SCHAMANISMUS IN SÜDOSTASIEN UND OZEANIEN

Schamanische Glaubensvorstellungen und Techniken bei den Semang, Sakai und Jatkun

In den Negrito sieht man allgemein die ältesten Einwohner der malaischen Halbinsel. Kari, Karei oder Ta Pedn, das Höchste Wesen der Semang, zeigt alle Kennzeichen eines Himmelsgottes (Kari bedeutet übrigens «Blitz., «Sturm»), doch er ist nicht Gegenstand eines Kults im eigentlichen Sinn; nur im Fall eines Sturmes wendet man sich mit Sühne-Blutopfern an ihn (s. Die Religionen und das Heilige, S. 71 ff.). Der Medizinmann der Semang heißt hala oder balak, ein Wort, das auch die Sakai gebrauchen1. Sobald jemand krank wird, ziehen sich der hala und sein Gehilfe in eine Laubhütte zurück und beginnen zu singen und die cenoi, die «Neffen der Götter» anzurufen2. Nach einiger Zeit steigen aus der Hütte die Stimmen der cenoi selbst empor; der hala und sein Helfer singen und sprechen in unbekannter Sprache, die sie beim Verlassen der Hütte angeblich vergessen haben3. In Wirklich- W. W. Skeat und C. O. Blagden, Pagan Races of the Malay Peninsula (London 1906), II, S. 229 ff.. 252 ff.; Ivor H. N. Evans, Studies in Religion, Folklore and Custom in British North Borneo and the Malay Peninsula (Cambridge 1923, S. 158). Es gibt zwei Klassen von hala: Der snahud, vom Verbum sahud, «beschwören., kann nur die Diagnose stellen, der puteu jedoch außerdem auch heilen; Ivor Evans, Schebesta on the sacerdo-therapy of the Semang (Journal of the Royal Anthropological Institute 1930, 60. Bd., S. 115-125), S. 119. über den hatak vgl. auch Fay-Cooper Cole, The Peoples of Malaysia (Neuyork 1945), S. 67, 73, 108; Maurice Vanoverbergh, Religion and Magie among the Isneg: The Shaman (Anthropos 48, 1953, S. 557-568).

«Kleine Himmelswesen, freundlich und leuchtend; kleine Kinder und Diener der Gottheit., so beschreibt sie Schebesta, Les pygmées, S. 152 ff„ Bei den Urwald-Zwergen von Malaya, Leipzig 1927, S. 216 ff. Diese cenoi dienen als Mittler zwischen dem Menschen und Ta Pedn. Doch sie gelten auch als die Ahnen der Negritos, s. Evans, On the sacerdo-therapy, S. 118; dies., Studies, S. 148. Vgl. auch Ivor Evans, Papers on the Ethnology and Archaeology of the Malay Peninsula (Cambridge 1927), S. 18, 25; Cole, a.a. O., S. 73«

Schebesta. S. 153 ff. Das ist natürlich die «Geistersprache», die spezielle Geheim-spräche der Schamanen. Evans, Studies, S. 159, gibt einige Beschwörungen wieder und transkribiert Gesangstexte (S. 161 ff.) von erstaunlicher Einfachheit. Nach diesem Ver-fasscr wird der hala während der Sitzung von den cinoi beaufsichtigt (S. 160). doch 

keit haben die cenoi durch ihren Mund gesungen. Das Niedersteigen dieser Lichtgeister bekundet sich in der Erschütterung der Hütte (vgl. die Sitzungen der südamerikanischen Schamanen). Sie entdecken die Ursache der Krankheit und geben die Behandlung an, und bei dieser Gelegenheit fällt der hala, wie man glaubt, in Trance (Evans, On the sacerdo-therapy, S. 115).

ln Wirklichkeit ist diese Technik nicht so einfach wie es den Anschein hat. Die konkrete Anwesenheit der cenoi setzt eine Verbindung zwischen dem hala und dem Himmel oder gar dem Himmelsgott voraus. «Wenn es Karei dem Hala nicht eingegeben und wenn er ihm die Worte nicht gelehrt hätte, wie sollte er heilen können?» fragte ein Semang-Pygmäe (Schebesta, a.a. O., S. 152). Die Krankheiten sind ja von Ta Pedn selbst geschickt zur Bestrafung der Sünden der Menschen (Evans, On the sacerdo-therapy, S. 119). Daß zwischen hala und Himmelsgott nähere Beziehungen bestehen als zwischen diesem und den anderen Negrito, geht außerdem daraus hervor, daß die Menri von Kelantan den hala göttliche Kräfte zuschreiben; sie bringen deshalb keine Blutopfer während des Sturmes dar (Evans, On the sacerdo-therapy, S. 121). Der Menri-hala springt während der Zeremonie in die Luft, singt und wirft einen Spiegel und ein Halsband zu Karei hinauf (ebd.), wobei bekanntlich der zeremonielle Sprung die Himmelfahrt symbolisiert.

Doch es gibt noch sicherere Zeichen für die Beziehungen des Pygmäenschamanen zum Himmel: Der halak der Pahang-Negrito hält während der Sitzung Fäden aus Palmblättern oder nach anderen Informationen ganz feine Seile in der Hand. Diese Fäden und Seile reichen bis zu Bonsu, dem Himmelsgott, der über den sieben Stockwerken des Himmels wohnt. (Er lebt dort mit seinem Bruder Teng; in den anderen Stockwerken des Himmels ist niemand.) Der halak ist für die Dauer der Sitzung unmittelbar mit dem Himmelsgott verbunden durch die Fäden oder Seile, die dieser herabläßt und nach der Zeremonie wieder hinaufzieht (Ivor Evans, Papers, S. 20). Und schließlich besteht ein Hauptelement der Heilung in den Quarzkristallen (chebuch), deren Beziehungen zum Himmelsgewölbe und den Himmelsgöttern wir schon erwähnt haben (o. S. 141 ff.). Solche Kristalle kann man direkt von den cenoi bekommen oder auch machen; in diesen magischen die Beschreibung Schebestas erweckt mehr den Eindruck eines Dialogs zwischen dem hala und seinen Hilfsgeistern. 

Steinen wohnen cenoi, welche den Befehlen des hala gehorchen. Man sagt, daß der Heilende in diesen Kristallen die Krankheit sieht, d. h. daß die cenoi, die darin sind, ihm die Ursache und die Behandlung der Krankheit sagen. Aber der hala sieht in den Kristallen auch einen Tiger, der sich dem Lager nähert (Evans, On the sacerdo-therapy, S. 119). Der hala selbst kann sich in einen Tiger verwandeln (Evans, ehd., S. 120; Schebesta, S. 154) ganz wie die bomor auf Kelantan und die Schamanen und Schamaninnen in Malakka4. Diese Vorstellung verrät maiaische Einflüsse. Doch ist nicht zu vergessen, daß der Tiger - der mythische Ahne - in ganz Südostasien als der «Initiant» gilt; er führt die Neophy-ten in den Dschungel um sie einzuweihen (das heißt um sie zu «töten» und wieder «aufzuerwecken»). Er gehört also zu einem höchst archaischen religiösen Komplex.

In einer Negrito-Legende scheint ein altes schamanisches Initiationsszenario erhalten zu sein. Eine große Schlange, Mat Chinoi, wohnt an dem Weg, der zum Palast Taperns (Ta Pedn's) führt. Sie macht die Teppiche für Tapern; es sind schöne Teppiche mit reichen Verzierungen, auf einem Querbalken aufgehängt, und unter diesen Teppichen wohnt die Schlange. In ihrem Bauch befinden sich zwanzig bis dreißig Chinoi-Frauen, die ungemein schön sind, und außerdem eine Menge Kämme und Kopfschmuck usw. Ein Chinoi namens Halak Gihmal («die Schamanenwaffe») lebt auf dem Rücken der Schlange als Wächter ihrer Schätze. Wenn ein Chinoi in den Bauch der Schlange will, unterwirft ihn Halak Gihmal zwei Proben von deutlicher Initiationsstruktur. Die Schlange liegt ausgestreckt unter einem Balken, der sieben Teppiche trägt, und diese Teppiche bewegen sich und gehen fortwährend zusammen und auseinander. Der Chinoi muß schnell hindurch

Jeanne Cuisinier, Danses magiques de Kelantan, S, 38 ff., 74 ff.; über die Rolle des Tigers im malaischen Schamanismus s. u. S. 329. Die Sungkai Sakai glauben auch, daß der Schamane sich in einen Tiger verwandeln kann, s. Evans, Studies, S. 210. Auf jeden Fall wird der Schamane am 14. Tag nach seinem Tod zum Tiger, ebd., S. 211. 

5 Ein bomor belian (das heißt ein Spezialist in der Anrufung des Tigergeistes) aus der Gegend von Kelantan hatte von der Wahnsinnsperiode seiner Initiation nichts behalten als die Erinnerung, daß er im Dschungel herumgeirrt war und einen Tiger getroffen hatte. Er war auf seinen Rücken gestiegen und der Tiger hatte ihn nach Kadang baluk, dem mythischen Ort gebracht, wo die Tigermenschen leben. Er kam nach dreijähriger Abwesenheit zurück und hatte keine epileptischen Anfälle mehr (J. Cuisinier. Danses magiques, S. 5 ff.). Kadang baluk ist natürlich die Buschunterwelt, wo sich die (nicht notwendig schamanischc) Initiation vollzieht.

kommen, um nicht auf den Rücken der Schlange zu fallen. Bei der zweiten Probe muß er sich in eine Tabakbüchse begeben, deren Deckel sich sehr schnell öffnet und schließt. Geht der Kandidat siegreich aus den beiden Proben hervor, so kann er in die Schlange eindringen und darf sich unter den Chinoi-Frauen eine Gattin suchen ( Evans, Studies, S. 151).

Man findet hier wieder das Initiationsmotiv von der Zauberpforte, die sich in einem Augenblick öffnet und schließt, ein Motiv, das wir schon in Australien, Nordamerika und Asien getroffen haben. Denken wir auch daran, daß das Eindringen in ein Schlangenmonstrum einer Initiation gleichkommt.

Bei den Batak auf Palawan, einem anderen Zweig der Pygmäen von Malakka, erreicht der Schamane, balian, die Trance, indem er tanzt, schon das ein Zeichen für indomalaiischen Einfluß. Dieser Einfluß ist noch deutlicher im Totenglauben. Die Seele des Toten bleibt vier Tage bei den Seinen, dann durchmißt sie eine Ebene, in deren Mitte sich ein Baum erhebt. Sie steigt daran hinauf und kommt an den Punkt, wo die Erde den Himmel berührt. Dort befindet sich ein Riesengeist, der nach ihren Taten im Leben die Entscheidung fällt, ob sie weitergehen darf oder ins Feuer geworfen wird. Das Totenreich hat sieben Stockwerke, ist also der Himmel. Der Geist durchsteigt sie eines nach dem andern. Im letzten verwandelt er sich in ein Glühwürmchen6. Siebenzahl und Feuerstrafe sind, wie wir gesehen haben (S. 270 ff.), indischen Ursprungs.

Die beiden anderen prämalaiischen Ureinwohnervölker von Malakka, die Sakai und Jakun, stellen dem Ethnologen viele Probleme7. Was die Religionsgeschichte betrifft, so steht fest, daß der Schamanismus hier eine viel größere Rolle spielt als bei den Semang-Pygmäen, obwohl die Technik im Wesentlichen dieselbe bleibt. Auch hier wieder die runde Laubhütte, in die sich der hala (Sakai) oder der poyang (Jakun, Variante des malaiischen Wortes Pawang) mit seinen Gehilfen begibt, auch hier Gesänge und Beschwörung der Hilfsgeister. Die größere Wichtigkeit dieser letzteren, die man erbt und durch einen Traum gewinnt, deutet auf malaiischen Einfluß. Zuweilen ruft man die Hilfsgeister auf malaiisch an. Im Inneren der Hütte befinden sich zwei kleine 6 F. C. Cole, The Peoples of Malaysia, S. 70 ff.

7 Vgl. Cole, S. 92 ff., 111 ff.; Evans, Studies, S. 208 ff. (Sakai), 264 ff. (Jakun). Versuch einer Definition der religiösen Glaubensvorstellungen der prämalaischen Völker auf der Halbinsel Malakka, der Pygmäen, Sakai und Jakun, bei Skeat und Blagden, Pagan Raies of she Malay Peninsula, 2. Bd., S. 174 ff.

