Vorbemerkungen
Wie alle anderen Völker hatten auch die Indogermanen ihre Magier und Ekstatiker, und wie überall erfüllten diese Magier und Ekstatiker im Rahmen des religiösen Lebens eine wohldefinierte Funktion. Dar-überhinaus hatte sowohl der Magier wie der Ekstatiker mitunter sein mythisches Vorbild; so sah man in Varuna einen «Großen Zauberer» und in Odin (unter vielem anderen!) einen Ekstatiker besonderer Art. Wodan, id est furor, schrieb Adam von Bremen - eine lapidare Definition, in der man schamanisches Pathos erkennen zu können glaubt.
Berechtigt uns das, von einem indogermanischen Schamanismus zu sprechen, wie man von einem altaischen oder sibirischen Schamanismus spricht? Die Antwort hängt zum Teil davon ab, welche Bedeutung man dem Terminus «Schamanismus» zuteilt. Begreift man unter diesem Wort ein jedes ekstatisches Phänomen, eine jede magische Technik, dann wird man natürlich viele «schamanische» Züge bei den Indogermanen finden, wie übrigens, um es noch einmal zu sagen, auch bei jeder anderen Volks- und Kulturgruppe. Wenn wir die gewaltige Fülle der Zeugnisse magisch-ekstatischer Techniken und Ideologien bei den Indogermanen auch nur summarisch behandeln wollten, bedürfte das eines eigenen Bandes und vielseitiger Kompetenz. Zum Glück haben wir aber mit diesem Problem nichts zu tun, da es den Gegenstand dieses Buches in jeder Hinsicht überschreitet. Unsere Aufgabe besteht in der Untersuchung der folgenden Frage: In welchem Maß bewahren die verschiedenen indogermanischen Völker die Spuren einer schamanischen Ideologie und Technik im strengen Sinn, d. h. mit einigen ihrer wesentlichen Kennzeichen: Himmelfahrt; Unterweltsfahrt zur Zurückführung der Seele des Kranken oder zum Geleit der Abgeschiedenen; Anrufung und Einkörperung der «Geister» zum Zweck der ekstatischen Reise, «Meisterschaft über das Feuer» usw.?
Derartige Spuren bestehen bei fast allen indogermanischen Völkern und wir werden sie sogleich untersuchen. Ihre Zahl ist wahrscheinlich noch größer, denn wir wollen keineswegs behaupten, das Material ausgeschöpft zu haben. Doch zuvor noch zwei Bemerkungen: Wie wir schon anläßlich anderer Völker und Religionen sagten, ist das Vorkommen eines oder mehrerer schamanischer Elemente in einer indogermanischen Religion noch nicht genug, um diese Religion als vom Schamanismus beherrscht und schamanisch strukturiert zu betrachten. Zweitens gilt es festzuhalten, daß bei hinreichender Unterscheidung zwischen dem Schamanismus und anderen Magien und «primitiven» Ekstasetechniken die schamanischen Überlebsei, die sich in einer «entwickelten» Religion da und dort aufspüren lassen, keineswegs negativ gewertet werden müssen, weder für sich selbst noch in Hinblick auf das religiöse Ganze, dem sie sich einfügen. Man muß diesen Punkt besonders betonen, da die moderne ethnographische Literatur den Schamanismus gern als eine Verirrung behandelt, sei es daß man ihn mit «Besessenheit» verwechselt oder daß man sich darin gefällt ihn in seinen Degenerationserscheinungen vorzuführen. Wie das vorliegende Werk mehr als einmal gezeigt hat, erscheint der Schamanismus in vielen Fällen in einem Zustand der Auflösung, doch nichts gibt einem das Recht, in dieser Spätphase das Phänomen des Schamanismus repräsentiert zu sehen.
Noch auf eine andere Gefahr ist hinzuweisen, der man sich aussetzt, wenn man statt einer «primitiven» Religion die Religion eines Volkes zu studieren beginnt, dessen Geschichte ungleich reicher an kulturellem Austausch, an Neuerungen und Neuschöpfungen ist. Man läuft Gefahr zu verkennen, was die «Geschichte» aus einem archaischen religiös-magischen Schema gemacht, in welchem Maß sie dessen geistigen Gehalt verwandelt und umgewertet hat und will daraus immer noch dieselbe «primitive» Bedeutung- ablesen. Ein Beispiel mag zur Illustrierung genügen. Bekanntlich gehören zu vielen schamanischen Initiationen «Träume», in denen der künftige Schamane sich durch Dämonen und Seelen von Toten gefoltert und in Stücke geschnitten sieht. Nun begegnen ähnliche Szenarios in der christlichen Hagiographie und zwar besonders in der Legende von den Versuchen des heiligen Antonius: Dämonen foltern und schlagen den Heiligen und zerschneiden ihn in Stücke, heben ihn hoch in die Luft usw. Im Endeffekt kom-
men solche Versuchungen einer «Initiation» gleich, denn durch sie überschreiten die Heiligen den menschlichen Stand und sondern sich von der Masse der Profanen. Doch mit ein wenig Scharfblick wird man den Unterschied des geistigen Gehaltes bemerken, welcher die beiden «Initiationsschemata» trennt, so benachbart sie auch auf typologischer Ebene erscheinen mögen. Die dämonischen Folterungen eines christlichen Heiligen durch die Teufel lassen sich ziemlich leicht von denen eines Schamanen unterscheiden, doch leider wird die Unterscheidung schon schwieriger, wenn das Gegenstück zu dem Schamanen ein Heiliger einer nichtchristlichen Religion ist. Nun ist nicht zu vergessen, daß ein archaisches Schema seinen geistigen Gehalt immer wieder zu erneuern vermag. Wir sind bisher schon einer erheblichen Zahl scha-manischer Himmelfahrten begegnet und werden noch weitere anführen; wir haben gesehen, daß es sich dabei um ein ekstatisches Erlebnis handelt, dem an sich nichts von «Verirrung» anhaftet, daß im Gegenteil dieses hochaltertümliche, bei allen Primitiven belegte religiösmagische Schema vollendet folgerichtig, «edel», «rein» und also «schön» ist. Es wäre also bei der Ebene, auf die wir die schamanische Himmelfahrt gestellt haben, durchaus kein Pejorativ, wenn wir zum Beispiel von der Auffahrt Mohammeds sagten, sie zeige schamanischen Gehalt. Nichtsdestoweniger und trotz allen typologischen Ähnlichkeiten ist es unmöglich, die ekstatische Auffahrt Mohammeds mit der Auffahrt eines altaischen oder buriätischen Schamanen in eine Linie zu stellen. Gehalt, Bedeutung und geistige Orientierung des ekstatischen Erlebnisses des Propheten setzen gewisse Veränderungen der religiösen Werte voraus, welche es unmöglich machen, sie noch auf den allgemeinen Auffahrtstyp zurückzuführen.
Diese Überlegungen stellen sich am Anfang des vorliegenden Kapitels ein, in dem von ungleich komplexeren Völkern und Kulturen die Rede sein wird als die bisher behandelten waren. Wir wissen nur sehr wenig Sicheres über die religiöse Vor- und Frühgeschichte der Indogermanen, über die Epochen also, in denen der geistige Horizont dieser Völkergruppe wahrscheinlich dem der vielen bisher besprochenen Völker vergleichbar war. Die vorhandenen Urkunden zeugen schon von ausgearbeiteten, systematisierten, zuweilen sogar versteinerten Religionen. In dieser ungeheuren Masse gilt es, die Mythen, Riten und Ekstasetechniken herauszufinden, die vielleicht eine schamanische Struktur
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haben. Wie wir sogleich sehen werden, sind solche Mythen, Riten und Ekstasetechniken in mehr oder weniger «reiner» Form bei allen indogermanischen Völkern belegt. Aber wir glauben nicht, daß man den Schamanismus zur Dominante des religiös-magischen Lebens der- Indogermanen erklären kann. Das ist eine umso erstaunlichere Feststellung, als die indogermanische Religion in ihren großen Zügen der der Turk-Tataren gleicht: Suprematie des Himmelsgottes, Fehlen oder geringere Bedeutung der Göttinnen, Feuerkult usw.
Summarisch ließe sich der Unterschied zwischen den Religionen dieser beiden Gruppen gerade in bezug auf die Vorherrschaft oder geringere Bedeutung des Schamanismus durch zwei folgenschwere Tatsachen erklären: erstens durch die von Georges Dumézil glänzend ins Licht gesetzte große Neuerung der Indogermanen, die Dreiteilung des Göttlichen, welche sowohl einer eigentümlichen Gesellschaftsordnung als einer systematischen Konzeption des religiös-magischen Lebens entspricht, insofern jeder Typ von Gottheit eine eigentümliche Funktion hat und eine Mythologie, die ihr Gegenstück bildet. Zu einer solchen systematischen Reorganisation des ganzen religiös-magischen Lebens, die in ihren großen Zügen schon vor der Trennung der Urindoger-manen vollendet war, gehörte sicherlich auch die Einfügung der scha-manischen Ideologie und Erfahrung; doch diese Integration führte zu einer Spezialisierung und letzten Endes Beschränkung der schamani-schen Kräfte. Die Schamanen fanden ihren Platz neben anderen religiösmagischen Mächten und Würden, sie waren nicht mehr allein in der Anwendung der Ekstasetechniken und in der ideologischen Herrschaft über die ganze Geisteswelt eines Stammes. Etwa in diesem Sinn könnte den schamanischen Traditionen durch die Organisation der religiösmagischen Glaubensvorstellungen, die sich noch zur Zeit der indogermanischen Einheit vollzog, ihr Platz zugewiesen worden sein. Die schamanischen Traditionen werden sich, um die Schemata Georges Dumézils zu verwenden, in ihrer großen Mehrheit um die mythische Gestalt des schrecklichen Herrschers («Souverain terrible») gruppiert haben, dessen Archetyp Varu»a, der Meister der Magie, der große «Binder» zu sein scheint. Das besagt natürlich weder, daß alle schamanischen Elemente sich ausschließlich um die Gestalt des Schrecklichen Herrschers kristallisiert hätten, noch daß diese schamanischen Elemente innerhalb der indogermanischen Religion alle magischen oder ekstatischen Ideologien und Techniken in sich befaßten. Im Gegenteil, es gab Magien wie Ekstasetechniken von anderer als «schamanischer» Struktur, so zum Beispiel die Magie der Krieger oder die Ekstasetechniken aus dem Bereich der Großen Göttinnen oder die Ackerbaumystik, die in keiner Weise schamanisch waren.
Das zweite Moment, das unserer Ansicht nach zu dieser Verschiedenheit der Indogermanen von den Turk-Tataren beigetragen hat, wäre der Einfluß orientalischer und mediterraner Kulturen von agrarischem und städtischem Typ. Dieser Einfluß hat sich, direkt oder indirekt, auf die indogermanischen Völker in dem Maße ausgewirkt, als sie sich gegen den Nahen Orient vorschoben. Die Wandlungen des religiösen Erbes der vom Balkan nach Süden gewanderten Griechen geben eine Vorstellung von dem höchst komplexen Angleichungs- und Umwertungsvorgang, zu dem die Berührung mit einer Kultur von agrarischem und städtischem Typ geführt hat.
