letzteren Gebietes49 und sogar bei den Yaghan des Feuerlandes50 bezeugt. Im allgemeinen tritt diese Vorstellung zusammen mit der Theorie von der Einführung eines magischen Gegenstandes in den Körper des Kranken auf4, die noch weiter verbreitet scheint.

Wenn es die von Geistern oder Toten entführte Seele wiederzufinden gilt, verläßt der Schamane seinen Körper und begibt sich in die Unterwelt oder in die Gegend, wo der Entführer wohnt. So geht er bei den Apinayé ins Land der Toten, die voll Schrecken entfliehen, so daß der Schamane die Seele des Kranken fangen und wieder zum Körper zurückbringen kann. Ein Mythus der Taulipang berichtet von der Suche nach der Seele eines Kindes, die der Mond entführt und unter einem Topf versteckt hat. Der Schamane steigt zum Mond auf, entdeckt nach vielen Wechselfällen den Topf und befreit die Seele des Kindes52. In den Liedern der araukanischen macht ist manchmal von den Mißgeschicken der Seele die Rede; ein böser Geist hat den Kranken über eine Brücke gehen lassen oder ein Toter hat ihn erschreckt53. In bestimmten Fällen begibt sich die macht nicht auf die Suche nach der Seele, sondern fleht sie nur an zurückzukommen und ihre Eltern wieder zu kennen (Métraux, Le shamanisme araucan, S. 331), wie das auch aus anderen Ländern bekannt ist (vgl. z. B. das vedische Indien). Die ekstatische Reise des Schamanen zum Zweck der Heilung zeigt manchmal den Charakter einer verderbten Himmelfahrt, deren Sinn man nicht mehr versteht; so heißt es, daß «für die Taulipang das Ergebnis einer Kur zuweilen von dem Kampf zwischen dem Doppelgänger des Schamanen und dem Zauberer abhängt. Um in das Land der Geister zu gelangen, trinkt der Schamane den Aufguß einer Liane, deren Form an eine Leiter erinnert» (Métraux, Le shamanisme, S. 327). Die Leitersymbolik zeigt den Auffahrtscharakter der Trance an. Doch im allgemeinen wohnen die seelenentführenden Geister oder Zauberer nicht in himmlischen Gegenden. Wie so oft zeigt sich auch beim Taulipang-Schamanen ein Durcheinander von religiösen Ideen, deren Sinn im Begriff ist verloren zu gehen.

Meistens ist die ekstatische Reise des Schamanen unentbehrlich, auch wenn die Krankheit auf Seelenraub durch Dämonen oder Tote zurückgeht. Die schamanische Trance bildet einen Teil der Kur; welche Interpretation der Schamane ihr auch gibt, immer ist seine Ekstase für ihn das Mittel, die genaue Ursache der Krankheit zu finden und die wirksamste Behandlung zu erfahren. Zuweilen führt die Trance zur «Besessenheit» des Schamanen von seinen Hausgeistern (so z. B. bei den Taulipang und den Yekuahá, s. Métraux, Le shamanisme..., S. 322). Doch wie wir bereits gesehen haben, besteht die «Besessenheit» für den Schamanen vielfach darin, daß er in den Besitz all seiner «mystischen Organe» tritt, die in gewissem Grad erst seine wahre und vollständige geistige Persönlichkeit ausmachen. In den meisten Fällen geht die «Besessenheit» nur so weit, daß der Schamane zur Verfügung über seine Hilfsgeister gelangt und daß ihre tatsächliche Anwesenheit eintritt und sich auf jede sinnlich wahrnehmbare Weise manifestiert. Diese vom Schamanen beschworene Anwesenheit führt nicht zur «Trance», sondern zu einem Dialog zwischen dem Schamanen und seinen Hilfsgeistern. Die Wirklichkeit ist indessen noch komplexer, kann sich der Schamane doch selbst in Tiere verwandeln, und manchmal fragt man sich, ob die im Lauf der Sitzung ertönenden Tierschreie den Hausgeistern angehören54 oder nicht vielmehr der Ausdruck für die Etappen der Tierverwandlung des Schamanen selber sind und damit die Offenbarung seiner wahren mystischen Persönlichkeit.