Pyramiden mit Sprossen (Evans, Studies, S. 211 ff.), das Zeichen für eine symbolische Himmelfahrt. Der Schamane legt für die Sitzung eine besondere Kopfbedeckung an, die mit vielen Bändern geschmückt ist (ebd., S. 214) - ein weiteres Zeichen für malaiischen Einfluß.

Die Leichen der Sakai-Schamanen läßt man in dem Haus, wo sie gestorben sind, ohne sie zu bestatten (vgl. Evans, Studies, S. 217). Die puteu der Kenta-Semang werden so beerdigt, daß der Kopf aus dem Grab herausschaut; man glaubt, daß ihre Seele sich nach Osten wendet und nicht nach Westen wie die Seelen der übrigen Sterblichen (Evans, On the sacerdo-therapy, S. 120). Diese Besonderheiten zeigen, daß es sich hier um eine Klasse von privilegierten Wesen handelt, die deshalb auch nach dem Tod ein besonderes Los genießen. Die poyang der Jakun werden nach dem Tod auf Plattformen gelegt, denn «ihre Seelen steigen zum Himmel auf, während die der gewöhnlichen Sterblichen, deren Leiche man beerdigt, in die Unterwelt hinabsteigen » 8.

Schamanismus auf den Andamanen und Nikobaren

Nach den Auskünften Radcliffe-Browns erlangt auf den nördlichen Andamanen der medicine-man (oko-juma, wörtlich Träumer oder «der von den Träumen spricht») seine Macht durch den Kontakt mit den Geistern. Er begegnet den Geistern direkt, im Dschungel oder im Traum. Doch der gewöhnliche Weg zum Kontakt mit den Geistern ist der Tod. Wenn jemand stirbt und wieder ins Leben zurückkehrt, wird er oko-juma. So sah R. Brown einen Mann, der schwer krank war und zwölf Stunden bewußtlos lag. Von einem anderen hieß es, daß er dreimal gestorben und wieder auferstanden sei. Man erkennt in dieser Tradition unschwer das Initiationsschema von Tod und Auferstehung des Kandidaten. Weitere Einzelheiten über Theorie und Technik der Initiation weiß man nicht; die letzten oko-juma waren schon gestorben, als man sie zu Beginn dieses Jahrhunderts objektiv studieren wollte9. Die oko-juma verdanken ihren Ruf der Wirksamkeit ihrer Heilungen 

und ihres Wetterzaubers (denn sie sind es, die die Stürme abwenden). Doch die Behandlung im eigentlichen Sinn besteht in der Empfehlung von Heilmitteln, die ohnehin schon jedermann kennt und benützt. Manchmal schreiten sie auch zur Austreibung der Dämonen, die die Krankheit hervorrufen, oder sie versprechen die Kur auf direkte Weise im Traum vorzunehmen. Die Geister enthüllen ihnen die magischen Eigenschaften verschiedener Dinge (mineralischer Substanzen und Pflanzen). Den Gebrauch von Quarzkristallen kennen sie nicht.

Die Medizinmänner auf den Nikobaren kennen sowohl die Heilung durch «Extraktion» des magischen Gegenstandes, der die Krankheit hervorgerufen hat (ein Stückchen Kohle, ein Sternchen, eine Eidechse), als die Suche nach der von den bösen Geistern entführten Seele. Auf der Insel Car im Nikobaren-Archipel gibt es eine sehr interessante Initiationszeremonie für die künftigen Medizinmänner. Im allgemeinen wird der zum Schamanen bestimmt, der eine kränkliche Natur zeigt. Die Geister der Eltern oder jüngst verstorbener Freunde offenbaren ihre Wahl, indem sie in der Nacht bestimmte Zeichen (Blätter, Hühner mit gebundenen Füßen) usw. im Haus lassen. Wenn der Kranke sich weigert Schamane zu werden, stirbt er. Nach dieser Erwählung bezeichnet eine öffentliche Zeremonie den Beginn des Noviziates. Die Verwandten und Freunde versammeln sich vor dem Haus, in dem die Schamanen den Novizen auf die Erde legen und mit Blättern und Zweigen bedecken; auf den Kopf legen sie ihm Flügelfedern von einem Huhn. (Dieses Einhüllen in Pflanzen ließe sich als symbolisches Begräbnis, die Federn als magisches Zeichen der mystischen Flugkraft deuten.) Wenn der Novize sich wieder erhebt, geben die Anwesenden ihm Halsketten und verschiedenartige Schmuckstücke, die er während seines ganzen Noviziats um den Hals tragen soll; am Ende der Lehrzeit gibt er sie den Eigentümern zurück.

Nun macht man einen Thron, auf dem der Novize von Dorf zu Dorf getragen wird, und gibt ihm eine Art Szepter und eine Lanze, mit der er gegen die bösen Geister kämpfen soll. Einige Tage später wird er von den Schamanenmeistern in den tiefsten Dschungel in der Mitte der Insel gebracht. Einige Freunde begleiten die Schar bis zu einem bestimmten Punkt; in das «Geisterland» dringen sie nicht mit ein, weil die Seelen der Toten erschrecken könnten. Die Geheimunterweisung besteht hauptsächlich in der Erlernung verschiedener Tänze und der 

Fähigkeit, die Geister zu sehen. Wenn sie einige Zeit im Dschungel (im Totenland) zugebracht haben, kehrt der Novize mit seinen Meistern in das Dorf zurück. Der Lehrling tanzt weiterhin die ganze Noviziatszeit jede Nacht mindestens eine Stunde vor seinem Haus. Wenn seine Initiation beendet ist, geben die Meister ihm einen Stock. Sicher gibt es noch eine weitere Zeremonie, bei der er zum Schamanen geweiht wird, doch war darüber keinerlei genaue Angabe zu erhalten 10.

Diese hochinteressante Schamaneninitiation findet sich nur auf der Insel Car, während sie auf dem übrigen Archipel unbekannt ist. Bestimmte Elemente sind sicher archaisch (das Begraben unter Blättern, das sich Zurückziehen ins «Geisterland»), doch viele andere verraten indischen Einfluß (Thron, Lanze, Szepter, Stock) - ein typisches Beispiel von Hybridisierung einer schamanischen Tradition durch die Berührung mit einer hochentwickelten Kultur, in der schon eine sehr komplexe magische Technik vorhanden ist.

Der malaiische Schamanismus

Die Besonderheit des malaiischen Schamanismus liegt in der Beschwörung des Tigergeistes und im Erreichen des lupa-Zustandes, der Bewußtlosigkeit, in der sich die Geister des Schamanen bemächtigen, ihn «besessen» halten und die von den Anwesenden gestellten Fragen beantworten. Ob es sich dabei um eine einzelne Heilung handelt oder um eine Zeremonie zum Schutz der Gemeinschaft vor Epidemien (wie z. B. bei den belian-Tänzen in Kelantan), in beiden Fällen pflegt die malaiische Sitzung die Beschwörung des Tigers zu enthalten, dem in diesem ganzen Raum die Rolle des mythischen Ahnen und damit des Initiationsmeisters zufällt.

Nach dem Glauben der Benua, eines urmalaiischen Stammes, verwandelt sich der poyang am siebten Tag nach seinem Tode in einen Tiger. Will der Sohn seine Kraft erben, so muß er allein bei der Leiche wachen und Wohlgerüche verbrennen. Am siebten Tag erscheint der Abgeschiedene in der Gestalt eines Tigers, der sich auf den Aspiranten werfen will, doch dieser muß ohne das mindeste Zeichen von Angst 

10 George Whitehead, In the Nicobar Islands (London 192-1). S. 128 ff.. 1-17 ff.

mit der Räucherung fortfahren. Darauf verschwindet der Tiger und es erscheinen dafür zwei schöne Geisterfrauen; der Aspirant verliert das Bewußtsein und während der Trance findet die Initiation statt. Die Frauen werden nun seine Hausgeister. Wenn der Sohn des poyang diesen Ritus nicht beobachtete, bliebe der Geist des Toten für immer in dem Körper des Tigers und seine schamanische «Energie» ginge der Gemeinschaft unwiederbringlich verloren". Man erkennt das Szenario einer typischen Initiation mit Einsamkeit im Busch, Wache bei einer Leiche, Mutprobe, schrecklicher Erscheinung des Initiationsmeisters (= mythischen Ahnen), Protektion durch eine schöne Geisterfrau.

Die Sitzung im eigentlichen Sinn findet in einer Rundhütte oder einem magischen Kreis statt; Zweck ist meistens eine Heilung, das Finden verlorener oder gestohlener Sachen oder die Enthüllung der Zukunft. Gewöhnlich bleibt der Schamane während der Sitzung unter einer Decke. Räucherung, Tanz, Musik und Trommelschlagen sind die unentbehrliche Vorbereitung bei jeder malaiischen Sitzung. Die Ankunft des Geistes bekundet sich durch das Zittern einer Kerzenflamme. Man glaubt, daß der Geist sich zuerst in die Kerze begibt, deshalb hat der Schamane die Augen lange auf die Flamme gerichtet und versucht so die Ursache der Krankheit zu entdecken. Die Heilung besteht im allgemeinen im Saugen der kranken Körperteile, doch kann der poyang, wenn er in Trance fällt, auch die Dämonen vertreiben und alle Fragen beantworten, die man ihm stellt12.

Die Beschwörung des Tigers dient zur Anrufung und Inkarnation des mythischen Ahnen, des ersten Großen Schamanen. Der von Skeat beobachtete pawang verwandelte sich wirklich in einen Tiger; er lief auf allen Vieren, brüllte und leckte lange den Körper des Patienten wie eine Tigerin ihre Jungen 13. Die magischen Tänze des belian bomor von Kelantan enthalten unabdingbar die Beschwörung des Tigers, was auch der Grund der Sitzung sein mag14. Der Tanz führt zum lupa-Zustand,   11 T. J. Newbold, Political and Statistical Account of the British Settlements of Malacca (2 Bde., London 1839), II, 387-389; R.O. Winstedt, Shaman, Saiva and Sup. A study of the evolution of Malay Magic (London 1925), S. 44 f.; ders., Kingship and enthronement in Malaya (Journal of the Royal Asiatic Society 1945, S. 134-145),

S. 135 B. («The Malay King as shaman.).

12 Winstedt, Shaman, Saiva and Sufi, S. 96-101.

13 W. W. Skeat, Malay Magic (London 1900), S. 436 ff., Winstedt, Shaman, S. 97 ff.

14 Jeanne Cuisinier, Danses magiques de Kelantan, S. 38 ff., 74 ff. usw.

zur «Vergessenheit» oder «Trance» (von skr. lopa Verlust, Verschwinden), in der der Tänzer das Bewußtsein seiner Persönlichkeit verliert und irgendeinen Geist verkörpert (Cuisinier, a. a. O., S. 34 ff., 80 ff., 102 ff.). Darauf folgen endlose Dialoge zwischen dem Tänzer in Trance und den Anwesenden. Ist die Sitzung wegen einer Heilung einberufen, so benützt der Heiler die Trance um Fragen zu stellen und Ursache und Behandlung der Krankheit zu finden (ebd., S. 69).

Diese magischen Tänze und Heilungen sind anscheinend keine scha-manischen Phänomene im eigentlichen Sinn. Tigerbeschwörung und Besessenheitstrance sind nicht auf die Sphäre der bomor und pawang beschränkt. Auch viele andere Individuen können den Tiger sehen, beschwören oder sich in ihn verwandeln. Was den lupa-Zustand betrifft, so ist dieser im malaiischen Gebiet (z. B. bei den Besissi) einem jeden erreichbar; während der Geisterbeschwörung kann ein jeder in Trance fallen (also «besessen» sein) und auf Fragen antworten15. Dieses mediale Phänomen ist auch für die Batak auf Sumatra sehr bezeichnend. Doch die Ausführungen dieses Buches haben wohl hinreichend gezeigt, daß «Besessenheit» und Schamanismus zwei verschiedene Dinge sind. 