Ekstasetechniken bei den Germanen
Gewisse Einzelheiten innerhalb der Religion und Mythologie der Germanen lassen sich mit Vorstellungen und Techniken des nordasiatischen Schamanismus vergleichen. Nennen wir die schlagendsten. Gestalt und Mythus Odins - des Schrecklichen Herrschers und Großen Zauberers1 - zeigen mehrere Züge, die seltsam «schamanisch» sind. Um sich die Geheimweisheit der Runen anzueignen, bleibt Odin neun Tage und neun Nächte an einem Baum aufgehängt (Hávamál, 138 ff.). Einige Germanisten sehen in diesem Ritus einen Initiationsritus; Höfler2 vergleicht ihn sogar mit der Ersteigung der Bäume durch die sibirischen Schamanen bei der Initiation. Der Baum, an dem Odin sich selbst «aufgehängt» hat, kann nur der Kosmische Baum - Yggdrasil -sein; sein Name bedeutet übrigens «der Renner des Ygg (Odin)». In der nordischen Tradition heißt der Galgen «das Pferd des Gehängten» (Höfler, S. 224) und bestimmte germanische Initiationsriten enthielten die symbolische «Hängung» des Kandidaten, denn dieser Brauch ist auch andernorts sehr reichlich belegt (vgl, die bibliographischen Angaben bei Höfler, S. 225, Anm. 228). Doch bindet Odin auch sein Pferd an Yggdrasil an - wir wissen von der Verbreitung dieses mythischen Themas in Zentral- und Nordasien (s. o. S. 251).
Odins Renner Sleipnir hat acht Beine und trägt seinen Herrn und auch andere Götter (z. B. Hermod) in die Unterwelt. Nun ist das acht-beinige Pferd das Schamanenpferd par excellence; man findet es in Sibirien und auch sonst (z. B. bei den Muria) und zwar immer in Beziehung zum ekstatischen Erlebnis (s. u. S. 4}0). Wahrscheinlich hat Höfler (S. 46 ff.) recht mit der Annahme, Sleipnir sei der mythische Archetyp des vielbeinigen «cheval-jupon», das im Geheimkult des Männerbundes eine wichtige Rolle spielt 3. Aber das ist ein religiösmagisches Phänomen, das über den Schamanismus hinausgeht.
Von der Fähigkeit Odins, nach Belieben seine Gestalt zu wechseln, schreibt Snorri: «Sein Körper lag wie schlafend oder tot da, er selbst aber war ein Vogel oder ein wildes Tier, ein Fisch oder eine Schlange. Er konnte in einem Augenblick in ferne Länder fahren...4.» Diese ekstatische Reise Odins in Tiergestalt läßt sich gut zu der Verwandlung der Schamanen in Tiere stellen. Die Schamanen kämpfen in Stieroder Adlergestalt miteinander; ebenso erwähnt die nordische Überlieferung mehrfach Kämpfe von Zauberern in Robben- und anderer Tiergestalt, deren Körper während des Kampfs leblos blieben wie der Körper Odins während seiner Ekstase 5. Freilich begegnen solche Glau-bensvorstellungen auch außerhalb des eigentlichen Schamanismus, doch drängt sich der Vergleich mit den Praktiken der sibirischen Schamanen umso mehr auf, als andere skandinavische Überlieferungen von Hilfsgeistern in Tiergestalt sprechen, die nur für die Schamanen bemerkbar sind (Ellis, S. 128), was nun besonders an schamanische Ideen erinnert. Man könnte sogar fragen, ob die beiden Raben Odins, Hugin («Gedanke») und Munin («Gedächtnis») nicht, wenn auch in stark my-thisierter Form, zwei «Hilfsgeister» in Vogelgestalt sind, welche der Große Zauberer auf schamanische Art zu den vier Enden der Welt entsandte
Der Begründer der Nekromantik ist immer Odin. Auf seinem Pferd Sleipnir dringt er in die Hei ein und befiehlt einer schon lange toten Prophetin sich aus ihrem Grab zu erheben und auf seine Fragen zu antworten (Baldrs draumar; Ellis, S. 152). Seither haben auch andere diese Art Nekromantik ausgeübt (ebd., S. 154 ff.), die offensichtlich nicht Schamanismus im strengen Sinn ist, aber in einen sehr nah benachbarten geistigen Komplex gehört. Es wäre auch die Wahrsagung mit Hilfe des mumifizierten Hauptes Mimirs zu erwähnen (Volospâ Vers 46; Ynglingasaga IV; Ellis, S. 156 ff.), welche an die Wahrsagung der Jukagiren durch Schädel schamanischer Vorfahren denken läßt.
Man wird Prophet, indem man sich auf Gräber setzt, und man wird «Dichter», das heißt ein Inspirierter, wenn man auf dem Grab eines Dichters schläft1. Derselbe Brauch bei den Kelten: Der (di aß vom rohen Fleisch eines Stieres, trank von seinem Blut und schlief darnach in seine Haut eingewickelt; im Schlaf teilten ihm «unsichtbare Freunde» die Antwort auf die Frage mit, die ihn beschäftigte1. Oder man schlief direkt auf dem Grab eines Verwandten oder Ahnen und wurde Prophet 9. Typologisch nähern sich diese Bräuche der Initiation oder Inspiration der künftigen Schamanen und Zauberer, welche die Nacht bei Leichen oder auf Friedhöfen verbringen. Die zugrundeliegende Idee ist beide Male dieselbe: Die Toten kennen die Zukunft, sie können das Verborgene enthüllen, usw. Der Traum spielt zuweilen eine ähnliche Rolle: In der Gisla Saga XXII ff, zeigt der Dichter das Los gewisser Privilegierter nach dem Tod (Ellis. S. 74).
Es liegt uns natürlich fern, hier alle keltischen und germanischen Mythen zu untersuchen, welche sich mit ekstatischen Jenseitsreisen und speziell Unterweltsfahrten beschäftigen. Rufen wir uns nur soviel ins Gedächtnis, daß die Vorstellungen über die Existenz nach dem Tode weder bei Kelten noch bei Germanen frei von Widersprüchen waren. Die Überlieferungen erwähnen mehrere Bestimmungsorte für die Abgeschiedenen und folgen in diesem Punkt dem Glauben anderer Völker an verschiedenartige Schicksale nach dem Tod. Doch Hel, die eigentliche Unterwelt, befindet sich nach dem Grimnismal unter einer Wurzel Yggdrasils und damit im «Zentrum der Welt». Man spricht sogar von neun unterirdischen Stockwerken; ein Riese sagt, daß er seine Weisheit beim Abstieg in «die neun unteren Welten» erworben habe (Ellis,
S. 83). Wir begegnen hier dem zentralasiatischen kosmologischen Schema von sieben oder neun Unterwelten in Entsprechung zu den sieben oder neun Himmeln. Doch noch bezeichnender erscheint uns die Erklärung des Riesen, daß er «weise» - also hellsehend - wurde durch den Abstieg in die Unterwelt, den man somit als Initiation betrachten darf.
In der Gyljaginning 48 berichtet Snorri, wie Hermod auf dem Renner Odins, Sleipnir, in die Hel hinabreitet, um die Seele Balders zurückzubringen Dieser Typ des Abstiegs in die Unterwelt ist deutlich schamanisch. Wie in den verschiedenen außereuropäischen Varianten des Orpheus-Mythus bleibt der Abstieg zur Unterwelt auch im Falle Balders ohne das gehoffte Ergebnis. Daß eine solche Tat für möglich galt, bestätigt das Chronicon Norwegiae: Ein Schamane wollte
9 Vgl. die Texte bei Ellis, S. 109.
10 Hermod reitet neun Nächte lang durch die «finsteren und tiefen Täler» und überschreitet die Brücke Gjallar. die mit Gold gepflastert ist; Ellis. S. 85. 171; Dumézil.
Loki, S. 53.
die Seele einer plötzlich verstorbenen Frau zurückbringen, starb dabei aber selber an einer schrecklichen Wunde am Bauch. Ein zweiter Schamane griff ein und ihm gelang es die Frau wieder ins Leben zu rufen. Die Frau erzählte nun, sie habe den Geist des ersten Schamanen in Gestalt einer Robbe einen See überqueren sehen, doch habe ihm jemand mit einer Waffe den Schlag versetzt, dessen Spur man an der Leiche sah (Ellis, S. 126).
Odin selbst steigt auf seinem Pferd Sleipnir in die Unterwelt hinab, um die vçlva aufzuerwecken und das Schicksal Balders zu erfahren. Ein drittes Beispiel eines Abstiegs findet sich bei Saxo Grammaticus (Hist. Dan. I, 31), sein Held ist Haddingus. Während Haddingus speist, erscheint plötzlich eine Frau und fordert ihn auf ihr zu folgen. Sie steigen unter die Erde hinab in eine feuchte und finstere Gegend, finden einen Weg gebahnt, auf dem gut gekleidete Leute gehen, kommen dann in eine sonnige Gegend mit Bäumen aller Art und an einen Fluß, den sie auf einer Brücke überschreiten. Sie begegnen zwei Heeren im Kampf, der, wie die Frau erklärt, ewig dauert; es sind die auf dem Schlachtfeld gefallenen Krieger, die ihren Kampf fortsetzen 11. Schließlich kommen sie an eine Mauer, welche die Frau umsonst zu übersteigen versucht; sie tötet einen Hahn, den sie dabei hat, und wirft ihn über die Mauer; der Hahn wird wieder lebendig, denn sogleich hört man seinen Schrei auf der anderen Seite der Mauer. Leider bricht hier Saxo seine Erzählung ab (Ellis, S. 172). Aber wir finden schon nach dem Gesagten in dem Abstieg des Haddingus unter der Führung der geheimnisvollen Frau das wohlbekannte mythische Motiv: Totenweg, Fluß, Brücke, Initiationshindernis (Mauer). Der Hahn, der auf der anderen Seite der Mauer sogleich wieder lebendig wird, scheint den Glauben auszudrük-ken, daß zum mindesten gewisse Privilegierte (und zwar «Initiierte») auf die Möglichkeit einer «Rückkehr ins Leben» rechnen dürfen 22
Germanische Mythologie und Folklore bewahren noch weitere Berichte von Unterweltsfahrten, in denen sich gleichermaßen «Initiationsproben» erkennen lassen (z. B. das Durchqueren einer «Flammenmauer»), doch nicht unbedingt der Typ der schamanischen Unterweltsfahrt. Wie das Chronicon Norwegiae bezeugt, war auch dieser Typ den nordischen Zauberern bekannt und auch ihre sonstigen Taten lassen auf eine ziemlich deutliche Ähnlichkeit mit den sibirischen Schamanen schließen.
Nur kurz erwähnt seien hier die «wilden Krieger», die berserkir, welche sich auf magische Weise die tierische «Wut» zu eigen machten und sich in wilde Tiere verwandelten 13. Diese kriegerische Ekstasetechnik, die auch bei den anderen indogermanischen Völkern bezeugt ist und auch in außereuropäischen Kulturen Parallelen findet 14, hat mit dem Schamanismus stricto sensu nur oberflächliche Berührung. Der militärische (heroische) Typ der Initiation scheidet sich schon durch seine Struktur von den schamanischen Initiationen. Die magische Verwandlung in wilde Tiere gehört einer Gedankenwelt an, welche die Sphäre des Schamanismus übersteigt. Wir werden ihre Wurzeln in den Jagdriten der paläosibirischen Völker finden und dabei sehen (u. S. 428), welche Ekstasetechniken aus einer mystischen Nachahmung der Tierheit entstehen können.
Odin kannte und übte nach Snorri die seiðr genannte Magie. Mit ihrer Hilfe konnte er die Zukunft voraussehen und Tod, Unglück und Krankheit verursachen. Doch dieser Hexerei haftete, wie Snorri hinzufügt, solche «Schändlichkeit» an, daß Männer sie nicht «ohne Schande» ausüben konnten; der seiðr blieb das Anrecht der gydjur («Priester-innen» oder «Göttinnen»), In der Lokasenna wird Odin vorgeworfen, daß er den seiðr übt, was «eines Mannes unwürdig» ist 15. Die Quellen
Paradies sitzend». Darauf gab man ihr ein Huhn und die Sklavin schnitt ihm den Kopf ab und warf ihn in das Totenschiff (das bald darauf zu ihrem Scheiterhaufen werden sollte). Vgl. Texte und Bibliographie bei Ellis, S. 45 ff.