Die Morphologie der südamerikanischen Schamanenkur ist fast überall dieselbe. Sie enthält Räucherungen mit Tabak, Gesänge, Massagen des kranken Körperteils, Feststellung der Krankheitsursache mit Hilfe der Hilfsgeister (hier tritt die «Trance» des Schamanen auf, in der ihm von den Anwesenden manchmal auch andere Fragen gestellt werden) und schließlich das Herausziehen des pathogenen Gegenstands mittels Saugen55. Bei den Araukaniern z. B. wendet sich die machi gleich zuerst an «Gott den Vater», der unbeschadet etwaiger christlicher Einflüsse noch ganz seine archaische Struktur bewahrt hat (so z. B. den Andro-gynismus; er wird angerufen als «Gott Vater, Alte, die du im Himmel bist...», Métraux Le shamanisme araucan, S. 333). Dann wendet sich die macht an Anchimalen, die Frau oder «Freundin» der Sonne, und an die Seelen der verstorbenen machi, «die, von denen gesagt wird, daß sie in den Himmeln sind, und die ihren Blick niedersenken auf ihre Kollegin hienieden» (Métraux, ebd.); sie werden um ihre Fürbitte bei Gott gebeten.

Bei dieser Gelegenheit ist noch auf die Bedeutung der Himmelfahrtsund Luftrittmotive in der Technik der machi hinzuweisen. Kurz nach der Anrufung Gottes und der toten macht verkündet die Schamanin, «daß sie mit ihren Helferinnen, den unsichtbaren machi, zu Pferd steigen wird» (Métraux, S. 334). Während derTrance verläßt ihre Seele den Körper und fliegt durch die Luft (ebd., S. 336). Um die Ekstase zu erreichen, gebraucht die machi einfache Mittel: Tanz, Armbewegüngen, Glockenbegleitung. Während sie tanzt, wendet sie sich an die himmlischen machi um Hilfe bei der Ekstase. «Wenn die Schamanin im Begriff ist, bewußtlos zu Boden zu stürzen, erhebt sie die Arme und beginnt sich um sich selbst zu drehen. Nun tritt ein Mann herzu, der sie stützt und vor dem Fallen bewahrt. Ein anderer Indianer führt einen Tanz namens lankan aus, der sie wieder zum Leben bringen soll» (ebd., S. 337). Man erreicht die Trance durch Schaukeln zuoberst auf der heiligen Leiter (rewe).

Während der ganzen Zeremonie macht man starken Gebrauch vom Tabak. Die machi tut einen Zug und schickt den Rauch zum Himmel, zu Gott. «Ich bringe dir diesen Rauch dar!» sagt sie dabei. Doch «bei keiner Gelegenheit ließ sich feststellen, daß der Tabak ihr zu einem ekstatischen Zustand verhilft» (ebd. S. 339).

Nach den europäischen Reisenden des 18. Jahrhunderts schloß die schamanische Heilung auch die Opferung eines Widders ein; der Schamane riß ihm das zuckende Herz heraus. Heutzutage beschränkt man sich darauf, dem Opfertier einen Schnitt beizubringen. Doch die Mehrzahl der alten und neueren Beobachter stimmt darin überein, daß die machi durch ein Illusionskunststück die Anwesenden glauben macht, daß sie dem Kranken die Brust und den Bauch öffnet und Eingeweide und Leber bloßlegt56. Nach dem Pater Housse «scheint die macht den Körper des Unglücklichen zu öffnen, darin zu wühlen und etwas her-58 Vgl. Métraux, Le shamanisme araucan, S. 339 ff. (nach einem Autor des 18. Jahrhunderts, Nunes de Pineda y Bascunan), 341 ff. (nach Manuel Manequilef und R. P. Housse).

auszuziehen». Darauf zeigt sie die Ursache des Übels, ein Steinchen, einen Wurm, ein Insekt usw. Die «Wunde» schließt sich nach dem Glauben der Leute ganz von selbst. Doch da die übliche Kur die scheinbare Öffnung des Körpers nicht enthält, sondern nur das Saugen des vom Geist angegebenen Körperteils (übrigens manchmal solange, bis Blut austritt) (vgl. ebd., S. 341), wird es sehr wahrscheinlich, daß wir es hier mit einer abirrenden Anwendung der wohlbekannten Initiationstechnik zu tun haben, bei der man auf magische Weise den Körper des Neophyten öffnet, um ihm andere innere Organe zu geben und zur «Wiedergeburt» zu verhelfen. Im Fall der araukanischen Heilung sind die beiden Techniken, Austausch der inneren Organe des Kandidaten und Herausziehen des pathogenen Gegenstands, miteinander vermischt, was sicher dadurch veranlaßt war, daß das Initiationsschema (Tod und Auferstehung mit Erneuerung der inneren Organe) im Untergang begriffen ist.