Schamanen und Priester auf Sumatra

Die Religion der Batak auf Sumatra, die stark von indischen Ideen beeinflußt ist (s. o. S. 274 ff.), wird von dem Begriff der Seele (tondi) beherrscht. Die Seele betritt und verläßt den Körper durch die Fontanelle. Der Tod ist in Wirklichkeit der Raub der Seele durch einen Geist (begu); ist der Abgeschiedene jung, so hat ihn eine begu-Frau zum Mann genommen und umgekehrt. Tote und Geister sprechen durch Medien. Schamanen (sibaso, «das Wort») und Priester (datu), wiewohl nach Struktur und religiösem Beruf verschieden, verfolgen dasselbe Ziel, nämlich Verteidigung der Seele (tondi) gegen Raub durch die Dämonen und Sicherung der Unverletztheit der menschlichen Person. Bei den nördlichen Batak ist immer eine Frau sibaso und der Schamanismus im allgemeinen erblich. Hier gibt es keine Unterweisung durch einen Meister; der von den Geistern «Erwählte» empfängt  15 W. W Skeat und C. O. Blagden, Pagan Races of the Malay Peninsula, II. Bd..

S. 307.

unmittelbar von ihnen die Initiation und wird damit fähig zu «sehen» und zu prophezeien oder von einem Geist «besessen» zu sein16, mit anderen Worten sich mit ihm zu identifizieren. Die sibaso-Sitzung findet nachts statt; der Schamane schlägt seine Trommel und tanzt rund um das Feuer, um damit die Geister zu beschwören. Jeder Geist hat seine eigene Melodie und sogar seine eigene Farbe, und wenn der sibaso mehrere Geister anrufen will, legt er ein Gewand mit mehreren Farben an. Ihre Anwesenheit bekundet sich durch Worte in Geheimsprache, «Geistersprache», die der sibaso spricht und die erklärt werden müssen. Das Gespräch geht über Ursache und Behandlung der Krankheit; der begu versichert, daß er die Heilung wirken wird, wenn der Patient bestimmte Opfer darbringt 17.

Der Batak-Priester, datu, ist immer ein Mann und nimmt die höchste soziale Stellung nach dem Häuptling ein. Aber auch er ist Heiler und ruft die Geister in einer Geheimsprache an. Der datu schützt vor Krankheiten und Zauberei; die Heilungssitzung besteht in der Suche nach der Seele des Kranken. Außerdem kann er die in den Kranken eingedrungenen Geister austreiben; er kann auch vergiften, obwohl er nur für einen «weißen Zauberer» gilt. Im Unterschied zum sibaso wird der datu von einem Meister eingeweiht; dabei werden ihm vor allem die Geheimnisse der Zauberei geoffenbart, die in «Büchern» aus Baumrinde aufgeschrieben sind. Der Meister trägt den indischen Namen guru; er legt großen Wert auf seinen Zauberstab, der mit Ahnenfiguren eingelegt ist und ein Loch hat, in dem die Zaubersubstanzen

16 «Besessenheit», ob spontan oder irgendwie verursacht, ist bei den Batak eine häufige Erscheinung. Jeder Beliebige kann Wohnsitz eines begu. d. h. des Geists eines Toten werden, der durch den Mund des Mediums spricht und Geheimnisse offenbart. Die Besessenheit nimmt oft schamanische Formen an: Das Medium nimmt glühende Kohlen und steckt sie in den Mund, tanzt und springt bis zur Raserei usw., vgl. J. Warneck, Die Religion der Batak (Göttingen 1909), S. 68 ff.; T. K. Österreich. Die Besessenheit, S. 261 ff. Doch vermag im Unterschied zum Schamanen das Batak-Medium seinen begu nicht zu beherrschen, sondern hängt von ihm oder einem anderen Toten ab, der es -besessen» halten will. Diese spontane Medialität, welche die religiöse Sensibilität der Batak kennzeichnet, kann man als äffische Nachahmung bestimmter Schamanentechniken betrachten. Über den indonesischen Schamanismus im Allgemeinen s. auch G. A. Wilken, Hel Shamanisme bij de rolken tan den Indischen Archipel ('s Gra-venhage 1887, Sonderdruck aus Bijdragen tot de Taal, Land en Volkenkunde von Neder-landsch Indie, 1887, S. 427-497); A. C. Kruyt, Hei animisme in den Indischen Archipel ('s Gravenhage 1906), S. 44} ff.

17 E. M. Loeb, Sumatra (Wien 1935). S. 80 f.

befestigt sind. Mit diesem Stab beschützt der guru das Dorf und kann er Regen hervorrufen. Die Herstellung eines solchen Zauberstabes ist jedoch außerordentlich kompliziert und es wird dabei sogar ein Kind geopfert; man tötet es mit geschmolzenem Blei, um ihm die Seele herauszureißen und es in einen Geist zu verwandeln, der dem Zauberer gehorcht (Loeb, Sumatra, S. 80-88).

Das alles deutet auf Einflüsse der indischen Magie. Vermutlich stellt dabei der datu den Zauberpriester dar, der sibaso dagegen nur den Ekstatiker, den «Geistermann». Der datu kennt keine mystische Ekstase; er wirkt als Zauberer und «Ritualist», er treibt die Dämonen aus. Auch er geht auf die Suche nach der Seele des Kranken, doch ist diese mystische Reise nicht ekstatisch; seine Beziehungen zur Geisterwelt sind solche der Feindschaft und Überlegenheit, Beziehungen des Meisters zum Knecht. Der sibaso dagegen ist der Ekstatiker par excellence; er lebt im vertrauten Umgang mit den Geistern, er läßt sich «besessen» halten, wird Hellseher und Prophet. Er ist «auserwählt» worden und gegen die göttliche oder halbgöttliche Erwählung kann man nichts tun.

Der dukun bei den Minangkabau auf Sumatra ist Heiler und Medium zugleich. Dieses meist erbliche Amt ist Frauen wie Männern zugänglich. Man wird dukun nach einer Initiation, d. h. nachdem man gelernt hat, sich unsichtbar zu machen und in der Nacht die Geister zu sehen. Die Sitzung findet unter einer Decke statt; nach fünfzehn Minuten beginnt der dukun zu zittern, das Zeichen, daß seine Seele den Körper verlassen hat und sich auf dem Weg zum «Geisterdorf» befindet. Man hört Stimmen unter der Decke. Der dukun verlangt von seinen Geistern, daß sie die flüchtige Seele des Kranken suchen. Die Trance ist nicht echt; der dukun hat nicht den Mut, die Sitzung sichtbar abzuhalten wie sein Batak-Kollege (Loeb, Sumatra, S. 125 f. ). Auch in Nias begegnet der dukun neben anderen Klassen von Priestern und Heilem. Für die Heilung legt er eine besondere Tracht an; er schmückt sich die Haare und wirft ein Stück Stoff über seine Schultern. Auch hier geht die Krankheit im allgemeinen auf den Raub der Seele durch die Götter, Dämonen oder Geister zurück und die Sitzung besteht in ihrer Suche, meistens mit dem Ergebnis, daß die Seele von den «Meerschlangen» geraubt worden ist (Meer als Symbol des Jenseits). Um sie zurückzubringen, wendet sich der Medizinmann an die drei Götter Ninwa, Falahi und 

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Upi und beschwört sie durch Pfeifen solange, bis er Verbindung mit ihnen hat und in Trance fällt. In derselben Gegend gibt es parallel dazu noch ein anderes Mittel, die Verbindung mit den Seelen der Toten. So behauptet ein taula atua, daß er mit seinen toten Brüdern verkehrt; er gibt an, sie deutlich sehen zu können, und wenn die Erscheinung eintritt, verliert er das Bewußtsein (Loeb, The Shaman of Niue, S. 399 ff. ). In diesem Fall offenbaren ihm die Geister seiner Brüder Ursachen und Heilmittel der Krankheit oder daß der Patient zum Tode verurteilt ist. Aber es lebt noch die Erinnerung an eine Zeit, wo der Schamane ausschließlich «von den Göttern besessen» war und nicht wie heute «von den Geistern besessen» (Loeb, ebd., S. 394). Doch wendet der dukun auch das Saugen an, und wenn er die Ursache des Obels gefunden hat, zeigt er den Anwesenden rote und weiße Steinchen1.

Der Mentawei-Schamane führt seine Kur ebenfalls mit Massagen, Reinigungen und Kräutern durch. Doch die wirkliche Sitzung hält sich an das gewöhnliche indonesische Schema: Der Schamane tanzt lange Zeit, dann fällt er bewußtlos zu Boden und seine Seele wird in einem von Adlern gezogenen Boot zum Himmel getragen. Dort bespricht er mit den Geistern die Ursachen der Krankheit (Seelenflucht, Vergiftung durch andere Zauberer) und erhält Heilmittel. Der Mentawei-Schamane gibt niemals Zeichen von «Besessenheit» und kennt keine Austreibung von bösen Geistern aus dem Körper des Kranken 19. Er ist mehr ein Apotheker, der seine Heilkräuter nach einer Himmelsreise findet. Die Trance ist nicht dramatisch; es gibt keinen Dialog mit den Himmelsgeistern zu hören. Der Schamane scheint keine Beziehungen zu den Dämonen, keine «Macht» über sie zu haben.

Eine ähnliche Technik verwendet der Kubu-Schamane (Südsumatra) : Er tanzt, bis er in Trance fällt, und sieht dann die Seele des Kranken als Gefangene eines Geistes oder wie einen Vogel auf einem Baum sitzen (Loeb, Sumatra, S. 286).

Schamanismus auf Borneo und Celebes

Bei den Dusun im Norden von Borneo, die von urmalaischer Rasse sind und die Ureinwohner der Insel darstellen, spielen die Priesterinnen eine Hauptrolle. Ihre Initiation dauert drei Monate. Während der Zeremonie sprechen sie in einer Geheimsprache. Sie legen dabei eine besondere Tracht an: Ein Stück blaue Leinwand bedeckt ihr Gesicht, dazu tragen sie einen kegelförmigen Hut, der mit Hahnenfedern und Muscheln geschmückt ist. Die Sitzung besteht in Tänzen und Gesängen, wobei die Männer sich auf die musikalische Begleitung beschränken. Doch ihre spezielle Technik besteht im Wahrsagen und gehört mehr zur kleinen Magie als zum Schamanismus im eigentlichen Sinn. Die Priesterin hält ein Bambusrohr auf ihrem Finger im Gleichgewicht und sagt: Wenn der und der ein Dieb ist, soll das Rohr diese Bewegung machen usw.20.

Bei den Dajak im Inneren von Borneo gibt es zwei Arten von heilkundigen Zauberern, die daya beruri, im allgemeinen Männer, die sich mit Kuren befassen, und die barich, gewöhnlich Frauen, die Spezialisten in der «Behandlung» der Paddy-Ernten sind. Die Krankheit erklärt man entweder aus der Anwesenheit eines bösen Geistes im Körper oder als Seelenauszug. Die Schamanen beider Klassen haben die ekstatische Fähigkeit, die Seele des Menschen oder die Seele der Ernte zu sehen, auch wenn sie sehr weit geflohen ist. Sie verfolgen die flüchtigen Seelen, fangen sie (in Gestalt eines Haares) und fügen sie wieder in den Körper (oder die Ernte) ein. Ist die Krankheit von einem bösen Geist hervorgerufen, so beschränkt sich die Sitzung auf eine Austreibungszeremonie 21.

Bei den Meer-Dajak trägt der Schamane den Namen manang. Seine soziale Stellung ist hoch; er kommt gleich nach dem Häuptling. Im allgemeinen ist der manang-Beruf erblich, aber man unterscheidet zwei Klassen: solche, die ihre Offenbarung im Traum erhielten und unter den Schutz eines oder mehrerer Geister traten, und solche, die aus

20    Ivor Evans, Studies in Religion, Folk-lore and Custom in British North Borneo, S. 4 ff., 21 ff., 26 ff.

21    H. Ling Roth, Natives of Sarawak and British North Borneo, 2 Bde. (London 1896), I, S. 259-263.

eigenem Willen manang wurden und daher keine Hausgeister haben. Die Qualifikation als manang erhält man aber immer erst nach der Einweihung durch anerkannte Meister (s. o. S. 66). Unter den manang gibt es Männer und Frauen, außerdem geschlechtslose (impotente) Männer, deren rituelle Bedeutung sich sogleich zeigen wird.