13 S. G. Dumézil, Mythes et dieux des Germains, S. 79 ff.; ders., Horace et les Curiaces, S. 11 ff.
14 Vgl. Dumézil, Horace et les Curiaces, passim; Stig Wilcander, Der arische Männer-bund (Lund 1958), passim; G. Widengren, Hochgotlglaube im allen Iran (Uppsala-Leipzig 1938), S. 324 ff.
15 Vgl. Dag Strömback, Sejd. Textstudier i nordisk regionshistoria (Stockholm-Kopenhagen 1935), S. 33, 21 ff.; Arne Runeberg, Witches, demons and fertility magic (Helsingfors 1947), S. 7.
sprechen von Zauberern (seiðmenn) und Zauberinnen (seiðkonur), und man weiß, daß Odin den seiðr von der Göttin Freyja gelernt hat Man darf also vermuten, daß diese Art Magie eine Spezialität der Frauen war; aus diesem Grund wurde sie als «eines Mannes unwürdig» betrachtet.
Auf jeden Fall führen uns die in den Texten beschriebenen seiör-Sitzungen immer eine seiðkona, eine spákona («Hellseherin», Prophetin) vor. Die beste Beschreibung findet sich in der Eiitkssaga rauða. Die spákona verfügt über eine sehr hochentwickelte Zeremonialtracht: blauer Mantel, Edelsteine, eine Mütze aus schwarzem Lammfell mit weißen Katzenfellen; sie hat auch einen Stab und während der Sitzung sitzt sie auf einer ziemlich hohen Plattform auf einem Kissen aus Hühnerfedern 17. Die seiðkona (oder volva, spákona) zieht von Hof zu Hof, um die Zukunft der Menschen zu enthüllen und das Wetter und die Ernte vorauszusagen. Sie reist mit fünfzehn jungen Mädchen und ebensoviel jungen Männern, die im Chor singen. Die Musik spielt bei der Vorbereitung der Ekstase eine wesentliche Rolle. Während der Trance verläßt die Seele der seiökona den Körper und wandert im Raum herum; sie nimmt meistens Tiergestalt an, wie die oben erwähnte Episode zeigt (S. 363, Anm. 5).
Viele Züge nähern den seiör der klassischen Schamanensitzung3: die rituelle Tracht, die Wichtigkeit von Chor und Musik, die Ekstase.
Doch scheint es uns nicht unbedingt notwendig, den seiðr als Schamanismus im strengen Sinn zu betrachten; der «mystische Flug» ist ein «Leitmotiv» der allgemeinen Magie und speziell der europäischen Hexenkunst. Die spezifisch schamanischen Themen - Abstieg in die Unterwelt zur Rückführung der Seele des Kranken oder zum Geleit des Abgeschiedenen - sind, wie wir gesehen haben, in den Überlieferungen nordischer Magie bezeugt, ohne aber in der seiðr-Sitzung ein Hauptelement darzustellen. Diese scheint sich im Gegenteil auf die Wahrsagung zu konzentrieren, untersteht also letzten Endes mehr der «kleinen Magie».
Antikes Griechenland
Wir wollen hier nicht mit einer Untersuchung der verschiedenen im alten Griechenland bezeugten Ekstase-Traditionen beginnen 19, sondern nur solche Überlieferungen erwähnen, die sich in ihrer Morphologie allenfalls dem Schamanismus im strengen Sinn nähern könnten. Es hat keinen Sinn, die dionysischen Bacchanale zu erwähnen, nur weil die klassischen Autoren von der Unempfindlichkeit der βάκχαι 20 sprechen, oder den ένθονσιασμός, die verschiedenen Orakeltechniken 21, die Nekromantik, die Vorstellung von der Unterwelt. Hier gibt es natürlich
Freyja Odin den seiör gelehrt; man kann diese Überlieferung, daß die Kunst des magischen Fluges von einer Göttin (oder Zauberin) einem Gott (oder Herrscher) gelehrt wird, mit ähnlichen chinesischen Legenden vergleichen (s. u. S. 418). Freyja, die seiðr-Meisterin, besitzt ein magisches Federkostüm, mit dem sie fliegen kann, genau wie die Schamanen; dem Loki dagegen scheint eine dunklere Magie zu eignen, deren Sinn mit seinen Tierverwandlungen deutlich genug angezeigt ist.
19 Vgl. Erwin Rohde, Psyche. Seelenkult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, 1. Aufl. 1893, S. 293 ff. Martin P. Nilsson, Geschichte der griechischen Religion I (München 1941), bes. S. 578 ff.
20 Vgl. die von Rohde zusammengestellten Texte, Psyche. S. 310, Anm.
21 Das Delphische Orakel und die apollinische Mantik haben nichts «Schamani-sches-, s. neuestens Material und Kommentare von Pierre Amandry, La mantique appol-linienne à Delphes. Essai sur le fonctionnement de l’Oracle (Paris 1950; Bibl. des Ecoles Françaises d'Athènes et de Rome. fasc. 170); die Texte S. 241-260. Läßt sich der berühmte delphische Dreifuß mit der Plattform der germanischen seiökona zusammenstellen? «Doch normalerweise sitzt Apollon auf seinem Dreifuß. Die Pythia nimmt nur ausnahmsweise seinen Platz ein als Ersatzperson ihres Gottes» (Amandry, a. a. O., S. 140).
Motive und Techniken, die denen des Schamanismus analog sind, doch diese Koinzidenzen erklären sich aus dem Überleben fast allgemein verbreiteter magischer Vorstellungen und archaischer Ekstasetechniken im alten Griechenland. Auch über die Kentaurenmythen22 und über die Sagen von den ersten, göttlichen Heilem und Ärzten 23 wollen wir nicht sprechen, obwohl diese Traditionen gelegentlich schwache Züge eines Ur«schamanismus» durchblicken lassen. Alle diese Überlieferungen sind schon interpretiert, ausgearbeitet, umgewertet; sie bilden einen integrierenden Teil komplexer Mythologien und Theologien und setzen Berührungen, Mischungen und Synthesen mit der ägäischen und sogar orientalischen Geisteswelt voraus. Ihr Studium beanspruchte also mehr als die wenigen Seiten dieser Skizze.
Betont sei, daß die Heilkundigen, Wahrsager und Ekstatiker, die man mit den Schamanen zusammenbringen könnte, keine Beziehung zu Dionysos aufweisen. Der Strom der dionysischen Mystik scheint eine ganz andere Struktur zu haben; der bacchische ένΟουαιασμός gleicht der schamanischen Ekstase in keiner Weise. Im Gegenteil, auf Apollon berufen sich die griechischen Sagengestalten, die einen Vergleich mit den Schamanen zulassen. Aus dem Norden, dem Land der Hyperboräer, der Urheimat Apollons sollen sie nach Griechenland gekommen sein. So zum Beispiel Abaris. «Den goldenen Pfeil, das Wahrzeichen seiner apollinischen Art und Sendung in der Hand, zog er durch die Länder, Krankheiten abwendend durch Zauberopfer, Erdbeben und andere Not voraussagend» (Rohde, Psyche, S. 381). Eine spätere Sage schildert ihn auf seinem Pfeil durch die Luft fliegend wie Musäos (ebd., S. 381, Anm. 1). Der Pfeil, der in Mythologie und Religion der Skythen eine gewisse Rolle spielt 24, ist ein Symbol des «magischen Fluges» 25. Man denkt dabei an das Vorkommen des Pfeiles in vielen schamanischen Zeremonien Sibiriens (vgl. z. B. o. S. 210).
In Beziehung zu Apollon steht auch Aristeas von Prokonnesos; er fiel in Ekstase und der Gott «ergriff» seine Seele. Er erschien gleich-
22 S. das schöne Buch von Georges Dumézil, Le problème des Centaures (Paris 1929). wo von gewissen .schamanischen» Initiationen im weiteren Sinn die Rede ist.
23 Vgl. z. B. Charles Kerényi, Le médecin dient (Basel 1948).
24 Vgl. Karl Meuli. Scythica (Hermes, 70. Bd„ 1935. S. 121-176), S. 161 ff.
25 Oker die anderen derartigen Sagen bei den Griechen s. P. Wolters, Der geflügelte Seher (in Sitzungsberichte der Bayer. Akademie der Wissenschaften München 1928, I, S. 10-25). Über den «magischen Flug» s. auch unten S. 441 ff.
zeitig an verschiedenen voneinander entfernten Orten 26; er begleitete Apollon in Gestalt eines Raben (Herodot IV, 15), was an schamanische Verwandlungen denken läßt. Hermotimus von Klazomene hatte die Fähigkeit seinen Körper «viele Jahre lang» zu verlassen; während dieser langen Ekstase reiste er in die Ferne und «brachte mantische Kunde des Zukünftigen mit. Zuletzt verbrannten Feinde den seelenlos daliegenden Leib des Hermotimus, und seine Seele kehrte niemals wieder» (Rhode, S. 385 f. mit den Quellen, besonders Plinius, Nal. hist., 174). Diese Ekstase bietet alle Aspekte der schamanischen T rance.
Denken wir auch an die Sage von Epimenides von Kreta. Er hatte lange in der Höhle des Zeus auf dem Berg Ida «geschlafen»; dort hatte er gefastet und die lange Ekstase erlernt. Er hatte die Höhle als Meister in der «enthusiastischen Weisheit», das heißt in der Ekstasetechnik, verlassen. «Nun zog er durch die Länder mit seiner heilbringenden Kunst, als ekstatischer Seher Zukünftiges verkündend, verborgenen Sinn des Vergangenen aufhellend, und als Reinigungspriester aus besonders dunklen Freveltaten erwachsenes dämonisches Unheil bannend» (Rhode, a. a. O., S. 387 f. ). Das sich Zurückziehen in eine Höhle (= Abstieg in die Unterwelt) ist eine klassische Initiationsprüfung, aber sie ist nicht notwendig «schamanisch». Doch seine Ekstasen, magischen Heilungen, Wahrsage- und Prophezeihungskräfte nähern Epimenides dem Schamanen.
Bevor wir von Orpheus sprechen, werfen wir einen Blick auf die Thraker und die Geten, «die tapfersten und gerechtesten von den Thrakern», wie Herodot sagt (IV, 93). Mehrere Autoren haben in Zalmoxis einen «Schamanen» sehen wollen 27, doch wir sehen keinen Grund für diese Interpretation. Weder die «Abordnung eines Boten» an Zalmoxis, die alle vier Jahre stattfand (Herodot IV, 94), noch seine «unterir-
26 Vgl. Rohde, S. 381 ff.; Nilsson, S. 584. Über die Arimdspeia, ein dem Aristeas zugeschriebenes Gedicht, s. Meuli. S. 154 ff.
27 Vgl. z. B. Meuli, Scythica, S. 163; Alois Cloß. Die Religion Jet Semnonenstam-met, S. 669 ff. Uber das Problem dieses Gottes s. Carl Clemen, Zalmoxis (in der Revue Zalmoxis II, 1939. S. 53-62); Jean Coman. Zalmoxis, ebd. S. 79-110; Ion I. Russu, Religia Gelo-Daeilor (Anuarul Institutului de Studii Clasice. Cluj, 5. Bd.. S. 61-137). Man hat neuestens die von Porphyrius begründete Etymologie von Zalmoxis «der Bärengott» oder «der Gott im Bärenfell» zu rehabilitieren versucht, vgl. z. B. Rhys Carpenter, Folk Tale, Fiction and Saga in the Homeric Epics (Berkeley und Los Angeles 1946). S. 112 ff.; «The cult of the sleeping bear». Doch s. Alfons Nehring, Stadien zur indogermanischen Kultur und Urheimat (Wiener Beiträge IV. S. 7-229), S. 712 ff.
dische Wohnstatt», in der er verschwand und drei Jahre lebte, um beim Wiedererscheinen den Geten die Unsterblichkeit des Menschen zu beweisen (ebd., 95), hat etwas Schamanisches an sich. Hin einziges Element scheint die Existenz eines getischen Schamanismus anzuzeigen, nämlich die Nachricht Strabos (VII, 3, 3; C, 296) über die mystischen καπνοβάται, was man in Analogie zu dem aristophanischen άεροβάται, «den in den Wolken Gehenden» (Die Wolken, Vers 225, 1503), übersetzt hat - einige Autoren schlugen vor «die im Rauch Gehenden» Wahrscheinlich handelt es sich dabei um Hanfrauch, ein einfaches Ekstasemittel, das den Thrakern“ und Skythen bekannt war. Die χαπνοβάται wären dann getische Tänzer und Zauberer, die zu ihren ekstatischen Trancen Hanfrauch verwendeten.