Wie dem auch sei, auf jeden Fall war diese magische Operation im 18. Jahrhundert von einer kataleptischen Trance begleitet, bei der der Schamane (denn damals war der Schamanismus das Vorrecht der Männer und Homosexuellen und nicht der Frauen) «wie tot» niederfiel (ebd., S. 340). Während seiner Trance stellte man ihm Fragen über den Namen des Zauberers, der die Krankheit hervorgerufen hatte usw. Heutzutage fällt die macht ebenfalls in Trance und man erfährt auf dieselbe Weise Ursache und Heilmittel der Krankheit, doch diese Trance findet nicht unmittelbar nach der «Öffnung» des Körpers des Patienten statt. In gewissen Fällen ist von der erwähnten magischen Operation nichts zu bemerken, nur das Saugen findet nach der Trance gemäß den Anweisungen der Geister statt.

Saugen und Extraktion des pathogenen Gegenstands bleiben immer religiös-magische Operationen. Meistens ist dieser «Gegenstand» übernatürlicher Art und auf unsichtbare Weise durch einen Zauberer, einen Dämon oder einen Toten in den Körper gebracht. Der «Gegenstand» stellt nur die wahrnehmbare Manifestation des «Übels» dar, das nicht von dieser Welt ist. Wie wir bei den Araukaniern gesehen haben, wird dem Schamanen bei seiner Arbeit geholfen und zwar ohne Zweifel von seinen Hausgeistern, aber auch von seinen verstorbenen Mitbrüdern und von Gott selbst. Die Zauberformeln der macht sind sogar von Gott diktiert (Métraux, S. 338). Der Yamana-Schamane, der zum Herausziehen des yekush (des «Übels», das auf magische Weise in den Körper des Patienten gebracht wurde) ebenfalls das Saugen anwendet, kennt trotzdem auch Gebete57. Auch er verfügt über einen yefalchel, einen Hilfsgeist, und ist gefühllos, solange er von diesem besessen ist58. Doch diese Gefühllosigkeit gehört eigentlich mehr zu seinem scha-manischen Zustand, denn er kann barfuß auf dem Feuer spielen und glühende Kohlen verschlucken (Gusinde II, S. 1426) wie seine Mitbrüder in Ozeanien, Nordamerika und Sibirien.

So weist der südamerikanische Schamanismus noch viele außerordentlich archaische Züge auf, nämlich Initiation durch rituelles Sterben und Auferstehen des Kandidaten, Einfügung magischer Substanzen in seinen Körper, Himmelfahrt mit dem Zweck, die Wünsche der ganzen Gesellschaft vor den höchsten Gott zu bringen, schamanische Heilung durch Saugen oder Suche nach der Seele des Kranken, ekstatische Reise des Schamanen zum Geleit der Seele, «geheime Lieder», die von Gott oder von Tieren, vor allem Vögeln, geoffenbart sind. Wir wollen hier kein vergleichendes Gesamtbild aller Fälle geben, in denen der nämliche Komplex wiederkehrt; es sei nur an die Ähnlichkeiten mit den australischen Medizinmännern erinnert (Einfügung magischer Substanzen in den Körper des Kandidaten, Himmelsreise bei der Initiation, Heilung durch Saugen), um die ausnehmende Altertümlichkeit gewisser südamerikanischer Schamanentechniken und -glaubensvorstel-lungen zu zeigen. Wir haben nicht zu entscheiden, ob diese frappanten Ähnlichkeiten darauf zurückgehen, daß die ältesten Schichten Südamerikas wie Australiens die an die äußersten Punkte der bewohnten Erde verschlagenen Reste einer archaischen Menschheit sind, oder ob über die Antarktis direkte Berührungen zwischen Australien und Südamerika stattfanden. Diese letztere Hypothese wird von Forschern wie Mendes Correa, W. Köppers und Paul Rivet59 vertreten. Man denkt 57    M. Gusinde, Die Feuerland-Indianer: Bd. II, Die Yamana (Mödling bei Wien 1937), S. 1417 ff., 1421. Vgl. die Sitzung bei den Selk’nam, dcrs.. Bd. I, Die Selk'nam, S. 757 ff.