Der manang besitzt eine Schachtel mit vielen magischen Gegenständen, vor allem den Quarzkristallen, bata Hau («Lichtstein»), mit denen der Schamane die Seele des Kranken entdeckt. Denn auch hier ist die Krankheit eine Flucht der Seele und das Ziel der Sitzung ihre Entdeckung und Wiedereinfügung in den Körper des Patienten. Die Sitzung findet in der Nacht statt. Man reibt den Körper des Patienten mit Steinen, darauf stimmen die Anwesenden eintönige Gesänge an, während der Ober manang bis zur Erschöpfung tanzt, um die Seele des Kranken zu suchen und anzurufen. Ist die Krankheit schwer, so entkommt die Seele mehrmals den Händen des manang. Sobald der Oberschamane zu Boden gestürzt ist, werfen die Helfer eine Decke über ihn und warten auf das Ergebnis seiner ekstatischen Reise, denn der manang steigt in seiner Ekstase in die Unterwelt hinab, um die Seele des Kranken zu suchen. Schließlich 'fängt er sie, erhebt sich plötzlich mit der Seele des Patienten in der Hand und fügt sie ihm durch den Kopf wieder ein. Die Sitzung heißt belian, und Perham unterscheidet dabei je nach den technischen Schwierigkeiten bis zu vierzehn Abarten. Die Heilung schließt mit einem Hühneropfer22.

In seiner gegenwärtigen Form erscheint der belian der Meer-Dajak als ein recht komplexes und zusammengesetztes religiös-magisches Phänomen. Initiation des manang (das Reiben mit magischen Steinen, das Auffahrtsritual usw.) und bestimmte Elemente der Kur (die Wichtigkeit der Quarzkristalle, das Reiben mit Steinen) deuten auf eine ziemlich altertümliche schamanische Technik, wogegen die Pseudotrance (die man unter der Decke verbirgt) jüngere Einflüsse indo-malaischen Ursprungs verrät. Früher legten alle manang nach ihrer Initiation Frauenkleider an und behielten sie für den Rest ihres Lebens. Heute ist dieser Brauch sehr selten geworden23. Doch trägt eine be- 22 Vgl. Ling Roth. a.a.O., I, S. 265 ff.; Arch. J. Perham, Manangism (Journal of the Straits Branch of the Royal Asiatic Society. Nr. 19, 1887). abgedruckt bei Ling Roth I. S. 271 ff.

23 Ling Roth I, S. 282. Vgl. das Verschwinden der Travestiten und sexuell Invertierten bei den araukanischen Schamanen. A. Métraux, Le chamanisme araulan, S. 315 ff.

sondere manang-Klasse, die manang bali bestimmter Meerstämme (bei den Hügel-Dajak sind sie unbekannt), Frauenkleider und widmet sich denselben Arbeiten wie die Frauen. Manchmal nehmen diese manang sogar einen «Gatten», wenn auch das Dorf lacht. Die Verkleidung und alles, was sie an Veränderungen mit sich bringt, erfolgt auf dreimaligen übernatürlichen Befehl, den man im Traum erhält; sich widersetzen wäre lebensgefährlich24. Diese Zusammenstellung von Elementen trägt deutliche Züge einer weiblichen Magie und matriarchalischen Mythologie, die einst im Schamanismus der Meer-Dajak geherrscht haben müssen; fast alle Geister werden von den manang unter dem Namen Ini, «Große Mutter» angerufen (Ling Roth I, S. 282). Aus dem Fehlen der manang bali im Inneren der Insel geht jedoch hervor, daß dieser ganze Komplex (Verkleidung, sexuelle Impotenz, Matriarchat) von außen gekommen ist, wenn auch in weit zurückliegender Zeit.

Bei den Ngadju-Dajak in Südborneo besorgen die Vermittlung zwischen Menschen und Göttern (besonders den Sangiang) die balian und die basir, Schamanenpriesterinnen und geschlechtslose Schamanenpriester (basir bedeutet «zeugungsunfähig, impotent»). Diese Priester sind echte Hermaphroditen mit weiblicher Kleidung und Gebarung. balian wie basir werden von Sangiang auserwählt; ohne diesen Ruf kann man nicht sein Diener werden, auch wenn man zu den üblichen Ekstasetechniken, Tanz und Trommel, greift. Die Ngadju-Dajak sind hierin sehr genau: Ohne Berufung durch die Gottheit gibt es keine Ekstase. Die Zweigeschlechtigkeit und Impotenz der basir hängt damit zusammen, daß sie als Vermittler zwischen den beiden kosmologischen Ebenen, Erde und Himmel, gelten und daß sie in ihrer Person das weibliche Element (Erde) mit dem männlichen (Himmel) verbinden25. Es handelt sich hier um rituelle Androgynie, die bekannte archaische

24 Ling Roth 1. S. 270 ff. Selten wird ein junger Mann manang bali. Meistens sind es Greise oder kinderlose Männer, angezogen durch die äußerst verlockenden materiellen Verhältnisse. Über Travestiten und Geschlechtswechsel bei den Tschuktschen vgl, Bogoraz. The Chukchee, S. 448 ff. Auf der Insel Rambree an der Küste von Burma nehmen bestimmte Zauberer Frauenkleidung, werden die «Gattin» eines Kollegen und führen diesem eine Frau als zweite Gattin zu, der dann beide Männer beiwohnen, s. Webster, Magic, S. 192. Hier handelt es sich deutlich um rituelle Verkleidung, vollzogen entweder auf göttlichen Befehl oder wegen der magischen Fähigkeiten der Frau.

25 H. Scharer, Die Vorstellungen der Ober- und Unterwelt bei den Ngadju-Dajak von Süd-Borneo (Cultured Indie IV, Januar-April 1942, S. 73-81), S. 78 ff.; ders.. Die Gottesidee der Ngadju-Dajak, S. 39 ff.

Formel für die göttliche Zweieinheit und die coincidentia opposito-rum26. Wie der Hermaphrodismus der basir gründet auch die Prostitution der balian in der Heiligkeit des «Mittlers» und in dem Bedürfnis nach Abschaffung der Polarität.

Die Götter (Sangiang) verkörpern sich in den balian und basir und sprechen unmittelbar durch sie. Doch ist diese Einkörperung keine «Besessenheit». Niemals ergreifen die Seelen der Ahnen oder die Toten von den balian und basir Besitz; sie sind ausschließlich der Gottheit zum Ausdruck Vorbehalten. Die Toten bedienen sich einer anderen Klasse von Zauberern, der tukang tawur. Die Ekstase der balian und basir ist durch Sangiang hervorgerufen oder findet nach den mystischen Himmelsreisen statt, auf denen seine Diener das «Götterdorf» besuchen.

Mehrere Züge sind bemerkenswert: die religiöse Berufung, die einzig von den oberer. Göttern abhängt; der sakrale Charakter des Geschlechtlichen (Impotenz, Prostitution); die bescheidene Rolle der Ekstasetechnik (Tanz, Musik usw.); die Trance, die durch Einkörperung Sangiangs oder mystische Himmelsreise hervorgerufen wird; das Fehlen von Beziehungen zu den Seelen der Ahnen und damit der «Besessenheit». All das kommt zusammen, um den archaischen Charakter dieses religiösen Phänomens zu zeigen. Mögen Kosmologie und Religion der Ngadju-Dajak auch östliche Einflüsse erfahren haben, so handelt es sich bei den balian und basir vermutlich doch um eine altertümliche und bodenständige Form des Schamanismus.

Ein Gegenstück zu den basir der Ngadju-Dajak sind die bajasa («Betrüger») der Toradja. Sie sind im allgemeinen Frauen und ihre spezielle Technik besteht in ekstatischen Himmels- und Unterweltsreisen, die sie im Geist oder in concreto unternehmen können. Eine wichtige Zeremonie ist die momparilangka («sich auf den ehrwürdigen Platz setzen»). Sie dauert drei Nächte hintereinander; die bajasa führt dabei die Seelen der Frauen und Mädchen zum Himmel, um sie zu reinigen; in der dritten Nacht bringt sie sie wieder auf die Erde und fügt sie in ihre Körper ein. Sache der bajasa ist auch die Suche der herumschweifenden Seelen der Kranken; mit Hilfe eines Geistes wuraka (aus der Klasse der Luftgeister) steigt die bajasa auf dem Regenbogen bis zum Haus Pue di Songes und bringt die Seele des Patienten zurück. Sie sucht

26 Vgl. unser Buch Die Religionen und das Heilige, S. 476 ff.

auch die «Seele des Reis» and führt sie wieder zurück, wenn die Ernte welkt und zugrundezugehen droht, weil ihre Seele sie verlassen hat. Doch die ekstatischen Fähigkeiten der bajasa sind nicht auf Reisen in den Himmel und in horizontaler Richtung beschränkt; bei dem großen Fest mompemate führen sie die Seelen der Toten ins Jenseits.

Schon diese wenigen Angaben zeigen, daß die bajasa auf Celebes Spezialistinnen in dem großen Drama der Seele sind. Reinigend, heilend oder seelengeleitend greifen sie nur dort ein, wo es sich um die Verfassung der menschlichen Seele selbst handelt. Bemerkenswert ist, daß ihre Hauptbeziehungen zum Himmel und den Himmelsgeistern gehen. Die Symbolik des magischen Flugs und des Aufstiegs auf dem Regenbogen, der den australischen Schamanismus beherrscht, ist archaisch. Übrigens kennen auch die Toradja den Mythus von der Liane, die einstmals die Erde mit dem Himmel verband und erinnern sich an eine paradiesische Zeit, wo die Menschen ohne Schwierigkeit mit den Göttern verkehrten27.

«Totenboot» und Schamanenboot

Das «Totenboot» spielt im malaiischen und indonesischen Gebiet eine große Rolle und zwar sowohl in den eigentlich schamanischen Praktiken wie bei den Totenbräuchen und Totenklagen. Alle diese Glaubensvorstellungen hängen natürlich einerseits mit der Sitte der Boot- oder Meerbestattung und andererseits mit der Totenmythologie zusammen. Die Sitte, die Toten in Booten auszusetzen, könnte sich aus dunklen Erinnerungen an Wanderungen der Ahnen erklären“; das Boot brächte dann die Seele des Toten in die Urheimat, von der die Ahnen ausgegangen sind. Doch diese allenfallsigen Erinnerungen haben 2 (vielleicht außer bei den Polynesiern) ihren «historischen» Sinn verloren; die «Urheimat» wird zum mythischen Land und der Ozean zwischen ihm und der jetzigen Heimat wird zum Wasser des Todes -eine häufige Erscheinung in der archaischen Mentalität, wo die «Geschichte» dauernd zur mythischen Kategorie umgestaltet wird.

Entsprechende Toten Vorstellungen und -praktiken finden sich audi bei den Germanen29 und den Japanern30. Doch bei den einen wie den anderen und auch im ozeanischen Raum gibt es neben einem im Meer oder unter dem Meer gelegenen Jenseits («horizontaler» Komplex) noch einen vertikalen Komplex, nämlich den Berg als Totenreich31 oder auch den Himmel. (Der Berg ist ja, wie wir uns erinnern, mit einer Himmelssymbolik «beladen».) Im allgemeinen wenden sich nur die Privilegierten (Häuptlinge, Priester und Schamanen, Initiierte usw.) zum Himmel32, die übrigen Sterblichen reisen «horizontal» oder steigen in das unterirdische Infernum hinab. Das Problem des Jenseits und seiner Richtungen ist außerordentlich komplex und nicht einfach mit «Urheimaten» oder Begräbnisformen zu lösen. Letzten Endes haben wir es dabei mit Mythologien und religiösen Vorstellungen zu tun, die zwar nicht immer unabhängig von «materiellen» Sitten und Praktiken sind, aber dennoch die Autonomie geistiger Strukturen besitzen.

Außer dieser Aussetzung der Verstorbenen in Booten gibt es in Indonesien und teilweise auch in Melanesien noch drei wichtige Kategorien religiös-magischer Erscheinungen, die mit dem (wirklichen oder symbolischen) Gebrauch eines Bootes verbunden sind; I. das Boot zur Austreibung von Dämonen und Krankheiten; 2. das Boot, das dem indonesischen Schamanen zur «Reise durch die Luft» dient, 3. das «Geisterboot», das die Seelen der Toten ins Jenseits bringt. Bei den ersten beiden Ritenkategorien spielen die Schamanen die wichtigste Rolle, wenn nicht die alleinige; die dritte besteht zwar in einer Unter-

29 Vgl. W. Golther, Handbuch der germanischen Mythologie (Leipzig 1895), S. 90 ff., 290, 515 (1.; O. Almgren, Nordische Felszeichnungen als religiöse Urkunden (Frankfurt a. M. 1954), S. 191, 321 usw.; O. Hofler, Kultische Geheimbünde der Germanen I (Frankfurt a. M. 1934), S. 196 usw.