Sicher waren in der thrakischen Religion noch andere «schamanische» Elemente bestehen geblieben, aber ihre Identifizierung ist nicht immer leicht. Führen wir wenigstens ein Beispiel an, welches die Existenz von Ideologie und Ritual der Himmelfahrt auf einer Treppe beweist. Nach Polyän (Slralagemalon VII, 22) drohte Kosingas, Priester-König der Kebrenoi und Sykaiboai (thrakische Volksstämme) seinen Untertanen, auf einer hölzernen Leiter zu der Göttin Hera hinaufzusteigen, um über ihre Aufführung Klage zu führen. Nun ist, wie wir schon mehrmals gesehen haben, die symbolische Auffahrt auf einer Treppe typisch schamanisch. Der Symbolismus der Stiege ist, wie wir später noch zeigen werden, auch in anderen Religionen des antiken Nahen Orients und mediterranen Bereiches bezeugt.
Was Orpheus betrifft, so zeigt sein Mythus mehrere Elemente, die sich mit der schamanischen Ideologie und Technik vergleichen lassen. Das wichtigste ist natürlich sein Abstieg in die Unterwelt um die Seele seiner Gattin Eurydike. Mindestens eine Version des Mythus weiß nichts von dem schließlichen Scheitern Übrigens ist die Möglichkeit, einen Menschen der Unterwelt zu entreißen, durch die Sage von Al-kestis bestätigt. Doch Orpheus zeigt noch andere Züge eines «Großen Schamanen»: seine Heilkunst, seine Liebe zur Musik und zu den Tieren,
28 Vasile Parvan, Getica. O pro/oistorie a Daciei (Bukarest 1926), S. 162.
29 J. Coman, Zalmoxis, S. 106.
30 Wenn man eine Stelle bei Pomponius Mela (2, 21, übersetzt von Rohde, a. a. O., S. 309, Anm.) in diesem Sinn übersetzen will. Über die Skythen s. weiter unten.
31 Vgl. W. K. Guthrie, Orpheus and Greek religion (London 1933), S. 31.
seine «Zaubermittel», seine Wahrsagekraft. Und selbst sein Charakter als «kulturbringender Heros» 32 steht nicht im Widerspruch zur besten schamanischen Tradition: War nicht der «erste Schamane» von Gott als Bote gesandt, um die Menschheit vor den Krankheiten zu schützen und zu zivilisieren? Noch eine Einzelheit aus dem Orpheusmythus ist deutlich schamanisch: Von den Bacchantinnen abgeschnitten und in den Hebron geworfen, schwimmt das Haupt des Orpheus singend bis nach Lesbos. Es diente dann als Orakel 33 wie das Haupt Mimirs. Ebenso haben die Schädel der sibirischen Schamanen ihre Rolle bei der Weis-sagung.
Die Orphik im eigentlichen Sinn jedoch verbindet nichts mit dem Schamanismus 34, es seien denn die Goldplättchen aus Gräbern, die man lange für orphisch hielt. Sie scheinen jedoch orphisch-pythagoreisch zu sein 35. Auf jeden Fall enthalten diese Plättchen Texte, die dem Toten seinen Weg im Jenseits anzeigen 36; sie stellen gewissermaßen ein kondensiertes «Totenbuch» dar und können mit den gleichartigen in Tibet und bei den Mo-So (s. u. S. 416) verwendeten Texten zusammengestellt werden. Die Rezitation von Toten-Reisewegen am Bett des Toten bedeutete dasselbe wie das mystische Geleit des seelenbegleitenden Schamanen. Ohne den Vergleich pressen zu wollen, könnte man in der Totengeographie der orphisch-pythagoreischen Plättchen das Surrogat eines schamanischen Seelengeleits sehen.
Hermes als Psychopomp sei hier nur erwähnt, denn die Gestalt des Gottes erweist sich als viel zu komplex, um auf einen «schamanischen» Führer in die Unterwelt reduziert zu werden”. Was die «Flügel» des
32 Siehe die gut zusammengestellten Texte bei Jean Coman, Orphée, civilisateur de l'humanité (Zalmoxis I, 1938, S. 130-176): Musik S. 146 ff., Poesie S. 153 ff., Magie und Medizin S. 157 ff.
33 Guthrie, Orpheus, S. 35 ff.; M. P. Nilsson, Opuicula selecta II (Lund 1952),
S. 643.
34 Vittorio Macchioro, Zagreut, Studi intorno all’orfismo (Florenz 1930), S. 291 ff., vergleicht die religiöse Atmosphäre, in der die Orphik entstand, mit der «Ghost-dance religion» und anderen ekstatischen Volksbewegungen, doch bestehen nur zufällige Beziehungen zum Schamanismus im eigentlichen Sinn.
35 S. Franz Cumont, Lux perpétua (Paris 1949), S. 249 ff., 406. Über das Problem im allgemeinen vgl. Karl Kerényi, Pythagoras und Orpheus (3. Aufl. Zürich 1950: Albae Vigiliae IX).
36 Vgl. Texte und Kommentar bei Guthrie, S. 171 ff.
37 P. Raingeard, Hermès Psychagogue. Essai sur les origines du culte d'Hermès (Paris 1935); über die Federn des Hermes S. 389 ff.
Hermes, Symbol des magischen Fluges, betrifft, so scheinen vage Anzeichen dafür vorhanden zu sein, daß bestimmte Zauberer angeblich die Seelen der Abgeschiedenen mit Flügeln versahen, auf denen sie zum Himmel fliegen konnten 38, doch liegt hier die alte symbolische Gleichung Seele - Vogel zugrunde und zwar kompliziert und kontaminiert mit vielen jüngeren Interpretationen orientalischen Ursprungs und in Beziehung mit den Sonnenkulten und der Idee der Himmelfahrt als Apotheose 39.
Ebenso haben auch die in griechischen Traditionen bezeugten Unterweltsfahrten 40 von der berühmtesten, der Initiationsprobe des Herakles, bis zu den legendären Abstiegen des Pythagoras 41 und «Zoroaster» 42 nicht im geringsten schamanische Struktur. Eher möchte man das ekstatische Erlebnis Ers des Pamphiliers, des Sohnes des Armenios, das bei Platon verzeichnet steht (Staat, 614 B ff.), heranziehen. Auf dem Schlachtfeld «getötet», kehrt Er am zwölften Tag, während sein Körper schon auf dem Scheiterhaufen liegt, ins Leben zurück und erzählt, was ihm in der andern Welt gezeigt wurde. Man hat in diesem Bericht den Einfluß orientalischer Ideen und Glaubensvorstellungen gesehen 43. Wie dem auch sei, die kataleptische Trance des Er gleicht der des Schamanen und seine ekstatische Jenseitsreise erinnert nicht nur an das Ardä Vîrâf, sondern auch an viele «schamanische» Erlebnisse. Er sieht unter anderem die Farben des Himmel und die Mittelachse, er sieht auch die
38 Amobius II, 33; F. Cumont, Lux perpelua, S. 294.
39 Vgl, E. Bickermann, Die römische Kaiserapotheose (Archiv für Religionswissenschaft, 27. Bd.. 1929, S. 1—24); J. Kroll, Die Himmelfahrt der Seele in der Antike (Köln 1931); D. M. Pippidi, Recherches sur le culte Impérial (Bukarest 1939), S. 139 ff.; ders.. Apothéoses impériales et apothéose de Pèrègrinos (Studi e Material i di Storia deile Religioni 20, 1947-1948, S. 77-103). Dieses Problem geht über unseren Gegenstand hinaus, doch haben wir es oberflächlich berührt, um zu zeigen, in welchem Maß ein archaischer Symbolismus (hier der «Flug der Seele») wiederentdeckt und adaptiert werden kann von Doktrinen, die nur Neuerungen einzuführen scheinen.
40 Uber all dies s. Josef Kroll, Gott und Hölle (Leipzig 1932), S. 363 ff. Dieselbe Arbeit von Kroll untersucht die orientalischen und jüdisch-christlichen Traditionen von Unterweltsfahrten, die aber nur sehr vage Ähnlichkeiten mit dem Schamanismus stricto sensu aufweisen.
41 Vgl. Isidore Lévy, La Upende de Pythagore: de Grèce en Palestine (Paris 1927),
S. 79 ff.
42 Vgl. Joseph Bidez und Franz Cumont, Les mages hellénisés (Paris 1938), I, S. 113, II, S. 158 (Texte).
43 S. den Stand der Frage und die Diskussion des Problems bei Joseph Bidez, Eos ou Platon et l'Orient (Brüssel 1945), S. 43 ff.
Geschicke der Menschen durch die Sterne bestimmt (Staat, 617 D bis 618 C). Man könnte diese ekstatische Vision des astrologischen Schicksals mit den ursprünglich orientalischen Mythen vom Lebensbaum oder «Himmelsbuch» zusammenstellen, auf dessen Blättern oder Seiten das Geschick der Menschen geschrieben stand. Der Symbolismus eines «Himmelsbuches», welches das Schicksal enthält und von dem Gott den Herrschern und den Propheten bei ihrer Himmelfahrt mitgeteilt wird, ist sehr alt und im Orient weit verbreitet 44.
Man ermißt hieran, bis zu welchem Punkt ein archaischer Mythus oder Symbolismus uminterpretiert werden kann: In der Vision des Er wird die Kosmische Achse zur Spindel der Notwendigkeit und das astrologische Schicksal nimmt den Platz des «Himmelsbuches» ein. Aber die Situation des Menschen bleibt dieselbe. Immer noch durch eine ekstatische Reise, genau wie die Schamanen und Mystiker archaischer Kulturen, erlebt Er der Pamphilier die Offenbarung der Gesetze, die über Kosmos und Leben regieren; in einer ekstatischen Vision lernt er das Geheimnis des Schicksals und des Lebens nach dem Tode begreifen. Der riesige Abstand, welcher die Ekstase eines Schamanen von Platons Kontemplation trennt, die ganze von Geschichte und Kultur geschaffene Verschiedenheit ändert nichts an der Struktur dieses Ergreifens der letzten Realität: Nur durch die Ekstase gelangt der Mensch zur vollen Realisierung seiner Situation in der Welt und seines endlichen Schicksals. Man könnte fast von einem Archetyp «existentiellen Bewußtwerdens» sprechen, der in der Ekstase eines primitiven Schamanen oder Mystikers ebenso vorhanden ist wie in dem Erlebnis Ers des Pamphiliers und aller anderen Visionäre der alten Welt, die schon hienieden das Los des Menschen jenseits des Grabes erfahren haben 45.
44 Vgl- Geo Widengren, The Ascension of the Aponte and the heavenly Book (Uppsala 1950). passim. In Mesopotamien erhielt der König (in seiner Eigenschaft als Gesalbter) bei einer Himmelfahrt von dem Gott die Täfelchen oder das Himmlische Buch, ebd., S. 7 ff.; in Israel erhielt Moses von Jahwe die Gesetzestafeln ehd., S. 22 ff.