58    M. Gusinde, Die Yamana, S. 1429 ff.

59    Vgl. W. Köppers, Die Frage der eventuellen alten Kulturbeziehungen zwischen südlichstem Südamerika und Südostaustralien (23e Congrès International des América-nistes, Neuyork 1930, S. 678-686); über die linguistischen Ähnlichkeiten s. Paul Rivet, Les Australiens en Amérique (Bulletin de la Société de Linquistique de Paris, Paris 1925, 26. Bd., S. 23-65); ders., Los Origenes del hombre americano, S. 116 ff. S. auch W. Schmidt, Der Ursprung der Gottesidee, 6. Bd. (Münster 1935), S. 361 ff. 

jedoch auch an spätere Wanderungen aus dem malaio-polynesischen Raum nach Südamerika60.

Altertümlichkeit des Schamanismus auf dem amerikanischen Kontinent

Die Frage des «Ursprungs» des Schamanismus in den beiden Amerika ist noch weit von ihrer Lösung entfernt. Wahrscheinlich haben sich im Lauf der Zeit eine Reihe religiös-magischer Praktiken an die Glaubensvorstellungen und Praktiken der nord- und südamerikanischen Ureinwohner angebaut. Betrachtet man die Feuerländer als die Abkömmlinge einer der ersten Hinwandererwellen in Amerika, so darf man in ihrer Religion die Survivance einer archaischen Ideologie erblicken, die - von unserem Gesichtspunkt betrachtet - vor allem den Glauben an einen Himmelsgott, schamanische Initiation durch Berufung oder eigenes Streben, Beziehungen zu den Seelen der toten Schamanen und den Hausgeistern (manchmal bis zur «Besessenheit») und die Vorstellung von der Krankheit als Eindringen eines magischen Objekts oder als Seelenverlust sowie die Widerstandsfähigkeit des Schamanen gegen das Feuer enthält. Nun begegnen die meisten von diesen Zügen anscheinend in allen Ländern, ob nun der Schamanismus das religiöse Leben der Gemeinschaft beherrscht (Nordamerika, Eskimo, Sibirien) oder nur ein Element des religiös-magischen Lebens bildet (Australien, Ozeanien, Südostasien). Das legt die Vermutung nahe, daß sich in den 

60 Vgl. Paul Rivet, Les Malayo-Polynésiens en Amérique (Journal de la Société des Américanistes, Neue Serie, Paris 1926, 18. Bd., S. 141-278); Georg Friederici, Zu den vorkolumbischen Verbindungen der Südsee-Völker mit Amerika (Anthropos, 24. Bd., 1929, S. 441-487); Walter Lehmann, Die Frage völkerkundlicher Beziehungen zwischen der Südsee und Amerika (Orientalistische Literaturzeitung, 33. Bd., 1930, S. 322-339); Rivet, l/>s Origines del hombre americano, S. 133 ff.; D. S. Davidson, The question of relationship between the culture of Australia and Tierra del Fuego (American Anthropologist 39, 1937, S. 229-243); James Hornel I, Was there pre-Columbian contact between the peoples of Oceania and South America? (The Journal of the Polynesian Society, 54. Bd., 1945. S. 167-191).

Paul Rivet glaubt vom chronologischen Standpunkt drei Einwanderungen in Amerika unterscheiden zu können, eine asiatische, eine australische und eine melanesisch-polyne-sische. Diese letztere sei weit bedeutender gewesen als die australische. Obwohl sich in Südamerika bis heute noch keine Spuren des paläolithischen Menschen gefunden haben, ist es doch wahrscheinlich, daß die Wanderungen und kulturellen Berührungen zwischen hier und Ozeanien (wenn überhaupt) schon sehr früh stattfanden.

beiden Amerika schon mit den ersten Einwanderungswellen eine bestimmte Form des Schamanismus verbreitet hat, welches auch ihre «Urheimat» gewesen sein mag.

Zweifellos hat der lang dauernde Kontakt zwischen Nordasien und Nordamerika noch lange nach dem Eindringen der ersten Besiedler asiatische Einflüsse ermöglicht61. Nach Tylor, Thalbitzer, Hallowell und anderen hat auch Robert Lowie62 zahlreiche Ähnlichkeiten zwi-