30    Alexander Slawik, Kultische Geheimbünde der Japaner und Germanen, S. 704 fl.

31    Hofler, S. 221 ff.; Slawik, S. 687 ff.

32    Mit Beschränkung auf unser Gebiet vgl. W. _f. Perry. Megalithic Culture of Indonesia (Manchester 1918), S. 113 ff. (die Häuptlinge wenden sich nach dem Tod zum Himmel); R. Moss, S. 78 ff, 84 ff. (der Himmel als Ruheort für bestimmte privilegierte Klassen); A. Riesenfeld, The Megalithic Culture of Melanesia (Leyden 1950), S. 654 ff.

weltsfahrt schamanischen Typs, überschreitet jedoch die Funktion des Schamanen. Wie sich sogleich zeigen wird, werden diese «Boote der Abgeschiedenen» mehr beschworen als wirklich benützt und zwar findet ihre Beschwörung bei den Totenklagen statt, die von «Klageweibern» und nicht von Schamanen gehalten werden.

Einmal im Jahr oder gelegentlich einer Epidemie treibt man die Krankheitsdämonen auf folgende Weise aus: Man fängt sie und schließt sie in einer Schachtel oder gleich in dem Boot ein und stößt das Boot ins Meer hinaus, oder man macht viele Holzfiguren, die die Kranken darstellen, und legt sie in ein Boot, das man dem Meer überläßt. Diese im malaiischen Gebiet33 und in Indonesien34 weit verbreitete Praktik wird oft von den Schamanen und Zauberern ausgeführt. Die Austreibung der Krankheitsdämonen bei Epidemien ist wahrscheinlich eine Nachahmung des älteren und allgemeineren Rituals der Austreibung der «Sünden» zu Neujahr, wo man zur Wiederherstellung der gesamten Kraft und Gesundheit der Gemeinschaft schreitet35.

Auch bei der magischen Heilung macht der indonesische Schamane von einem Boot Gebrauch. Im ganzen indonesischen Raum herrscht die Vorstellung von der Krankheit als Seelenfiucht. Meistens gilt die Seele als von Dämonen oder Geistern geraubt und zu ihrer Suche benützt der Schamane ein Boot. So z. B. der balian bei den Dusun; wenn er glaubt, daß die Seele des Kranken von einem Luftgeist gefangen ist, macht er sich ein Miniaturboot, das am einen Ende einen hölzernen Vogel trägt. In diesem Boot macht der Schamane eine ekstatische Reise durch die Luft und schaut dabei nach rechts und links, bis er die Seele des Kranken findet. Diese Technik ist sowohl den Dusun im Norden als denen im Süden und Osten von Borneo bekannt. Der Maangan-Schamane verfügt außerdem über ein ein bis zwei Meter langes Boot, das er in seinem Haus aufbewahrt und das er besteigt, wenn er zu dem Gott Sahor kommen und ihn um seine Hilfe bitten will36.

33 Vgl. z. B. Skeat, Malay Magic (London 1900), 427 ff. usw.; Jeanne Cuisinier, Dansa magiques de Kelantan, S. 108 ff. Derselbe Brauch auf den Nikobaren, vgl. G. Whitehead, a. a. O., Fotografie S. 152.

34 A. Steinmann, Das kultische Schiß in Indonesien, S. 184 ff. (Nordborneo, Suma-tra, Java, Molukken usw.)

35 Vgl. Mircea Eliade, Der Mythos der ewigen Wiederkehr, S. 77 ff.

36 A. Steinmann, S. 190 ff. Das Schamanenboot begegnet auch anderwärts, z. 13. in Amerika (der Schamane steigt in einem Boot in die Unterwelt hinab, vgl. G. Buschan, Illustrierte Völkerkunde, 1. Bd., 1922. S. 134; Steinmann. S. 192).

Der Gedanke einer Bootsreise durch die Luft ist nur eine indonesische Anwendung der schamanischen Technik der Himmelfahrt. Durch die wichtige Rolle des Bootes bei den ekstatischen Jenseitsreisen zum Geleit der Abgeschiedenen in die Unterwelt oder zur Suche der von Dämonen und Geistern geraubten Seele kam der Schamane dazu, das Boot auch dann zu benützen, wenn es galt sich selbst in der Trance zum Himmel zu erheben. Die Fusion oder Koexistenz dieser beiden schamanischen Symbolismen, der horizontalen Jenseitsreise und der vertikalen Himmelfahrt, zeigt sich in dem Vorkommen eines Kosmischen Baums im Schamanenboot. Dieser Baum ist manchmal in der Mitte des Bootes in Gestalt einer Lanze oder einer Leiter dargestellt, die Erde und Himmel verbinde37 - wieder die Symbolik des «Zentrums», die dem Schamanen den Zugang zum Himmel ermöglicht.

In Indonesien geleitet der Schamane den Abgeschiedenen ins Jenseits und zwar benützt er zu dieser ekstatischen Reise oft ein Boot38. Die Dajak-Klageweiber auf Borneo erfüllen, wie wir gleich sehen werden, dieselbe Aufgabe, wenn sie in ihren rituellen Gesängen von der Reise des Toten in einem Boot handeln. In Melanesien besteht außerdem die Sitte, bei der Leiche zu schlafen; im Traum begleitet und führt man die Seele des Abgeschiedenen ins Jenseits und erzählt beim Erwachen die Abenteuer der Reise39. Dieser Brauch läßt sich einerseits mit der rituellen Begleitung des Toten durch den Schamanen oder das Klageweib (Indonesien), andererseits mit den polynesischen Leichenreden vor dem Grab zusammenbringen. Alle diese Bestattungsriten und -bräuche verfolgen auf verschiedenen Ebenen den gleichen Zweck, nämlich die Seele des Toten ins Jenseits zu geleiten. Doch nur der Schamane ist Psychopomp im eigentlichen Sinn, denn er allein begleitet und führt den Toten in concreto.

Jenseitsreisen bei den Dajak

Eine gewisse Beziehung zum Schamanismus haben die Bestattungszeremonien der Meerdajak, obgleich sie nicht von Schamanen ausgeführt werden. Ein berufsmäßiges Klageweib, welches seine Berufung jedoch der Erscheinung eines Gottes im Traum verdankt, rezitiert stundenlang (manchmal zwölf Stunden) die Wechselfälle der Jenseitsreise des Abgeschiedenen. Die Zeremonie findet unmittelbar nach dem Tode statt. Das Klageweib setzt sich neben die Leiche und rezitiert mit eintöniger Stimme ohne die Hilfe eines Musikinstrumentes. Der Zweck dieses Vortrags ist, zu verhindern, daß der Tote sich auf seiner Reise in die Unterwelt verirrt. Das Klageweib spielt die Rolle des Seelengeleiters, obwohl es den Toten nicht selbst begleitet; der rituelle Text gibt nämlich einen sehr genauen Reiseweg an. Zu allererst sucht die Klagefrau einen Boten, der die Nachricht von der baldigen Ankunft eines neuen Toten in die Unterwelt bringt. Umsonst wendet sie sich an die Vögel, die wilden Tiere und die Fische; sie haben nicht den Mut die Grenze zu überschreiten, welche die Lebenden von den Toten trennt. Schließlich übernimmt der Geist des Windes die Botschaft. Er begibt sich auf eine endlose Ebene; er steigt auf einen Baum, um seinen Weg zu suchen, denn es ist dunkel und überall gehen Wege, die zur Unterwelt führen - es gibt 77 × 7 Wege ins Totenreich. Vom Wipfel des Baumes entdeckt der Windgeist den besten Weg und er gibt seine Menschengestalt auf und stürmt wie ein Orkan in die Unterwelt. Die Toten erschrecken über diesen plötzlichen Sturm und fragen ihn nach der Ursache. Der und der ist soeben gestorben, antwortet der Windgeist, und man muß schnell seine Seele abholen. Erfreut springen die Geister in ein Boot und rudern so gewaltig, daß sie unterwegs alle Fische töten. Sie halten mit dem Boot vor der Wohnung des Toten, stürzen sich hinein und ergreifen die Seele, die sich erschrocken wehrt und schreit. Doch bevor sie noch die Ufer der Unterwelt erreicht hat. scheint sie sich schon beruhigt zu haben.

Die Klagefrau beendet ihren Gesang. Ihre Rolle ist erfüllt; indem sie alle Ereignisse dieser beiden ekstatischen Reisen erzählte, hat sie in Wirklichkeit den Toten in seine neue Wohnstatt geführt. Dieselbe Jenseitsreise erzählt die Klagefrau bei der pana-Zeremonie, wenn sie die Speiseopfer für die Toten in die Unterwelt schickt; erst nach dieser pana-Zeremonie werden sich die Abgeschiedenen ihres neuen Zustandes bewußt. Und schließlich ladet die Klagefrau die Seelen der Toten zu dem großen Totenfest Gawei antu, das ein bis vier Jahre nach dem Hinschied gefeiert wird; eine große Menge von Geladenen versammelt sich, und man glaubt, daß die Toten anwesend sind. Der Gesang der Klagefrau beschreibt, wie sie freudig die Unterwelt verlassen, das Boot besteigen und zum Gelage herbeistürzen40.

Offensichtlich haben all diese Bestattungszeremonien keinen scha-manischen Charakter; es gibt - zum mindesten im pana und Gawei antu - keine unmittelbare, mystische Beziehung zwischen dem Toten und der Klagefrau, welche die Reisen ins Jenseits beschreibt. Kurz, wir haben es hier mit einer rituellen Literatur zu tun, die das Schema der Unterweltsfahrten bewahrt, mag es nun schamanisch sein oder nicht. Der Schamane aber, ob im Altai oder anderwärts, führt ebenfalls die Seelen der Toten in die Unterwelt, und, wie wir gesehen haben, ist im ganzen indonesischen Raum das Totenboot, das in den eben erwähnten Totenberichten dauernd vorkommt, ein hervorragendes Mittel zur ekstatischen Schamanenreise. Auch die Klagefrau ist, obwohl sie keine religiös-magische Funktion hat, deswegen nicht etwa eine «profane» Person. Sie ist von einem Gott auserwählt worden und hat Traumoffenbarungen gehabt. Sie ist auf die eine oder andere Weise eine «Seherin», eine «Inspirierte», die in der Vision den Unterweltsreisen beiwohnt und infolgedessen die andere Welt mit ihrer Topographie und ihren Reiserouten kennt. Morphologisch betrachtet steht die Dajak-Klagefrau auf derselben Ebene wie die Seherinnen und Dichterinnen der archaischen indogermanischen Welt. Eine bestimmte Klasse traditioneller Literaturschöpfungen rührt von den «Visionen» und der «Inspiration» dieser von den Göttern auserwählten Frauen, deren Träume und Wachträume mystische Offenbarungen sind.