45 Wilhelm Muster, Der Schamanismus bei den Etruskern (Frühgeschichte und Sprachwissenschaft I, Wien 1948, S. 60-77). versucht die etruskischen Jenseitsvorstellungen und Unterweltsreisen mit dem Schamanismus zu vergleichen, doch ist nicht einzusehen warum man Ideen und Tatbestände «schamanisch» nennen soll, welche der allgemeinen Magie und den verschiedenen Todesmythologien angehören.
Skythen, Kaukasier, Iranier
Herodot (IV, 71 ff.) hat uns eine gute Beschreibung der skythischen Bestattungsbräuche hinterlassen. Am Schluß des Leichenbegängnisses schritt man zu Reinigungen. Man warf Hanf auf erhitzte Steine und atmete den Rauch ein; «entzückt, daß sie so schwitzen, stoßen die Skythen ein Geheul aus» (IX, 75). Karl Meuli 46 hat den schamanischen Charakter dieser Bestattungs-Reinigung sehr gut ins Licht gesetzt; Totenkult, Gebrauch des Hanfes, Schwitzstube und «Geheul» bilden in der Tat ein charakteristisches religiöses Ganzes, dessen Ziel nichts anderes sein konnte als die Ekstase. Meuli (a.a.O., S. 124) erwähnt in diesem Zusammenhang die von Radlov beschriebene altaische Sitzung (s. o. S. 203), in der der Schamane die Seele einer vor vierzig Jahren verstorbenen Frau in die Unterwelt brachte. In der herodotischen Beschreibung erscheint der seelengeleitende Schamane nicht; es heißt nur von Reinigungen, die auf das Leichenbegängnis folgten. Doch solche Reinigungszeremonien fallen bei vielen turk-tatarischen Völkern mit der Begleitung des Abgeschiedenen in die Unterwelt, die der Schamane vornimmt, zusammen.
Meuli hat die Aufmerksamkeit auch auf die «schamanische» Struktur des skythischen Jenseitsglaubens gelenkt sowie auf die geheimnisvolle «Frauenkrankheit», die nach einer von Herodot überlieferten Legende (1,105) einige Skythen in «Enarees» verwandelt hat und die der Schweizer Gelehrte mit der Verweiblichung der sibirischen und nordamerikanischen Schamanen vergleicht 47, ebenso auch auf den «schamanischen» Ursprung der Arimäspeia und sogar der epischen Poesie im allgemeinen. Wir möchten die Diskussion dieser These Berufeneren überlassen. Eines aber ist sicher: Schamanismus und vom Hanfrauch hervorgerufene ekstatische Trunkenheit waren den Skythen bekannt. Wie wir sogleich sehen werden, ist der Gebrauch des Hanfs zu eksta tischen Zwecken auch bei den Iraniern bezeugt, und das iranische Wort für Hanf dient in Zentral- und Nordasien zur Bezeichnung der mystischen Trunkenheit.
Bekanntlich haben die kaukasischen Völker, besonders die Ossen, viele mythologische und religiöse Traditionen der Skythen bewahrt 4. Nun nähern sich die Jenseitsvorstellungen bestimmter kaukasischer Völker denen der Iranier, besonders die Vorstellung von der haar-breiten Brücke, auf der der Abgeschiedene geht, der Mythus vom Kosmischen Baum, dessen Wipfel den Himmel berührt und an dessen Wurzel eine wunderbare Quelle entspringt usw.58. Andererseits spielen Wahrsager, Seher und seelengeleitende Nekromanten eine gewisse Rolle bei den georgischen Bergstämmen. Die wichtigsten unter diesen Zauberern und Ekstatikern sind die messulelbe; sie rekrutieren sich meistens aus den Frauen und jungen Mädchen. Ihre Hauptfunktion ist die Begleitung der Abgeschiedenen in die andere Welt, doch sie können sie sich auch einkörpern und dann sprechen die Toten durch ihren Mund. Ob Seelengeleiterin oder Nekromantin, immer entledigt sich die messulethe ihrer Aufgabe, indem sie in Trance fällt49. Dieser Komplex erinnert seltsam an den altaischen Schamanismus. Inwieweit dieser Stand der Dinge Glaubensvorstellungen und Techniken der «Europäischen Iranier», d. h, der Sarmato-Skythen widerspiegelt, ist nicht zu entscheiden.
Wir haben die erstaunliche Ähnlichkeit zwischen den Jenseitsvor-
Stellungen der Kaukasier und der Iranier erwähnt. So spielt die Brücke Cinvat eine wesentliche Rolle in der iranischen Bestattungsmythologie 51; ihre Überschreitung entscheidet gewissermaßen über das Schicksal der Seele. Diese Überschreitung ist eine schwierige Prüfung, die in ihrer Struktur den Initiationsprüfungen gleichkommt: Die Brücke Cinvat ist «wie ein Balken mit mehreren Seiten» (Da-distân-i-Dinik, 213 ff.) und in mehrere Bahnen geteilt. Für die Gerechten ist sie neun Lanzenlängen breit, für die Gottlosen ist sie schmal wie «das Blatt eines Rasiermessers» (Dinkart IX, 20,3). Die Brücke Cinvat befindet sich im «Zentrum der Welt». In der «Mitte der Erde» und «800 Menschenmaße hoch» (Bundahishn 12,7) erhebt sich Cakât-i-Dâitîk, der «Berg des Gerichtes», und die Brücke Cinvat führt von Cakât-i-Dâitîk bis zu Albürz, verbindet also im «Zentrum» die Erde mit dem Himmel. Unter der Brücke Cinvat öffnet sich das Loch zur Unterwelt (Vidêvdat 3,7); die Überlieferung stellt es als eine «Fortsetzung von Albürz» dar (Bundahishn 12, 8 ff.).
Wir haben hier das «klassische» kosmologische Schema mit den drei durch eine Mittelachse verbundenen kosmischen Regionen vor uns (Pfeiler, Baum, Brücke usw.). Die Schamanen bewegen sich frei zwischen den drei Zonen; die Abgeschiedenen müssen auf ihrer Reise ins Jenseits eine Brücke passieren. Schon viele Male sind wir diesem Motiv des Totenglaubens begegnet und werden ihm noch öfter begegnen. Das Wichtige ist dabei in der iranischen Tradition (wenigstens in der Form, in welcher sie nach der Reform Zarathustras weiterlebte) der Streit zwischen den Dämonen, welche die Seele von der Brücke in die Unterwelt stürzen wollen, und den (zu diesem Zweck von den Verwandten des Toten angerufen) Schutzgeistern, die ihnen Widerstand leisten, Aristät, «der Führer der irdischen und himmlischen Wesen» und der gute Vayu 52. Auf der Brücke hält Vayu die Seelen der From-
51 Vgl. N. Söderblom, La vie future d'après le mazdéisme (Paris 1901), S. 92 ff.;
N. S, Nyberg, Questions de cosmogonie et cosmologie mazdèennes II (Journal Asiatique, 219. Bd., Juli-Sept. 1931, S. 1-134). S. 119 ff.; ders., Die Religionen des Allen Iran (deutsch von H. H. Schaeder. Leipzig 1938), S. 180 ff.
52 Über Vayu s. G. Widengren, Hochgottglaube im Alten Iran (Uppsala 1938).
S. 188 ff.; Stig Wikander, Vayu I (Uppsala 1941); Georges Dumézil, Tarpeia (Paris 1947), S. 69 ff. Der Hinweis auf diese drei wichtigen Werke hat den Zweck, den Leser auf den summarischen Charakter unserer Darstellung aufmerksam zu machen, denn in Wirklichkeit ist die Funktion Vayus reicher an Nuancen und sein Charakter bedeutend komplexer.
men fest; auch die Seelen der Toten kommen ihnen zu Hilfe (Soeder-blom, a.a. O., S. 94 ff.). Diese Funktion des Seelengeleiters, die hier der gute Vayu annimmt, könnte eine «schamanistische» Ideologie widerspiegeln.
Diese Überschreitung der Brücke Cinvat ist in den Gâta dreimal erwähnt (45, 10-11; 51, 13). An den ersten beiden Stellen spricht Zarathustra nach der Interpretation von H. S. Nyberg 53 von sich selbst als Seelengeleiter; die sich mit ihm in Ekstase vereinigt haben, werden mit Leichtigkeit die Brücke überschreiten; die Gottlosen, seine Gegner, werden «für immer Gäste im Hause des Übels sein» (nach der Übersetzung von Duchesne-Guillemin). Die Brücke bildet ja nicht nur den Übergang für die Toten, sie ist darüber hinaus, wie wir schon oft gesehen haben, der Weg der Ekstatiker. In Ekstase überschreitet Ardä Vîrâf die Brücke Cinvat auf seiner mystischen Reise. Nach Nybergs Interpretation wäre Zarathustra ein Ekstatiker gewesen, den sein religiöses Erlebnis dem «Schamanen» sehr nahe gerückt hat. Der schwedische Forscher glaubt in dem Gâthâ-Wort maga den Beweis dafür zu haben, daß Zarathustra und seine Schüler ein ekstatisches Erlebnis hervorzurufen wußten, und zwar durch rituelle Gesänge, die in einem abgeschlossenen Raum im Chor gesungen wurden (a.a. O., S. 157, 161, 176 usw.). In diesem heiligen Raum (maga) war die Verbindung zwischen Himmel und Erde ermöglicht (ebd., S. 157) und damit wurde - gemäß einer allgemein verbreiteten Dialektik - (vgl. Eliade, Religionen, S. 424 ff.) der heilige Raum zu einem «Zentrum». Nyberg stützt sich dabei auf die ekstatische Natur dieser Verbindung und vergleicht namentlich das mystische Erlebnis der «Sänger» mit dem Schamanismus im eigentlichen Sinn. Diese Interpretation hat den größten Teil der Iranisten gegen sich 54. Bemerken wir trotzdem dazu, daß die Ähnlichkeiten zwischen den ekstatischen und mythologischen Elemen- ten der zarathustrischen Religion und der Ideologie und Technik des Schamanismus sich aus einem größeren Ganzen erklären, das in keiner Weise eine «schamanische» Struktur des religiösen Erlebnisses Zarathustras erfordert. Der heilige Raum, die Bedeutung des Gesanges, die mystische oder symbolische Verbindung zwischen Himmel und Erde, die Initiations- oder Todesbrücke - all diese Elemente sind wohl integrierende Teile des asiatischen Schamanismus, gehen ihm jedoch voraus und reichen weiter als er.
Auf jeden Fall war die durch Hanfrauch hervorgerufene schama-nische Ekstase im alten Iran bekannt. Bangha wird zwar in den Gâthâ nicht erwähnt, doch im Fravashi-yasht kommt ein Pouru-bangha, <.der viel Hanf besitzt» vor (Nyberg, S. 177). Im Y as ht 19, 20 heißt es von Ahura-Mazdah, daß er «ohne Trance und ohne Hanf» ist (Nyberg, S. 178), und im Vidêvdât wird der Hanf als dämonisch erklärt (ebd., S. 177). Das scheint uns Beweis genug für eine totale Feindschaft gegen die schamanische Trunkenheit, die wahrscheinlich auch von den Iraniern herbeigeführt wurde, vielleicht im selben Maß wie von den Skythen. Soviel ist sicher, daß Ardâ Vîrâf seine Vision nach dem Einnehmen eines Getränks von Wein und «dem Narkotikum des Vichtaspe» bekam, das ihn für sieben Tage und sieben Nächte in Schlaf versenkte Sein Schlaf gleicht mehr einer schamanischen Trance, denn wie das Ardâ Vîrâf sagt, «verließ seine Seele den Körper und ging zur Brücke Cinvat, auf die Cakât-î-Dâitîk. Nach Verlauf von sieben Tagen kam sie zurück und ging wieder in seinen Körper ein» (Kap. III, Übers, von Barthélemy, S. 10). Wie Dante besuchte Vîrâf alle Orte des maz-däischen Paradieses und Infernums, wohnte den Folterungen der Gottlosen bei und sah die Belohnungen der Gerechten. Seine Reise jenseits des Grabes ist von diesem Gesichtspunkt aus den Berichten von schamanischen Abstiegen vergleichbar, von denen einige, wie wir gesehen haben, auch auf die Bestrafungen der Sünder Bezug nehmen. Die Unterweltsvorstellung der zentralasiatischen Schamanen wird wahrscheinlich den Einfluß orientalischer und zwar in erster Linie iranischer Ideen
erfahren haben, doch ist damit nicht gesagt, daß die schamanische Unterweltsfahrt auf exotischen Einfluß zurückgeht. Der orientalische Zustrom hat die dramatischen Szenarios der Bestrafungen nur reicher und farbiger gemacht; nur die Berichte von ekstatischen Unterweltsreisen haben sich durch die orientalischen Einflüsse bereichert - die Ekstase selbst war um vieles früher als diese Einflüsse (haben wir doch die Technik der Ekstase schon in archaischen Kulturen angetroffen, wo ein Einfluß aus dem alten Orient unmöglich ist).