61    Zu dieser Frage gibt es eine umfangreiche Bibliographie; s. Berthold Läufer, Columbus and Cathay, and the meaning of America to the orientalist (Journal of the American Oriental Society, 51. Bd., 1931, S. 87-103) ; B. Frhr. v. Richthofen, Zur Frage der archäologischen Beziehungen zu-ischen Nordamerika und Nordasien (Anthro-Pos, 27. Bd., 1932, S. 123-151); Diamond Jenness, Prehistoric culture waves from Asia to America (Annual Report of the Smithsonian Institution, 1940, Washington 1941, S. 383-396); G. Hatt, Asiatic infiuences in American Folklore (Det Kgl. Danske Videnskabernes Selskab, Hist.-Filol. Medd., 31, Nr. 6. Kopenhagen 1949); Carl Schuster, Joint Marks. A possible index of culture contact between America, Oceania and the Far East (Amsterdam 1951); R. v. Heine-Geldern, Cultural connections between Asia and pre-Columbian America (Anthropos, 45. Bd., 1950, S. 350-352) anläßlich des letzten Internationalen Kongresses der Amerikanisten, der 1949 in Neuyork stattfand und dessen Akten beim Abschluß des vorliegenden Bandes noch nicht veröffentlicht waren. Von Helge Larsen liegt eine Mitteilung vor über sibirische und chinesische Einflüsse in der prähistorischen Kultur von Ipiutak (Westalaska), die vorderhand ins 1. Jh. n. Chr. datiert wird, von Marius Barbeau eine Studie über die «chants mongols et tatars dans l'Amérique préhistorique», von Cari Schuster, Gordon Ekholm, Hélène Martin-Delfour und Heine-Geldern Untersuchungen über die Parallelen zwischen amerikanischen und asiatischen Zeichnungen. Ornamenten und kosmologischen Vorstellungen. Heine-Geldern hat den asiatischen Ursprung der Kunst der amerikanischen Nordwestküste ins Licht gesetzt; er findet das nämliche Stilprinzip bei den Küstenstämmen von Britisch Columbia und Südalaska, im Nonrden von Neu-Irland, in Melanesien und auf bestimmten Denkmälern und Ritualgegcnständen in Borneo, Sumatra und Neu-Guinca und schließlich in der chinesischen Kunst der Chang-Epoche. Nach Ansicht dieses Autors hätte sich dieser Kunststil von China aus einerseits nach Indonesien und Melanesien, andererseits nach Amerika ausgebreitet, und zwar letzteres schon in der ersten Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrtausends. Ein Parallelismus zwischen China und Altamerika, besonders auf Grund der künstlerischen Zeugnisse, wurde schon durch C. Hentzc, Objets rituels, croyances et dieux de la Chine antique et de l'Amérique (Antwerpen 1936), ins Licht gerückt.

62    Robert H. Lowie, Religious ideas and practices of the Eurasiatic and North American areas (Essays presented to C. G. Seligman. London 1934, S. 183-188); vgl. vom selben Verf. On the historical connection between the Old World and the New World beliefs, bes. S. 547 ff. Ein Reisender vom Ende des 17. Jh. beschreibt folgenden finnischen Brauch: Die Bauern erhitzten Steine in einer Schwitzstube, gossen Wasser darauf, blieben einige Zeit darin, damit sich ihre Poren weit öffneten, gingen dann hinaus und warfen sich in einen sehr kalten Fluß. Derselbe Brauch ist im 16. Jh. für Skandinavien bezeugt. Wie Lowie erwähnt, werfen sich auch die Tlingit und die Crow nach einem langen Dampfbad in einen zugefrorenen Fluß, a.a.O,. S. 188. Wie wir unten sehen schen Lappen und amerikanischen Stämmen, besonders denen im Nordosten festgestellt. Speziell die Zeichnungen auf der lappischen Trommel erinnern geradezu erstaunlich an den Bilderschriftstil der Eskimo und der östlichen Algonkin (Lowie, a.a. O., S. 186). Derselbe Forscher hat auf die Ähnlichkeit zwischen dem Gesang des Lappenschamanen und dem der nordamerikanischen Schamanen hingewiesen, die beide von einem Tier, in erster Linie von einem Vogel angeregt sind (ebd S. 187). Doch gibt es dasselbe Phänomen auch in Südamerika, was u. E. neueren eurasiatischen Einfluß ausschließt. Weiter erwähnt Lowie die Ähnlichkeiten zwischen nordamerikanischem und sibirischem Seelenverlust, das schamanische Spiel mit dem Feuer (in Nordasien wie bei vielen nordamerikanischen Stämmen, z. B. den Fox und den Me-nomini), die Erschütterung der Zeremonialhütte63 und das Bauchreden bei Tschuktschen und Crec, Saulteau und Cheynne, und schließlich bestimmte gemeinsame Züge des nordamerikanischen und nordeuropäischen Initiationsdampfbades. Das alles legt nicht nur einen Kulturzusammenhang zwischen Sibirien und westlichem Amerika, sondern darüber hinaus Beziehungen zwischen Amerika und Skandinavien nahe.