Schamanismus in Melanesien

Wir wollen hier nicht alle Glaubensvorstellungen und Mythologien zusammenfassen, die in Melanesien den Medizinmännern die ideologische Grundlage für ihre Praktiken geben. Nur soviel sei gesagt, daß sich in Melanesien im Großen dreierlei Kulturen unterscheiden lassen nach den drei ethnischen Gruppen, welche diesen Raum kolonisiert (oder auch nur durchzogen) zu haben scheinen, den eingeborenen Papua, den weißhäutigen Eroberern, welche die Megalithen und andere Kulturformen brachten und nach Polynesien weiterzogen, und den zuletzt gekommenen schwarzhäutigen Melanesiern 41. Die weißhäutigen Einwanderer verbreiteten eine reiche Mythologie mit einem kulturbringenden Heros (Qat, Ambat usw.) im Mittelpunkt, der in direkter Beziehung mit dem Himmel steht, sei es daß er eine Himmelsfee zur Gattin nimmt, aus Vorsicht ihre Flügel stiehlt und versteckt und sie dann bis in den Himmel verfolgt, indem er einen Baum, eine Liane oder eine «Pfeilkette» hinauf klettert, sei es daß er selbst himmlischen

41 A. Riesenfeld, The Megalithic Culture of Melanesia (Leiden 1950), S. 665 ff., 680 usw. In diesem Werk sehr umfangreiche Bibliographie und Kritik der früheren Arbeiten, besonders von Rivers, Deacon, Layard, Speiser. Über die kulturellen Beziehungen zwischen Melanesien und Indonesien s. F. Speiser, Melanesien und Indonesien (Zeitschrift für Ethnologie 1939, Heft 6). Über die Beziehungen zu Polynesien (und zwar in «antihistoristischem» Sinn) s. Piddington in R. W. Williamson und Ralph Piddington, Essays in Polynesian ethnology (Cambridge 1939), S. 302 ff. Über Vorgeschichte und erste Wanderungen der Austronesier, die ihre Megalithkultur und eine spezifische Ideologie (Kopfjagd usw.) von Südchina bis Neu-Guinea ausgebreitet haben, s. umfassend R. v. Heine-Geldern, Urheimat und früheste Wanderungen der Austronesier (Anthropos, 27. Bd.. 1932, S. 543-619). Nach den Untersuchungen von Riesenfeld scheinen die Schöpfer der Megalithkultur in Melanesien aus einem Raum zu kommen, der mit Formosa, den Philippinen und Neu-Celebes umschrieben ist (a.a. O., S. 668).

Ursprungs ist42. Die Mythen von Qat entsprechen den polynesischen Mythen von Tagarao und Maui, deren Beziehungen zum Himmel und den Himmelswesen bekannt sind. Möglicherweise wurde das mythische Thema der «Himmelsreise» von der Papua-Urbevölkerung an die weißhäutigen Einwanderer weitergegeben, doch wäre es müßig, den «Ursprung» dieses (übrigens allgemein verbreiteten) Mythus aus dem historischen Ereignis der Ankunft oder des Abziehens von Einwanderern erklären zu wollen43. Um es noch einmal zu sagen: Anstatt Mythen zu «schaffen» werden die historischen Ereignisse selber mythischen Kategorien eingefügt.

Wie dem auch sei, auf jeden Fall ist in Melanesien neben dem Vorkommen magischer Heiltechniken von unbestreitbarer Altertümlichkeit das Fehlen einer eigentlichen schamanischen Tradition und Initiation festzustellen. Vielleicht geht das Verschwinden schamanischer Initiationen darauf zurück, daß hier die Geheimgesellschaften auf Initiationsgrundlage eine beträchtliche Rolle spielen44. Jedenfalls beschränkt sich die Funktion der Medizinmänner im Wesentlichen auf Heilung und Wahrsagung. Bestimmte andere spezifisch schamanische Fähigkeiten (z. B. der magische Flug) sind das fast ausschließliche Vorrecht der Schwarzmagier. (Übrigens ist nirgends so wie in Ozeanien und besonders Melanesien das, was man im allgemeinen «Schamanismus» nennt, unter eine Vielzahl religiös-magischer Gruppen verteilt, gibt es hier doch Priester, Medizinmänner, Zauberer, Wahrsager, «Besessene» usw.) Und schließlich - ein wichtiges Moment - leben viele Motive der schamanischen Ideologie einzig in Totenmythen und -Vorstellungen weiter. Das Motiv des kulturbringenden Heros, der mittels einer «Pfeilkette» oder Liane mit dem Himmel verkehrt, haben wir bereits erwähnt und werden noch darauf zurückkommen. Bemerkenswert ist auch der Glaube, daß dem Toten bei seiner Ankunft im Toten-

42 Vgl. Riesenfeld, S. 78, 80 ff., 97, 102 und passim

43 Was Riesenfeld in seinem - im übrigen bewundernswerten - Werk anscheinend au beweisen versucht.

44 Das Problem ist au komplex, um es hier in Angriff au nehmen. Unbestreibar besteht eine frappante morphologische Ähnlichkeit zwischen allen Arten von Initiation (Jugendinitiation. Initiation zu Geheimgesellschaften, schamanische Initiation). Nur ein Beispiel: Der Kandidat einer Geheimgesellschaft auf Malekula steigt auf eine Plattform und opfert ein Schwein (A. B. Deacon, Malekula, London 1954, S. 579 ff ): das Ersteigen einer Plattform oder eines Baumes ist aber, wie wir gesehen haben, ein ganz besonderes Charakteristikum schamanistischer Initiationen.

land vom Wächter die Ohren durchstochen werden45. Diese Operation ist aber, wie wir gesehen haben, charakteristisch für die schamanische Initiation.

Auf Dobu, einer Insel im östlichen Neu-Guinea, gilt der Zauberer als «brennend» und ist die Magie mit Hitze und Feuer verbunden, eine Vorstellung, die dem archaischen Schamanismus angehört und noch in hochentwickelten Ideologien und Techniken bewahrt ist (s. u. S. 438 ff.). Deshalb muß der Zauberer seinen Körper «trocken» und «brennend» halten; zu diesem Zweck trinkt er Salzwasser und ißt gewürzte Speisen46. Die Zauberer und Zauberinnen von Dobu fliegen durch die Luft; in der Nacht kann man die Feuerspuren hinter ihnen sehen47. Doch fliegen besonders die Frauen, denn in Dobu sind die magischen Techniken unter die beiden Geschlechter folgendermaßen verteilt: Die Frauen sind die wirklichen Zauberinnen, sie wirken unmittelbar durch die Seele, während ihr Körper im Schlaf liegt, und greifen die Seele des Opfers an (die sie aus dem Körper herausziehen und vernichten können); die Zauberer wirken nur durch Zaubermittel (Fortune, a.a.O., S. 150). Der Strukturunterschied zwischen rituell tätigen Zauberern und Ekstatikern nimmt hier die Gestalt einer Einteilung nach Geschlechtern an.

Auf Dobu wie auch in anderen Gegenden von Melanesien ist die Krankheit durch Zauberei oder durch die Geister der Toten verursacht. Im einen wie im andern Fall ist die Seele des Kranken angegriffen, auch wenn sie nicht aus dem Körper entführt, sondern einfach beeinträchtigt ist. Bei beiden Hypothesen wendet man sich an den Medizinmann, der die Ursache der Krankheit entdeckt, indem er lange in Kristalle oder ins Wasser schaut. Auf Seelenraub schließt man aus bestimmten pathologischen Verhaltungsweisen des Kranken; wenn er deliriert oder von Booten auf dem Meer usw. spricht, so hat seine Seele den Körper verlassen. Im Kristall erblickt der Heiler die Person, die die

45 C. G. Seligman, The Melanesians of British New Guinea (Cambridge 1910), S. 158, S. 273 ff. (Roro), S. 189 (Koita). S. auch Kira Weinberger-Goebel, Melanesi-sche Jenseitsgedanken (Wiener Beiträge zur Kulturgeschichte und Linguistik, 5. Bd., S. 95-124), S. 114.

48 R. F. Fortune, Sorcerers of Dobu (London 1932), S. 295 ff.

47 Fortune, a. a. O., S. 150 ff., 296 usw. Der mythische Ursprung des Feuers aus der Vagina einer alten Frau (ebd., S. 296 ff.) scheint für ein höheres Alter der weiblichen Zauberei gegenüber der männlichen zu sprechen.

Krankheit verursacht hat, ob sie lebendig oder tot ist. Man kauft den Urheber des Zaubers, um seine Feindseligkeit zu brechen, oder man bringt dem Toten Opfer dar, wenn er die Ursache des Leidens ist48. Wahrsagung wird auf Dobu von jedermann geübt, doch ohne Magie (Fortune, S. 155); ebenso besitzt jedermann vulkanische Kristalle, von denen es heißt, daß sie aus eigener Kraft fliegen, wenn man sie sehen läßt, und die den Zauberern zum «Geistersehen» dienen (ebd., S. 298 ff.). Daß es keinen esoterischen Unterricht über diese Kristalle mehr gibt (ebd.), zeigt den Niedergang des männlichen Schamanismus auf Dobu, denn es gibt andererseits einen Unterricht von Meister zu Novize über alles, was bösen Zauber betrifft (ebd., S. 147 ff.).

In ganz Melanesien eröffnet man die Behandlung einer Krankheit mit Opfern und Gebeten an den Geist des Todes, damit er «die Krankheit zurücknimmt». Haben die Familienmitglieder damit keinen Erfolg, so wendet man sich nunmehr an einen mane kisu, einen «Doktor». Dieser entdeckt durch magische Mittel den Toten, der die Krankheit hervorgerufen hat, und bittet ihn die Ursache des Übels zurückzuziehen. Gelingt das nicht, so wendet man sich an einen anderen Doktor. Neben der eigentlichen magischen Kur reibt der mane kisu den Körper des Kranken und nimmt alle Arten von Massagen vor. Auf Ysabel und Florida hängt der Doktor einen schweren Gegenstand an einem Faden auf und sagt die Namen jüngst verstorbener Personen; wenn er an den Urheber der Krankheit kommt, beginnt der Gegenstand sich zu bewegen. Der mane kisu fragt, was für ein Opfer er wolle, einen Fisch, ein Schwein, einen Menschen, und der Abgeschiedene gibt seine Antwort auf die nämliche Weise49. Auf Santa Cruz verursachen die Geister die Krankheiten, indem sie Zauberpfeile werfen, die der Heiler durch Massieren herauszieht (Codrington, S. 197). Auf den Bank-Inseln treibt man die Krankheit durch Massieren oder Saugen aus; der Schamane zeigt darauf dem Patienten ein Stückchen Knochen oder Holz oder ein Blatt und gibt ihm Wasser zu trinken, in das man magische Steine gelegt hat50. Dieselbe Wahrsagemethode wendet der mane kisu noch bei anderen Gelegenheiten an; so fragt man vor der Abfahrt der Fischer einen tindalo (Geist), ob der Fischfang glücklich sein wird, und das Boot antwortet durch Bewegungen (ebd., S. 210). Auf Motlav und anderen Inseln des Bank-Archipels verwendet man zur Entdeckung eines Diebes einen Bambusstab, in dem ein Geist nistet; der Stock richtet sich von selbst gegen den Dieb (ebd.)51.

Außer dieser Klasse von Wahrsagern und Heilem kann auch jeder andere Mensch von einem Geist oder einem Toten besessen sein; er spricht dann mit fremder Stimme und prophezeit. Meistens ist die Besessenheit unfreiwillig; ein Mensch ist mit seinen Nachbarn zusammen und man behandelt diese oder jene Angelegenheit; auf einmal beginnt er zu niesen und zu zittern. «Seine Augen werfen wilde Blicke, seine Glieder verrenken sich, sein ganzer Körper wird von Krämpfen ergriffen, Schaum tritt auf seine Lippen. Und nun hört man aus seinem Mund eine Stimme, die nicht die seine ist, das geplante Unternehmen billigen oder verwerfen. Eine solche Person gebraucht keinerlei Mittel um den Geist zu beschwören; dieser kommt nach ihrem Glauben von selbst über sie; ihr mana beherrscht sie und wenn es wieder fortgeht, bleibt sie völlig erschöpft zurück52

ln anderen Gegenden von Melanesien, z. B. in Neu-Guinea, macht man gerne und in allen Situationen von der Besessenheit durch einen toten Verwandten Gebrauch. Wenn jemand krank ist oder wenn man etwas an den Tag bringen will, nimmt ein Familienmitglied das Bild des Abgeschiedenen, den man um Rat fragen will, auf die Knie oder auf die Schulter und wird von seiner Seele «besessen» 53. Doch stehen diese in Indonesien und Polynesien sehr häufigen Phänomene spontaner Medialität nur in oberflächlicher Verbindung mit dem Schamanis-

51 Der Medizinmann auf Koita, Seligman, S. 167 ff., auf Roro. ebd., S. 278 ff., auf Bartle Bay, S. 591, auf Massim, S. 638 ff, auf Trobriands, S. 682.