So steht es - ohne daß man daraus über ein eventuelles «schamani-sches» Erlebnis bei Zarathustra selbst befinden könnte - außer Zweifel, daß die elementarste Ekstasetechnik, der Hanfrausch, den alten Iraniern bekannt war. Nichts verbietet die Annahme, daß die Iranier auch andre Konstitutiva des Schamanismus gekannt haben, zum Beispiel den (bei den Skythen belegten?!) magischen Flug oder die Himmelfahrt. Ardä Vîrâf tat «einen ersten Schritt» und erreichte die Sphäre des Mondes; der «dritte Schritt» brachte ihn zu dem Licht, das man «das höchste der höchsten» nennt, der «vierte Schritt» zum Licht des Garotman (Kap. 7-10, Übers. S. 19 ff.). Welches auch die Kosmologie dieser Himmelfahrt sei, sicher ist, daß der Symbolismus der «Schritte», dem wir auch im Mythus von der Geburt des Buddha begegneten, sich sehr genau mit dem Symbolismus der «Stufen» oder der Kerben im Schamanenbaum deckt. Diese Konstellation von Symbolismen steht in enger Beziehung zu der rituellen Himmelfahrt, und diese Himmelfahrten sind, wir haben es schon oftmals festgestellt, konstitutiv für den Schamanismus.
Die Bedeutung des Hanfrauschs wird andererseits durch die riesige Verbreitung unterstrichen, welche das iranische Wort durch ganz Zentralasien erfahren hat. Die iranische Bezeichnung für Hanf, bangba, wurde in vielen ugrischen Sprachen zur Bezeichnung sowohl des Schamanenpilzes par excellence, agaricus muscarius (welcher als Vergiftungsmittel vor oder während der Sitzung dient) als des Rauchs65; vgl. z. B. wogulisch pânkh «Pilz» (agaricus muscarius), mordwinisch panga, pango, tscheremissisch pongo «Pilz». Im Nordwogulischen bezeichnet pânkh auch «Rausch, Trunksucht». Die Hymnen an die Gottheiten erwähnen gleichfalls die durch Pilzvergiftung hervorgerufene Ekstase
55 Bernhard Munkacsi, «Pilz» und «Rausch» (Keleti Szemle 8, 1907, S. 343-344). Ich verdanke diesen Hinweis der Freundlichkeit Stig Wikanders.
(Munkàcsi, S. 344). Das beweist, daß der religiös-magische Glauben an die ekstatische Wirkung der Vergiftung iranischen Ursprungs ist. Im Verein mit den übrigen iranischen Einflüssen in Zentralasien, auf die wir noch zurückkommen werden, zeigt der batigha, wie groß das religiöse Ansehen des Iran damals war. Möglicherweise ist die Technik der schamanischen Vergiftung bei den Ugriern iranischen Ursprungs. Doch was beweist das für das ursprüngliche schamanische Erlebnis? Die Narkotika sind nur ein vulgärer Ersatz für die «reine» Trance. Wir konnten schon bei mehreren sibirischen Völkern diese Feststellung machen: Die Anwendung von Vergiftungen (Alkohol, Tabak) ist eine Neuerung aus jüngerer Zeit und verrät einen gewissen Niedergang der schamanischen Technik. Durch narkotischen Rausch sucht man einen geistigen Zustand nachzuahmen, den man nicht mehr anders zu erreichen im Stande ist. Dekadenz, oder auch Vulgarisierung einer mystischen Technik - im alten und im modernen Indien und im ganzen Orient begegnet man immer diesem seltsamen Nebeneinander von «schwierigen Wegen» und «leichten Wegen» zur mystischen Ekstase oder zu anderen entscheidenden Erfahrungen.
Es ist schwierig, in den mystischen Überlieferungen des islamisierten Iran nationales Erbe von islamischen oder orientalischen Einflüssen zu sondern. Aber kein Zweifel besteht darüber, daß viele Legenden und Wunder der persischen Hagiographie dem allgemeinen Vorrat der Magie und speziell des Schamanismus angehören. Wer nur in den beiden Bänden der Saints des derviches tourneurs von CI. Huart blättert, der findet auf Schritt und Tritt Wunder der reinsten schamanischen Tradition: Auffahrten, magischer Flug, Unsichtbarwerden, auf dem Wasser Gehen, Heilungen usw.57 Andererseits denkt man an die Rolle
Vgl. Huart. Les saints des derviches tourneurs. Récits traduits du persan I (Paris 1918), II (1922): Erkennen entfernter Ereignisse (I, S. 45), Licht, das von Körpern der Heiligen ausgeht (I, 37 ff., 80), Levitation (1, 209), Unbrennbarkeit: «Während der Seyyd die Unterweisung des Scheikhs hörte und ihre Geheimnisse entdeckte, wurde er dermaßen entflammt, daß er seine beiden Füße auf die Platte des Kohlenbeckens setzte und mit der Hand die glühenden Kohlenstücke herauszog...» (I, 56; man erkennt in dieser Anekdote die schamanische «Meisterschaft über das Feuer»); Zauberer werfen einen Burschen in die Luft und der Scheikh hält ihn dort fest (I, 65); plötzliches Verschwinden (I, 80), Unsichtbarkeit (II, 131), Allgegenwart (II, 173), Gehen auf dem Wasser, die Beine an der Wasserobe*fläche gekreuzt (II, 336), Auffahrt und Flug (II, 345). Professor Fritz Meier, Basel, teilt mir mit. daß nach dem noch unveröffentlichten biographischen Werk von Armin Ahmad Rhâzî (verfaßt 1594) der heilige Qutb
des Haschisch und anderer Narkotika in der islamischen Mystik, obwohl die reinsten unter den Heiligen nicht zu solchem Ersatz griffen 58.
Mit der Verkündigung des Islams unter den zentralasiatischen Türken schließlich wurden gewisse schamanische Elemente von den muselmanischen Mystikern angenommen 59. Professor Köprülüzade erwähnt, daß «nach der Legende Ahmed Yesevî und einige von seinen Derwischen sich in Vögel verwandelten und die Fähigkeit hatten zu fliegen» (Influence, S. 9). Entsprechende Legenden waren über die heiligen Bektâchî in Umlauf (ebd.). Im 13. Jahrhundert zeigte sich Barak Baba - Gründer eines Ordens, dessen rituelles Merkmal «die Kopfbedeckung mit zwei Hörnern» war - in der Öffentlichkeit auf einem Strauß reitend, und die Legende sagt, daß «der Strauß unter dem Einfluß seines Reiters ein wenig flog» (ebd., S. 16-17). Möglicherweise gehen diese Einzelheiten wirklich auf den Einfluß des turko-mongolischen Schamanismus zurück, wie der erwähnte Turkologe behauptet. Doch die Fähigkeit, sich in einen Vogel zu verwandeln, gehört allen Arten von Schamanismus an, dem turko-mongolischen nicht anders als dem arktischen, amerikanischen, indischen und ozeanischen. Was das Vorkommen des Straußes in der Legende von Barak Baba betrifft, so fragt man sich, ob das nicht eher südlichen Ursprung anzeigt.
ud-clin Haydar (12. Jh.) in dem Ruf der Unempfindlichkeit gegen Feuer und größte Kälte stand; außerdem wurde er häufig auf den Dächern und auf den Wipfeln der Bäume gesehen.
58 Seit dem 12. Jh. machte sich der Einfluß der Betäubungsmittel (Haschisch, Opium) in bestimmten persischen mystischen Orden geltend, vgl. L. Massignon, Essai sur les origines du lexique technique de la mystique musulmane (Paris 1922), S. 86 ff. Der raqs, ekstatischer Jubel-«Tanz», der tamziq, «Zerreißen der Kleider» in der Trance, der nazar i/a'l mord, der «platonische Blick», eine Form, die der Ekstase durch erotische Inhibition sehr verdächtig ist, sind einige Anzeichen der Trance durch Betäubungsmittel; diese elementaren Ekstase-Rezepte ließen sich ebensowohl mit präislamischen mystischen Techniken wie mit gewissen abwegigen indischen Techniken in Beziehung bringen, welche dann den Sufismus beeinflußt hätten (Massignon, a.a. O., S. 87).
59 Vgl. Köprülüzade Mehmed Fuad, Influence du chamanisme turco-mongol sur les ordres mystiques musulmanes (Mémoires de l’Institut de Turcologie de l'Université de Stamboul, N. S. I, 1929); s. auch den Auszug aus seinem türkisch geschriebenen Buch über «Die ersten Mystiker in der türkischen Literatur» (Konstantinopel 1919) von L. Bouvat, Revue du Monde Musulman, 43. Bd., Febr. 1921, S. 236-266.
Das alte Indien: Auffahrtsriten
Wir erinnern uns an die rituelle Bedeutung der Birke in der turko-mongolischen Religion und besonders im Schamanismus: Die Birke oder der Pfosten mit sieben oder neun Kerben symbolisiert den Kosmischen Baum und gilt deshalb als im «Zentrum der Welt» befindlich. Indem er sie erklettert, erreicht der Schamane den obersten Himmel und dringt bis zu Bai Ülgän vor.
Wir begegnen dem nämlichen Symbolismus im brahmanischen Ritual; auch dieses enthält eine zeremonielle Auffahrt bis in die Welt der Götter. Denn «das Opfer hat nur einen festen Ruhepunkt, eine einzige Wohnstatt: die himmlische Welt» (Çatapatha Brâbmana VIII, 7,4,6). «Das Opfer ist eine sichere Fähre» (Ailareya Br., III, 2,29); «das Opfer in seiner Ganzheit ist das Schiff, das zum Himmel führt» ('Çatapatha Br., IV, 2, 5, 10) Der Mechanismus des Rituals ist eine dûrohana61, eine «schwierige Auffahrt», denn dazu gehört auch die Besteigung des Weltenbaums.
Tatsächlich ist der Opferpfosten (yüpa) aus einem Baum gemacht, der dem Kosmischen Baum gleichgesetzt wird. Der Priester selbst in Begleitung des Holzhauers sucht ihn im Wald aus (Çatapatha Br., III, 4, 6, 1; usw.). Während er gefällt wird, redet der Opferpriester ihn auf folgende Weise an: «Mit deinem Wipfel zerreiß nicht den Himmel, mit deiner Mitte verletz nicht die Luft!...» ( Çatapatha Br.. III, 6,4,13; Taitti-rîya Samhilâ, I, }, 5; usw.). Der Opferpfosten wird zu einer Art Weltsäule: «Erhebe dich, o vanaspâli (Herr des Waldes), bis zum Gipfel der Erde!» ruft ihn der Rig Veda (III, 8, 3) an. «Mit deinem Wipfel trägst du den Himmel, mit deiner Mitte erfüllst du die Luft, mit deinem Fuß festigst du die Erde», verkündet der Çatapatha Brâbmana, III, 7, 1, 14.