Alle diese Elemente begegnen freilich nicht nur in Südamerika (Seelensuche, die heftige Bewegung der Schamanenhütte, Bauchreden, Dampfbad, Unempfindlichkeit gegen das Feuer), sondern gerade die bezeichnendsten (Spiel mit dem Feuer, Dampfbad, das Erschüttern der Zeremonialhütte) sind ebenso in vielen anderen Gegenden (Afrika, Australien, Ozeanien, Asien) bezeugt und zwar gerade in Verbindung mit den altertümlichsten Formen der Magie im allgemeinen und besonders mit dem Schamanismus. Ganz besonders wichtig erscheint uns die Rolle des «Feuers» und der «Hitze» im südamerikanischen Schamanismus. «Feuer» und «mystische Hitze» stehen immer in Zusammenhang mit dem Erreichen eines ekstatischen Zustands, und dieselbe Beziehung findet sich in den archaischsten Schichten der allgemeinen Magie und Religion. Meisterschaft über das Feuer, Unempfindlichkeit werden, bildet das Dampfbad einen Bestandteil der elementaren Techniken zur Vermehrung der «mystischen Hitze». Das Schwitzen hatte zuweilen eine besondere schöpferische Kraft; in zahlreichen mythologischen Traditionen wurde der Mensch von Gott durch starkes Schwitzen erschaffen, vgl. dazu K. Meuli. Scythica (Hermes, 70. Bd. 1935, S. 121-176). S. 133 ff. und 370.

63 Über diesen Komplex s. Regina Flannery. The Gros Venire Shaking Tent (Primitive Man 17, 1944, S. 54-84), S. 82 ff. (vergleichende Studie).

gegen Hitze und damit die «mystische Hitze», welche äußerste Kälte und Gluttemperatur ertragen läßt, ist eine mystisch-magische Kraft, die in Verbindung mit anderen ebenso wunderbaren Eigenschaften (Auffahrt, magischer Flug usw.) das äußere Zeichen dafür darstellt, daß der Schamane den menschlichen Stand überstiegen und schon am Zustand der «Geister» teilhat.

Das mag genügen, um die Hypothese vom neuen Ursprung des amerikanischen Schamanismus in Zweifel zu ziehen. Von Alaska bis zum Feuerland finden wir in großen Zügen immer denselben schamanischen Komplex. Die Wirkung der nordasiatischen und vielleicht ozeanischasiatischen Einströme bestand sehr wahrscheinlich nur in einer Verstärkung und zuweilen teilweisen Abänderung einer schamanischen Ideologie und Technik, die in den beiden Amerika schon weit ausgebreitet und gewissermaßen eingebürgert war.

1

Franz Boas. The Central Eskimo (VI Annual Report of the Bureau of Ethnology, 1884—1885. Washington 1888, S. 399-670), S. 398 ff. Wie sich der Schamane von den Stricken befreit, die ihn fest gebunden halten, bildet eines von vielen parapsychologischen Problemen, welche wir hier nicht anschneiden können. Von unserem Standpunkt aus, welcher der Standpunkt der Religionsgeschichte ist, kennzeichnet die Selbstbefreiung von den Stricken ebenso wie viele andere schamanische «Wunder» die «geistermäßige» Verfassung, die man dem Schamanen kraft seiner Initiation zuschreibt. 

2

Auch Gilgamesch muß auf der Insel des mythischen Ahnen Ut-Napishtim sechs Tage und sechs Nächte hintereinander wachen, um die Unsterblichkeit zu erlangen, und wie der nordamerikanische Orpheus scheitert er; vgl. unser Buch Die Religionen und das Heilige, S. 329 ff.

3

   Vgl. F. E. Clements. Printline concepts of disease, S. 196 f. (Tafel); Métraux. Le shamanisme ..., S. 325.

49 Bei den Caingang. Apinayé, Cocama. Tucuna. Colo, Coheno. Taulipang. Itonama und Uitoto. s. Métraux. S. 325.

50 Vgl. c. B. W. Köppers, Unter Feuerlaud-Indianern (Stuttgart 192-1), S. 72, 172.

4

So z. B. bei den Araukaniern, vgl. Métraux, Le shamanisme araucan, S. 331.

5

   S. z. B. die Beschreibung der Sitzung bei den Karibenstämmen in Guayana (über die es reiches Material gibt) bei Métraux, Le shamanisme chez let Indiens de l'Amérique du Sud tropicale, S. 325 if. (und Anm. 90).