52    Codrington, The Melanesians, S. 209 ff. Auf der Insel Lepers glaubt man, daß der Geist Tagaro seine geistige Kraft einem Menschen eingießt, damit dieser Verborgenes entdecken und offenbaren kann, ebd., S. 210. Die Melanesier trennen die Verrücktheit - die ebenfalls Besessenheit durch einen tindalo ist - von der Besessenheit im eigentlichen Sinn, die einen Zweck hat, nämlich etwas Bestimmtes zu enthüllen, ebd.. S. 219. In der Besessenheit verschlingt der Mensch eine große Menge Speisen und beweist seine magischen Kräfte: er ißt brennende Kohlen, hebt riesige Lasten auf und prophezeit, ebd., S. 219.

53    j. G. Frazer, The belief in immortality and the worship of the dead, I. Bd. (London 1913), S. 309.

mus im eigentlichen Sinn. Wir haben sie trotzdem erwähnt, um das geistige Klima zu kennzeichnen, in welchem sich schamanische Technik und Ideologie gebildet haben.

Schamanismus in Polynesien

In Polynesien werden die Dinge noch dadurch kompliziert, daß es hier mehrere Klassen von Spezialisten des Sakralen gibt, alle in mehr oder weniger unmittelbarer Beziehung zu Göttern und Geistern. Im großen gibt es drei Kategorien religiöser Amtsträger, die göttlichen Häuptlinge (ariki), die Propheten (taula) und die Priester (tohunga), doch kommen dazu noch die Heiler, Zauberer, Nekromanten und die plötzlich Besessenen, die alle im Grund so ziemlich dieselbe Technik anwenden, nämlich Kontaktaufnahme mit den Göttern oder Geistern, Inspiration oder Besessenheit durch sie. Wahrscheinlich sind wenigstens einige von diesen religiösen Ideologien und Techniken durch asiatische Ideen beeinflußt, doch die Frage der kulturellen Beziehungen zwischen Polynesien und Südasien ist bei weitem nicht gelöst und kann auf jeden Fall hier außer Betracht bleiben 54.

Vor allem ist zu bemerken, daß der Hauptinhalt der schamanischen Technik und Ideologie, nämlich der Verkehr zwischen den drei kosmischen Zonen entlang einer Achse, die sich im «Zentrum» befindet, sowie die Fähigkeit zu Himmelfahrt und magischem Flug in der poly-nesischen Mythologie reichlich bezeugt ist und heute noch im Volks- glauben über die Zauberer weiterlebt. Dafür hier nur einige Beispiele; auf das mythische Thema der Auffahrt haben wir sowieso noch zurückzukommen. Der Heros Maui, dessen Mythen im ganzen polynesi-schen Gebiet und sogar darüberhinaus begegnen, ist durch seine Himmel- und Unterweltsfahrten bekannt55. Er fliegt auf in Gestalt einer Taube und wenn er in die Unterwelt hinabsteigen will, hebt er den Mittelpfeiler seines Hauses auf und spürt durch die Öffnung den Wind der Unterwelt 56. Zahlreiche andere Mythen und Legenden sprechen von der Himmelfahrt mittels Lianen, Bäumen oder Papierdrachen, und die rituelle Bedeutung dieses Spiels zeigt überall in Polynesien den Glauben an die Möglichkeit einer Himmelfahrt und den dazugehörigen Wunsch57. Schließlich glaubt man von den polynesischen Zauberern und Propheten wie von allen anderen, daß sie durch die Luft fliegen und in einem Augenblick riesige Entfernungen zurücklegen können 58.

Hier ist auch eine Kategorie von Mythen zu erwähnen, die zwar nicht der eigentlichen schamanistischen Ideologie angehört, aber doch ein wesentliches schamanisches Thema behandelt, nämlich der Abstieg eines Helden in die Unterwelt zur Zurückführung der Seele der geliebten Frau. So steigt der Maori-Held Hutu in die Untenveit, um die Prinzessin Pare zu suchen, die sich um seinetwillen umgebracht hat. Hutu trifft die Große Herrin der Nacht, die über das Reich der Schatten herrscht, und erlangt ihre Hilfe; sie sagt ihm den Weg, den er ein-schlagen muß, und gibt ihm einen Korb mit Lebensmitteln, damit er die Unterweltsspeisen nicht anrührt. Hutu findet Pare unter den Schatten wieder und es gelingt ihm, sie mit auf die Erde zu bringen. Der Heros fügt die Seele in Pares Körper und die Prinzessin steht wieder auf. Auf den Marquesas erzählt man die Geschichte von der Geliebten des Helden Kena, die sich ebenfalls umgebracht hatte, weil ihr Liebhaber ihr grollte. Kena steigt in die Unterwelt hinab, fängt die Seele

55 Alle diese Mythen mit reichem Belegmaterial bei Katharina Luomala, Maui-of-a-tbousand-tricks: hit oceanic and european biographerl (Bernice P. Bishop Museum Bulletin Nr. 198, Honolulu, Hawai, 1949). Über das Thema der Auffahrt siehe N. K. Chadwick. Notei on Polynesian Mythology (Journal of the Royal Anthropological Institute. 60. Bd., 1930, S. 425-446).

56 Handy, Polynesian Religion, S. 83. Abstieg in die Unterwelt in Gestalt einer Taube s. bei Chadwick, The Kite: A study in Polynesian tradition (Journal of the Royal Anthropological Institute, 61. Bd„ S. 455-491), S. 478.

57 S. Chadwick, The Kite, passim.

58 Handy, Polynesian Religion, S. 164.

in einem Korb und kehrt auf die Erde zurück. In der Version von Mangaiana geht Kura durch ein Unglück zugrunde und wird durch ihren Gatten aus dem Totenland zurückgebracht. Auf Hawai spricht man von Hiku und Kawelu, deren Geschichte der von Hutu und Pare auf Neuseeland gleicht. Von ihrem Liebhaber verlassen, stirbt Kawelu vor Gram. Hiku steigt an einem Weinstock in die Unterwelt hinab, bemächtigt sich der Seele Kawelus, schließt sie in eine Kokosnuß ein und kommt auf die Erde zurück. Die Wiedereinfügung der Seele in den leblosen Körper geschieht folgendermaßen: Hiku zwingt die Seele in die große Zehe des linken Fußes und erreicht schließlich durch Massieren von Fußsohle und Wade, daß sie sich in das Herz begibt. Vor seinem Abstieg in die Unterwelt hatte Hiku sich vorsichtigerweise den Körper mit ranzigem Öl gesalbt, um wie eine Leiche zu riechen; Kena hatte das nicht getan und war sofort von der Herrin der Unterwelt entdeckt worden (Handy, Polynesian Religion, S. 81 ff.).

Wie man sieht, nähern sich diese polynesischen Unterweltsmythen mehr dem Mythus von Orpheus als dem eigentlichen Schamanismus. Übrigens begegnet das nämliche Motiv auch in der nordamerikanischen Folklore. Immerhin spielt sich die Wiedereinführung der Seele Kawelus nach schamanischer Methode ab und das Einfangen der in die Unterwelt hinabgestiegenen Seele erinnert an das Vorgehen der Schamanen beim Suchen und Fangen der Seelen der Kranken, ob sie nun schon im Totenreich sind oder nur in fernen Gegenden verirrt. Der «Lebendigengeruch» jedoch ist ein weit verbreitetes Folkloremotiv sowohl orpheischer Mythen als schamanischer Unterweltsfahrten.

Doch die Mehrzahl der schamanischen Phänomene in Polynesien sind von speziellerer Art; meistens beschränken sie sich auf Besessenheit durch Götter oder Geister, die im allgemeinen auf Veranlassung des Priesters oder Propheten, doch manchmal auch von selber eintritt. Besessenheit und Inspiration durch die Götter ist die Spezialität der taula, der Propheten, kommt aber auch bei den Priestern vor und ist z. B. auf Samoa und Tahiti allen Familienoberhäuptern erreichbar; der Schutzgott der Familie spricht gewöhnlich durch den Mund ihres lebenden Oberhauptes (Handy, S. 136). Auch die Priester (tohunga), die zwar mehr die rituelle Tradition der Religion repräsentieren, sind von ekstatischen Erlebnissen keineswegs ausgenommen; sie müssen sogar die magischen Künste erlernen. Fomander spricht von zehn «Priesterkollegien» auf Hawai; drei davon sind auf Zauberei spezialisiert, zwei auf Nekromantik, drei auf Wahrsagung, eines auf Medizin und Chirurgie und eines auf Erbauung von Tempeln (Handy, S. 150). For-nanders «Kollegien» waren eher verschiedene Klassen von Experten, doch zeigt diese Information, daß die Priester auch eine Lehre in Magie und Medizin empfingen, was anderwärts das Vorrecht der Schamanen war.

Magische Heilungen werden übrigens ebenso von den taula wie von den tohunga vorgenommen. Wenn der Maori-Priester bei einer Erkrankung gerufen wird, bemüht er sich zuerst den Weg zu entdecken, auf dem der böse Geist der Unterwelt gekommen ist; zu diesem Zweck taucht er den Kopf ins Wasser. Meistens ist der Stengel einer Pflanze der Weg und der tohunga nimmt ihn und legt ihn dem Kranken auf den Kopf; dann sagt er Zaubersprüche, damit der Geist sein Opfer verläßt und in die Unterwelt zurückkehrt (Handy, S. 244). Auch auf Mangareva befassen sich die Priester mit Heilungen. Da die Krankheit meistens durch Besessenheit von einem Gott aus der Familie Viriga hervorgerufen ist, konsultieren die Angehörigen des Kranken unverzüglich einen Priester. Dieser macht ein kleines Boot aus Holz, bringt es in das Haus des Patienten und bittet den göttlichen Geist den Körper zu verlassen und das Boot zu besteigen 59.

Wie schon gesagt ist die Besessenheit durch Götter oder Geister eine Eigenheit der ekstatischen Religion Polynesiens. Solange sie besessen

59 Te Rangi Hiroa (Peter H. Buck). Ethnology oj Mangareva (Bernice P. Bishop Museum Bulletin Nr. 157. Honolulu. Hawai, 1938). S. 475 ff. Doch ist zu bemerken, daß der Name der Priester auf Mangareva taura ist, was dem Wort taula auf Samoa und Tonga, kaula (Hawai) und laua (Marquesas) entspricht, das wie wir gesehen haben die «Propheten» bezeichnet (vgl. Handy, S. 159 ff.). Auf Mangareva wird aber die religiöse Zweiteilung nicht durch das Wortpaar lohunga (Priester) - taula (Prophet), sondern durch das Paar taura (Priester) und akarala (Wahrsager) ausgedrückt, vgl. Honoré Laval. Mangareva. L’histoie ancienne d'un peuple (Braine-Ie-Comte. Belgique-Paris 1938). S. 309 ff Die einen wie die andern sind von den Göttern besessen, doch erhalten die akarala ihren Titel auf eine plötzliche Inspiration hin. welcher eine kurze Weihezeremonie folgt (vgl. Hiroa. Ethnology of Mangareva, S. 446 ff.), während die taura eine lange Initiation in einer marae erfahren (ebd.. S. 1-13). Honoré Laval (a. a. O.. S. 309) und noch andere Autoritäten behaupten, daß es für die akarala keine Initiation gibt, doch hat Hiroa (= Buck) bewiesen, daß die Einsetzungszeremonie (die fünf Tage dauert und bei der der Priester die Götter auffordert im Körper des Neophyten zu wohnen) die Struktur einer Initiation hat. a.a.O.. S. 446 ff. Der große Unterschied zwischen den «Priestern» und «Wahrsagern» besteht in der so stark betonten ekstatischen Berufung der letzteren.

sind, gelten Propheten, Priester und einfache Medien als göttliche Inkarnationen und werden entsprechend behandelt. Die Inspirierten sind gleichsam «Gefäße» der Götter und Geister. Das Maori-Wort waka gibt deutlich zu verstehen, daß der Inspirierte den Gott in sich trägt wie ein Boot seinen Eigentümer (Handy, a. a. O., S. 160). Und zwar äußert sich die Einkörperung des Gottes oder Geistes auf ähnliche Weise wie überall; auf eine Vorstufe mit ruhiger Konzentration folgt ein Zustand der Raserei, in dem das Medium mit Kopfstimme spricht, wobei es jedoch von Krämpfen unterbrochen wird. Seine Worte sind Orakel und entscheiden über die Unternehmungen. Denn mit Hilfe der Medien wird nicht nur das von dem betreffenden Gott gewünschte Opfer erfragt, man hält solche Sitzungen auch bevor man einen Krieg beginnt oder auf eine lange Reise geht usw. Auch Ursache und Behandlung einer Krankheit oder den Schuldigen bei einem Diebstahl entdeckt man auf dieselbe Weise.