An diesem kosmischen Pfeiler entlang steigt der Opfernde zum Himmel auf, allein oder mit seiner Gattin. Indem er eine Leiter an den Pfosten lehnt, spricht er zu seiner Frau: «Komm, steigen wir zum Himmel!» und die Frau antwortet «Steigen wir!». Dreimal wechseln sie diese rituellen Worte (Çatapatha Br., V, 2, 1,9, usw.). Zuoberst an-
60 Vgl. die zahlreichen Texte bei Sylvain Lévi, La doctrine du lacrifice dans les Brâh-manas (Paris 1898), S. 87 ff.
61 Über den Symbolismus der dürohana s. unsern Artikel Dürohana and the «waking dream». (Art and Thought. Coomaraswamy Volume, London 1947, S. 209-213).
gelangt, berührt der Opfernde das Kapital, breitet die Hände aus (wie ein Vogel seine Flügel!) und ruft: «Ich habe den Himmel erreicht, ich bin unsterblich geworden!» (Taittirîya-Samhitâ, I, 7,9,2; usw.). «Wahrlich, der Opferer macht sich eine Leiter und eine Brücke, um die himmlische Welt zu erreichen» (ebd., VI, 6,4, 2, usw.).
Der Opferpfosten ist eine Axis Mundi, und ganz wie die archaischen Völker die Opfergaben durch das Rauchloch oder den Mittelpfeiler ihres Hauses zum Himmel schicken, so war der vedische yûpa ein «Gefährt des Opfers» (Rig Veda, III, 8, 3). Man richtet Gebete an ihn wie die folgenden: «O Baum, laß das Opfer zu den Göttern gehen!» (RH I, 13, 11); «O Baum, möge das Opfer sich zu den Göttern auf-machen!» (ebd.).
Wir erinnern uns an den Vogelsymbolismus der Schamanentracht und die vielen Beispiele magischen Fluges bei den sibirischen Schamanen. Ähnliche Ideen trifft man im alten Indien: «Der Opferer wird ein Vogel und erhebt sich zur himmlischen Welt», sagt die Pancavimça Brâhmana, V, 3, 5 62. Viele Texte sprechen von Flügeln, die man haben muß, um den Wipfel des Baumes zu erreichen (Jaiminiya Upanisad Brâhmana, III, 13, 9), von dem «Gänserich, dessen Thron im Licht ist» (Kausitaki Up., V, 2), von dem Opferpferd, das in Gestalt eines Vogels den Opferer bis in den Himmel bringt (Mahîdhara zu Çalapatha Br. XIII, 2, 6, 15) usw. 63. Und die Überlieferung vom magischen Flug ist, wie wir sogleich sehen werden, im alten und mittelalterlichen Indien im Überfluß bezeugt, und zwar immer im Zusammenhang mit Heiligen, Yogis und Zauberern.
«Auf einen Baum klettern» wird in den brâhmanischen Texten zu einem ziemlich häufigen Bild für die geistige Auffahrt 64. Derselbe Symbolismus hat sich in den Volksüberlieferungen erhalten, ohne daß seine Bedeutung jedoch überall klar ersichtlich ist 65.
62 Zitiert bei A. Coomoraswamy, Srayamälmcü: janua Coeli (Zalmoxis 11, 1959, S. 1-51), S. 47.
63 Vgl. die übrigen von Coomoraswamy (a. a. O., S. 8. 46, 47 usw.) gesammelten Texte, dazu auch S. Lévi, a. a. O,, S. 93 Derselbe Reiseweg gilt natürlich auch nach dem Tod: S. Lévi, S. 93 ff.; H. Güntert, Der arische Wellkönig und Heiland (Halle 1923). S. 401 ff.
64 Vgl. Z. B. die Texte bei Coomoraswamy, Scayamâirnnà, S, 7, 42 usw.; s. auch Paul Mus, Barabudur 1, S. 318.
65 Vgl. Tawney-Penzer, The Ocean of Story ISomadevdi Kathâsarinâgara, London 1923 ff ), Bd. I, S. 153, II, S. 387, VIII, S. 68 ff. usw.
Die Himmelfahrt schamanischen Typs begegnet auch in den Legenden von der Geburt des Buddha. «Sobald er geboren ist», sagt die Majjimanikaya, III, 123, «setzt der Boddhisattva seine Füße auf den bloßen Boden und macht, nach Norden gewandt, sieben Sätze, durch einen weißen Sonnenschirm geschützt. Er betrachtet alle Gegenden rund herum und sagt mit seiner Stierstimme: ,Ich bin der Höchste auf der Welt, ich bin der Beste auf der Welt, ich bin der Älteste auf der Welt; das ist meine letzte Geburt; in Zukunft wird es keine neue Existenz mehr für mich geben .» Die sieben Schrille bringen den Buddha zum Gipfel der Welt; ebenso wie der altaische Schamane, der die sieben oder neun Kerben der Zeremonialbirke hinaufsteigt, um schließlich zum letzten Himmel zu gelangen, durchmißt der Buddha auf symbolische Weise die sieben kosmischen Stockwerke, denen die sieben Planetenhimmel entsprechen. Also - unnötig zu sagen - das alte kosmologische Schema der schamanischen (und vedischen) Himmelfahrt, nur um den tausendjährigen Zustrom der indischen metaphysischen Spekulation bereichert. Nicht mehr der vedischen «Welt der Götter» und der «Unsterblichkeit» gelten die sieben Schritte des Buddha, sondern dem Überschreiten des menschlichen Standes. Die Wendung «ich bin der Höchste auf der Welt» (aggo’ham asmi lokassa) bedeutet nichts anderes als die Transzendenz des Buddha über den Raum, während die Wendung «ich bin der Älteste auf der Welt» ( jettho’ham asmi lokassa) seine Überzeitlichkeit bezeichnet. Denn mit dem kosmischen Gipfel erreicht der Buddha das «Zentrum der Welt», und da die Schöpfung von einem «Zentrum» (Gipfel) ausgegangen ist, wird der Buddha gleichzeitig mit dem Beginn der Welt 66.
Die Vorstellung von den sieben Himmeln, auf welche die Majjimanikaya anspielt, geht auf den Brahmanismus zurück - wahrscheinlich ein Einfluß der babylonischen Kosmologie, welche, wiewohl indirekt, sich
66 Es ist hier nicht der Ort, die Dikussion über dieses Detail der Geburt des Buddha weiterzutreiben, doch mußten wir es im Vorbeigehen berühren, um einerseits die Mehrwertigkeit des archaischen Symbolismus zu zeigen, die ihn für neue Interpretationen un-begrenzt offen läßt, und andererseits zu betonen, daß das Überleben eines «schamanischen» Schemas in einer entwickelten Religion keineswegs die Bewahrung des ursprünglichen Gehaltes bedeutet. Dasselbe gilt natürlich auch für die verschiedenen Auffahrtsschemata der christlichen und der islamischen Mystik. Vgl. auch unsere Artikel Sapta padani gacchati... (Munshi Memorial Volume. Bombay 1948. S. 180-188) und Les Sept pat du Bouddha (Pro regno pro Sanctuario, Hommage Van der Leeuw, Niikerk 1950, S. 169-175).
auch in den kosmologischen Vorstellungen der Altaier und Sibirier abgezeichnet hat. Doch der Buddhismus kennt auch ein kosmologisches Schema mit neun Himmeln, das jedoch stark «verinnerlicht» ist; die vier ersten Himmel entsprechen den vier jhänas, die nächsten vier den vier saltâvâsa und der neunte und letzte Himmel symbolisiert das Nirvana 67. In jeden von diesen Himmeln ist eine Gottheit des buddhistischen Pantheons versetzt, welche zugleich einen bestimmten Grad der yogischen Meditation repräsentiert. Nun wissen wir, daß bei den Al-taiern die sieben oder neun Himmel von verschiedenen göttlichen oder halbgöttlichen Figuren bewohnt werden, die der Schamane bei seiner Auffahrt trifft und mit denen er sich unterhält; im neunten Himmel findet er sich vor Bai Ülgän. Offensichtlich handelt es sich im Buddhismus nicht mehr um eine symbolische Auffahrt in die Himmel, sondern um die Grade der Meditation und zugleich um «Schritte» zur endlichen Befreiung. (Es scheint, daß der buddhistische Mönch nach seinem Tod die himmlische Ebene erreicht, zu welcher er im Leben durch seine yogischen Erlebnisse gelangt ist, und nur der Buddha erreicht das Nirvana; vgl. auch W. Ruben, S. 170.)
Das alte Indien: «magischer Flug,
Der brâhmanische Opferet steigt zum Himmel durch die rituelle Ersteigung einer Leiter; der Buddha transzendiert den Kosmos, indem er auf symbolische Weise die sieben Himmel durchmißt; in der Meditation vollzieht der buddhistische Yogi eine Auffahrt rein geistiger Ordnung. Typologisch haben all diese Akte an der nämlichen Struktur teil; jeder ist auf der ihm eigenen Ebene eine besondere Weise, die profane Welt zu transzendieren und die Welt der Götter, das Wesen, das Absolute zu erreichen. Wir haben bereits gezeigt, inwieweit man solche Handlungen in die schamanische Tradition der Himmelfahrt einordnen kann; der einzige große Unterschied liegt in der Intensität des schamanischen Erlebnisses, das, wie wir wissen, Ekstase und Trance
67 Vgl. W. Kirfel. Die Kotmographie der Inder (Bonn-Leipzig 1920), S. 190 ff. Die neun Himmel kennt auch die Brbadäranyaka Up. III. 6, 1, vgl. W. Ruben, Schama-nismus im alten Indien (Acta Orientalia, 17. Bd., 1939, S. 164-203). S. 169. Uber die Beziehungen zwischen den kosmologischen Schemata und den Graden der Meditation vgl. P. Mus, Barabudur, passim.
einschließt. Aber auch das alte Indien kennt die Ekstase, welche die Auffahrt und den magischen Flug möglich macht. Der «Ekstatiker» (muni) mit langen Haaren (keçin im Rig Veda X, 136) erklärt ein für alle Mal: «In der Trunkenheit der Ekstase haben wir den Wagen der Winde bestiegen. Ihr Sterblichen könnt nur unsere Körper wahrnehmen ... Der Ekstatische ist das Pferd des Windes, der Freund des Sturmgottes, gespornt von den Göttern ... 68.» Erinnern wir uns, daß die Trommel der altaischen Schamanen «Pferd» genannt wird und daß bei den Buriäten zum Beispiel der Stock mit Pferdekopf, der übrigens den Namen «Pferd» hat, eine wichtige Rolle spielt. Die durch den Klang der Trommel oder durch einen Reittanz auf einem Stock mit Pferdekopf (einer Art hobby-horse) hervorgerufene Ekstase wird einem phantastischen Ritt durch die Himmel gleichgesetzt. Wie wir sehen werden, benützt bei bestimmten nichtarischen indischen Völkern der Zauberer heute noch ein Holzpferd oder einen Stock mit Pferdekopf zu seinem ekstatischen Tanz.
Im selben Hymnus des Rig Veda (X, 136) heißt es, daß «die Götter in sie eingegangen sind...»; es handelt sich um eine Art mystischer Besessenheit, die auch im nichtekstatischen Milieu hohen geistigen Wert behält (Zeuge dessen die Brihadâranyaka Upanisad, III, 3-7). Der muni «bewohnt die beiden Meere, das im Aufgang und das im Untergang... Er geht auf den Wegen der Apsaras, der Gandharvas, der wilden Tiere...» (RV X, 136). Der Atharva Veda, XI, 5, 6 singt das Lob des Schülers, der von der magischen Kraft der Askese (tapas) erfüllt ist: «In einem Augenblick geht er vom Ostmeer zum Nordmeer.» Dieses makranthropische Erlebnis, das seine Wurzeln in der schama-nische Ekstase hat 69, bleibt im Buddhismus bestehen und erfreut sich in den yogisch-tantrischen Techniken erheblicher Bedeutung 70.