Es hat keinen Sinn hier die Beschreibungen zu wiederholen, mit denen die ersten Reisenden und die Ethnologen zur Phänomenologie der polynesischen Inspiration und Besessenheit beigetragen haben. Die klassischen Beschreibungen findet man bei W. Mariner, Ellis, C. S. Stewart usw. 60. Nur soviel sei festgehalten, daß die Mediensitzungen zu privatem Zweck in der Nacht stattfinden 61 und sich weniger wild gebärden als die großen öffentlichen Sitzungen, die bei Tag gehalten werden und zur Erkundung des Willens der Götter dienen. Der Unterschied zwischen einem spontan und zeitweilig «Besessenen» und einem Propheten beruht darin, daß der Prophet immer von dem nämlichen Gott oder Geist «inspiriert» ist und ihn sich freiwillig einkörpern kann. Zur Weihe eines neuen Propheten schreitet man nur nach einer offiziellen Echtheitserklärung des Gottes oder Geistes, der ihn beherrscht; man stellt

60 Seancen auf Tahiti: William Ellis, Polynesian Researches (London 1831) I, S. 373 f., Zuckungen, Schreie, unverständliche Worte, welche die Priester interpretieren müssen usw,; Gesellschaftsinseln: Ellis, ebd., I, S. 370 ff., J. A. Moerenhout, Voyages aux îles du Grand Océan (Paris 1837), I, S. 482; Marquesas: C. S. Stewart, A visit to the South Seas (Keuyork 1831) I, S. 70; Tonga: W. Mariner, An account of the natives of Tonga Islands (Boston 1820) I, S. 86 (f., 101 ff. usw.; Samoa, Hervey-Islands: Robert W. Williamson. Religion and Social Organization in Central Polynesia (hrsg. V. R. Piddington, Cambridge 1937), S. 112 ft.; Mangareva: Te Rangi Hiroa, a. a. O., S. 444 ff

61 S. die Beschreibung einer dieser Sitzungen bei Handy, The native culture in the Marquesas (Bernice P. Bishop Museum Bulletin Nr. 9, Honolulu 1923), S. 265 ff.

ihm Fragen und er muß Orakel geben 62. Er wird erst dann als taula oder akarata anerkannt, wenn er die Echtheit seiner ekstatischen Erlebnisse unter Beweis gestellt hat. Ist er der Repräsentant (oder besser die Verkörperung) eines großen Gottes, so werden sein Haus und er selbst ta pu und erfreut er sich eines hohen sozialen Rangs, der den des politischen Oberhauptes an Ansehen erreicht oder sogar übertrifft. Zuweilen zeigt sich die Einkörperung eines großen Gottes durch übernatürliche Zauberkraft; so kann z. B. der Prophet auf den Marquesas einen Monat lang fasten, unter dem Wasser schlafen und Dinge sehen, die sich in weiter Entfernung abspielen usw. (Ralph Linton, a.a.O., S. 188).

Zu diesen Hauptklassen von religiös-magischen Personen kommen noch die Zauberer oder Nekromanten (tahu, kahu usw.), deren Spezialität ein Hilfsgeist («Hausgeist») ist, den sie sich aus der Leiche eines verstorbenen Freundes oder Verwandten herausziehen 63. Sie sind heilkundig wie die Propheten und Priester; man konsultiert sie auch, um Diebe zu entdecken (z. B. auf den Gesellschaftsinseln), obwohl sie sich oft für Schwarze Künste hergeben. (Auf Hawai kann der kahu die Seele seines Opfers vernichten, indem er sie zwischen seinen Fingern zerdrückt, Handy, S. 236; auf Pukapuka sieht der tangala wotu die Seelen, die während des Schlafs herumschweifen, und tötet sie, weil sie vielleicht dabei sind Krankheiten zu verursachen (s. Beaglehole, S. 326). Der wesentliche Unterschied zwischen Zauberern und Inspirierten besteht darin, daß die Zauberer nicht von den Göttern oder Geistern «besessen» sind, sondern im Gegenteil einen Geist zur Verfügung haben, der für sie die eigentliche magische Arbeit tut. Auf den Marquesas z. B. macht man einen deutlichen Unterschied zwischen 1. Ritualpriestern, 2. inspirierten Priestern, 3. von Geistern Besessenen - und

4. Zauberern. Auch die «Besessenen» haben fortgesetzte Beziehungen zu bestimmten Geistern, doch diese Beziehungen übertragen ihnen keine magischen Kräfte. Diese sind das ausschließliche Monopol der Zauberer, die von den Geistern auserwählt sein oder ihre Macht durch

62 Für Mangareva s. Te Rangi Hiroa, a.a.O., S. 4-1-1 ; für die Marquesas Ralph Linton in Abraham Kardiner, The Individual and bis Society (Neuyork 1939), S. 187 ff.

63 Über die Zauberer und ihre Kunst s. Handy, Polynesian Religion (Hawai. Marquesas), S. 255 ff.; Williamson, a.a.O.. S. 23.8 ff. (Gesellschaftsinseln); Te Rangi Hiroa, S. -173 ff. (Mangareva); Beaglehole. S. 326 (Pukapuka) usw.

Studium erreichen können oder durch die Ermordung eines nahen Verwandten, dessen Seele ihr Diener wird. (R. Lincoln, S. 192).

Schließlich werden bestimmte schamanische Kräfte auch durch Erbschaft innerhalb bestimmter Familien weitergegeben. Das berühmteste Beispiel ist die Fähigkeit, auf glühenden Kohlen oder zur Weißglut erhitzten Steinen zu gehen, die bestimmten Fidschi-Familien Vorbehalten ist 64. Die Echtheit dieser Unternehmungen steht außer Zweifel; viele gute Beobachter haben dieses «Wunder» beschrieben und zwar mit allen erdenklichen Garantien für Objektivität. Mehr noch, die Fidschi-Schamanen können den ganzen Stamm und sogar Fremde gegen Feuer unempfindlich machen. Dasselbe Phänomen wurde auch anderwärts verzeichnet, so z. B. im südlichen Indien 65. Wenn man bedenkt, daß die sibirischen Schamanen glühende Kohlen verschlucken sollen, daß «Hitze» und «Feuer» magische Attribute aus den altertümlichsten Schichten der primitiven Gesellschaften sind und daß analoge Erscheinungen in den höheren magischen Systemen und den asiatischen Kontemplationstechniken (Yoga, Tantrismus usw. ) auf-treten, so ist der Schluß erlaubt, daß die «Macht über das Feuer» gewisser Fidschi-Familien von Rechts wegen dem echten Schamanismus zugehört. Diese Macht ist übrigens nicht auf die Fidschi-Inseln beschränkt. In geringerer Intensität und bescheideneren Ausmaßen war die Unempfindlichkeit gegen das Feuer bei zahlreichen Propheten und Inspirierten in Polynesien zu belegen.

Diese Feststellungen führen uns insgesamt zu dem Schluß, daß in Polynesien die eigentlichen schamanischen Techniken mehr sporadisch auftreten («fire-walking ceremony» auf den Fidschi-Inseln, magischer Flug von Zauberern und Propheten usw.), während die schamanische Ideologie einzig in der Mythologie vorhanden ist (Himmelfahrt, Abstieg in die Unterwelt) und noch halb vergessen in gewissen Zeremonien überlebt, die jedoch im Begriff sind, zum bloßen Spiel zu werden (Papierdrachenspiel). Die Konzeption der Krankheit ist nicht die eigentlich schamanische (Seelenflucht); die Polynesier schreiben die

64 Vgl. z. B. W. E. Gudgeon. The Umu-ti, or Fire-walking Ceremony (The Journal of the Polynesian Society 8. 1899) und andere Abhandlungen, ausgezeichnet analysiert hei E. de Martino, Il mundoo magico (Turin 19-18), S. 29 ff. Über den Schamanis-mus auf den Fidschi-Inseln s. B. Thompson, The Figianss (London 1908). S. 158 ff.

65 Vgl. Olivier Leroy. Let Hammes Salamandres. Sur l'incombustibilité du corps humain (Paris 1931), passim.

Krankheit der Einführung eines Gegenstandes durch einen Gott oder Geist oder der Besessenheit zu und die Behandlung besteht im Herausziehen des magischen Gegenstandes oder in der Austreibung des Geistes. Einführung wie Extraktion eines magischen Gegenstandes sind Bestandteil eines anscheinend archaischen Komplexes. Doch ist in Polynesien die Heilung nicht ausschließliches Vorrecht des Medizinmanns wie in Australien und anderwärts; die außerordentliche Häufigkeit der Besessenheit durch Götter und Geister hat die Heilkundigen sehr vermehrt. Priester, Inspirierte, Medizinmänner, Zauberer, sie alle können, wie wir gesehen haben, die magische Kur vornehmen. Durch die Leichtigkeit und Häufigkeit der quasi medienhaften Besessenheit wurden in der Tat Rahmen und Funktion der «Spezialisten des Sakralen» nach allen Seiten gesprengt; vor dieser kollektiven Medientätigkeit mußte die traditionalistische und ritualistische Institution des Priesters von sich aus ihr Verhalten ändern. Einzig die Zauberer leisteten der Besessenheit Widerstand und wahrscheinlich haben wir die Reste archaischer schamanischer Ideologie in den Geheimüberlieferungen dieser Klasse zu suchen 66.

65 Den afrikanischen Schamanismus haben wir beiseite gelassen, die Darstellung der schamanischen Elemente in den verschiedenen Religionen und religiös-magischen Techniken Afrikas hätte uns zu weit geführt. Auch wollten wir lieber die gesamte Veröffentlichung der Expeditionsergebnisse Marcel Griaules und seiner Equipe in Französisch Westafrika abwarten, nachdem die bisher veröffentlichten Bände, besonders Dieu d'Eau von Marcel Griaule (Paris 1949). ein geistiges Universum von erstaunlichem Reichtum enthüllten (vgl. auch G. Dieterlen, Les Arnes des Dogon, 1941; S. de Ganay, Let Deiises des Dogon, 1941). Über den afrikanischen Schamanismus s. Adolf Friedrich. Afrikanische Priesiertiimer (Stuttgart 1939). S. 292-323; S. F. Nadel, A study of shamanisme in the Suba Mountains (Journal of the Royal Anthropological Institute. 76. Bd.. 1946, S. 25-^7); über die verschiedenen magischen Ideologien und Techniken vgl. E. E. Evans-Pritchard, Witchcraft, Oracles and Magic among the Azande (Oxford 1937); H. Baumann. Likundu. Die Sektion der Zauberkraft (Zeitschrift für Ethnologie, 60. Bd.. 1928, S. 73-83); C. M. N. White, Witchcraft, Divination and Magic among the Baiovale Tribes (Africa, 18. Bd., S. 81-104) usw.

1

Loeb, Sumatra, S. 155 ff.; ders., The shaman of Niue (American Anthropologist, 26. Bd., 1924, S. 393-402); ders.. Shaman and Seer (ebd., 31. Bd., 1929, S. 60-84). 19 Loeb, Sumatra, S. 198 ff.; Shaman and Seer, S. 66 ff.

2

Adriani und Kruyt, De Baree-sprekende Toradja's van Midden-Celebes I-II (Batavia 1912), bes. I, S. 361 ff., II, S. 109-146. und die lange Zusammenfassung von H. H. Juynboll, Religionen der Naturvölker Indonesiens (Archiv für Religionswissenschaft, 17. Bd., 1914. S. 582-606), S. 583-588.

28 Vgl. Rosalind Muss. The Life after Death in Oceania and the Malay Archipelago (Oxford 1925), S. 4 ff., 23 ff. usw. Über die Beziehungen zwischen Bestattungsformen und Vorstellungen von dem Leben nach dem Tode in Ozeanien s. auch Frazer, The fear of the dead in primitive religion. 1. Bd., London 1933, S. 182 ff; Erich Doert, Betlar-lungsformen in Océanien (Anthropos, 30. Bd-, 1935. S. 369-420; 727-765); Carla van Wylick, Bestattungsbrauch und jenseitsglaube auf Celebes (Diss. Basel 1940). s Gravenhage 1941.