68 Uber diesen muni s. E. Arbman, Rudra (Uppsala-Leipzig 1922). S. 298 ff. Über die religiös-magische Bedeutung der langen Haare s. ebd., S. 302. (Wir erinnern uns an die «Schlangen» der sibirischen Scbamanentracht, s. o, S. 151 ff.) Über die frühesten vedischen Ekstasen vgl. J. W. Hauer, Die Anfänge der Yogapraxis (Stuttgart 1922), S. 116 ff., 120; und Eliade, Le Yoga, Immortalité et Liberté, (Paris 1954) S. 112.
69 Vgl. z. B. den sehr dunklen Hymnus des Vratya fAtharva Veda XV, 5 und die folgenden). Die Homologien zwischen menschlichem Körper und Kosmos übersteigen natürlich das schamanische Erlebnis im eigentlichen Sinn, aber man sieht, daß vratya wie muni ihre Makranthropie in einer ekstatischen Trance erlangen.
70 Der Buddha sieht sich im Traum als einen Riesen, der seine Arme in den beiden Ozeanen hat: Angultâra Piikâya III. 240; vgl. auch W. Rubén, S. 167. Unmöglich, hier
Auffahrt und magischer Flug haben eine Vorzugsstellung in den volkstümlichen Glaubensvorstellungen und mystischen Techniken Indiens. Sich in die Lüfte erheben, wie ein Vogel fliegen, enorme Entfernungen blitzschnell zurücklegen, unsichtbar werden - das sind einige von den magischen Kräften, welche Buddhismus und Hinduismus den Arhats, Königen und Zauberern zuschreiben. Es gibt eine beträchtliche Anzahl von Legenden über fliegende Könige und Magier 71. Der wunderbare See Anavatapta war nur für die zu erreichen, welche die übernatürliche Fähigkeit hatten durch die Luft zu fliegen; Buddha und die buddhistischen Heiligen gelangten zum Anavatapta in einem Augenblick, wie in den Hindu-Legenden die Rishis sich in die Luft werfen zu einem göttlichen geheimnisvollen Nordland Çvetadvîpa hin 72. Es handelt sich dabei natürlich um «reine Länder», um einen mystischen Raum, welcher zugleich die Natur eines «Paradieses» hat und die eines «inneren Raums», der nur Eingeweihten zugänglich ist. Der See Anavatapta wie das Land Çvetadvîpa und die anderen buddhistischen «Paradiese» sind ebensoviel Seinsweisen, welche man dank Yoga, Askese oder Kontemplation erlangt. Doch ist es wichtig, die Identität des Ausdrucks zu unterstreichen, die zwischen solchen über-menschlichen Erlebnissen und dem archaischen Auffahrts- und Flugsymbolismus besteht, von dem der Schamanismus so häufig Gebrauch macht.
Die buddhistischen Texte sprechen von vier Arten magischer Versetzungskraft (gamuna) ; die erste ist die Kraft des vogelartigen Flugs 73. Patanjali zitiert unter den siddhi die Fähigkeit durch die Lüfte zu flie-
alle in den frühesten buddhistischen Texten enthaltenen «st ha,manischen» Spuren au erwähnen. Viele iddbi haben eine deutlich schamanische Struktur, z. B. die magische Fähigkeit «in die Erde einzutauchen und wieder daraus hervorzutauchen, als ob cs Wasser wäre» (Angullara !, 254 ff. usw.). S. auch u. S. 391 ff.
71 Vgl. z. B. Tawney-Penzer, The Ocean of Story II, S. 62 ff ; III. 27, 35; V, 33, 35, 169 ff.; VIII, 26 ff., 50 ff.; usw.
72 Vgl. W. E. Clark, Sahadttpa and Stetadvipa (Journal of the American Oriental Society, 30. Bd„ 1919. S. 209-242), passim; Eliade, Le Yoga. S. 397 ff. Anm. 1. Über den Anavatapta vgl. De Visser, The Arhats in China and /apart (Berlin 1923, 4. Sonder-Veröffentlichung der Ostasiatischen Zeitschrift), S. 24 ff.
73 Vgl. V/suddbtmagga, S. 396. Über den gamana s. Sigurd Lindqvist, Siddhi und Abhiniia (Uppsala 1935), S. 58 ff. Gute Bibliographie der Quellen über die ahhijnä bei Etienne Lamotte, Le Traité de la Grande Vertu de Sagene de Nâgâr/una (Mahd-prajnàpàramitâsâstra, 1. Bd„ Löwen 1944), S. 329, Anm. I.
gen (laghiman), welche die Yogi.erlangen können 74. Nur durch die «Kraft des Yoga» warf sich im Mahâbhârata der weise Nrada jedesmal in die Himmel und erreichte den Gipfel des Berges Meru (des «Zentrums der Welt»); von dort oben sah er sehr weit entfernt im Milchozean Cvetadvîpa (Mahâbhârata XIII, 335, 2 ff.). Denn «mit einem solchen (yogischen) Körper wandelt der Yogi wohin er will» (ebd., XII, 317,6). Doch eine andere im Mahâbhârata aufgezeichnete Tradition macht bereits die Unterscheidung zwischen der wirklichen mystischen Auffahrt, von der man nicht sagen kann, daß sie immer «konkret» ist, und dem «magischen Flug», der nichts ist als eine Illusion: «Auch wir können in die Himmel fliegen und uns in verschiedenen Gestalten zeigen, aber durch Illusion» (ntâyayâ; Mbh. V 160, 55 ff.).
Man sieht, in welchem Sinn Yoga und andere indische meditative Techniken die ekstatischen Erlebnisse und magischen Fähigkeiten eines unvordenklich alten geistigen Erbes ausgearbeitet haben. Wie dem auch sei, das Geheimnis des magischen Fluges ist auch der indischen Alchimie bekannt 75. Und für die buddhistischen Arhats ist dieses Wunder so gewöhnlich 76, daß arahant das singhalesische Verbum rahatve, «verschwinden, augenblicklich von einem Punkt zum anderen wechseln» ergeben hat 77. Die daktnis, Feen und Zauberinnen, die in bestimmten tantrischen Schulen eine wichtige Rolle spielen (vgl. Eliade, Le Yoga, S. 205 ff.), heißen auf mongolisch «die, welche in den Lüf-
74 Yoga-Sûtra III, 45; vgl. Gheranda Samhitâ III, 78; Eliade, Le Yoga, S. 325 ff. Über die ähnlichen Überlieferungen in den beiden indischen Epen s. E. W. Hopkins, Yoga-technique in the Great Epic (Journal of the American Oriental Society 1901 22. Bd., S. 333-379), S. 337, 361.
75 S. Eliade, Le Yoga, S. 276 ff., 397, Anm. 1. Ein persischer Autor versichert, die Yogi «könnten in der Luft fliegen wie Hühner, so unwahrscheinlich dies klinge» (ebd.).
76 Über den Flug der Arhats s. De Visser, a. a. O., S. 172 ff.; Sylvain Lévi und Ed. Chavannes, Lei seize arhats protecteurs de la loi (Journal Asiatique 1916, 8. Bd., S. 1-50, 189-304), S. 23: Der Arhat Nadimitra «erhob sich in den Raum bis zur Höhe von sieben lala-Bäumen» usw.; S. 262 ff.: Der Arhat Piodola. der im Anavatapta wohnt, wurde vom Buddha bestraft, weil er durch die Luft geflogen war mit einem Berg in den Händen und so auf unangemessene Weise seine magischen Kräfte den Profanen zeigte; der Buddhismus verbot bekanntlich das Zurschaustellen der siddhi.
77 A. M. Hocart, Flying through the air (Indian Antiquary 1923. S. 80-82), S. 80. Hocart erklärt alle diese Legenden in Übereinstimmung mit seinen Theorien über das Königtum: Die Könige, die Götter sind, können den Boden nicht berühren und deshalb nimmt man an, dal) sie durch die Luft gehen. Aber der Symbolismus des Fluges ist komplexer und man kann ihn keinesfalls aus der Vorstellung von Gottkönigen ableiten.
ten gehen» und auf tibetanisch «die, welche in den Himmel gehen» Der magische Flug und die Himmelfahrt mit Hilfe einer Leiter oder eines Seils sind auch in Tibet häufige Motive, wo sie nicht notwendig Entlehnungen aus Indien darstellen, zumal sie in den Bon-po-Über-lieferungen, oder in von diesen abgeleiteten, bezeugt sind. Übrigens spielen dieselben Motive, wie wir sogleich sehen werden, eine beträchtliche Rolle im Zauberglauben und der Folklore der Chinesen, ja begegnen fast überall in der archaischen Welt.
Alle diese Belegstücke, die wir hier - für unseren Geschmack ein wenig zu flüchtig - zusammengestellt haben, sind nicht notwendig «schamanisch»: ein jedes ist in seinem Zusammenhang, aus dem wir es möglichst bequem für unsere Darlegung ausgezogen haben, Träger einer nur ihm eigenen Bedeutung. Doch es handelt sich darum, die strukturelle Gleichwertigkeit dieser Erscheinungen der indischen religiösen Magie zu zeigen. Der Ekstatiker wie auch der Magiker erscheint im Rahmen der indischen Religion nicht als einzigartiges Phänomen, es sei denn durch die Intensität seines mystischen Erlebnisses oder die Überlegenheit seiner Magie, findet sich doch die zugrundeliegende Theorie, die Himmelfahrt, wie wir gesehen haben, sogar im Symbolismus des brâhmanischen Opfers.
Was die Auffahrt des muni von der Auffahrt im brâhmanischen Ritual unterscheidet, ist gerade ihr Erlebnischarakter. Sie ist eine «Trance», die sich mit der «großen Sitzung» des sibirischen Schamanen vergleichen läßt. Aber das Wichtige daran ist, daß dieses ekstatische Erlebnis der allgemeinen Theorie des brâhmanischen Opfers nicht widerspricht, wie sich ja auch die Trance des Schamanen erstaunlich gut dem Rahmen des kosmo-theologischen Systems der sibirischen und altaischen Religionen einfügt. Der Hauptunterschied zwischen beiden Auffahrtstypen liegt in der Intensität des Erlebnisses, ist also letzten Endes psychologischer Ordnung. Aber wie groß diese Intensität auch sein mag, mitteilbar wird das ekstatische Erlebnis durch eine Symbolik von universeller Reichweite und es wird gültig in dem Maß, als es ihm gelingt sich in das bestehende religiös-magische System einzufügen. Die Fähigkeit zu fliegen kann, wie wir gesehen haben, auf mehrfache Weise erreicht werden: durch schamanische Trance, mystische Ekstase,
78 Vgl. J. van Durme. Notes tttr le lamaïsme (Mélanges chinoises et bouddhiques I, Brüssel 1932, S. 263-319), S. 37-i, Anm. 2.
magische Techniken, aber auch durch harte geistig-seelische Disziplin wie im Yoga des Patanjali, durch kräftige Askese wie im Buddhismus oder durch alchimistische Praktiken. Diese Mehrzahl von Techniken entspricht ohne Zweifel einer Vielfalt von Erlebnissen und, wenngleich in geringerem Grad, auch verschiedenen Ideologien (Raub durch Geister, «magische» und «mystische» Auffahrt usw.). Aber alle diese Techniken und alle diese Mythologien haben eines gemeinsam, die Bedeutung, die man der Fähigkeit des Fliegens beimißt. Diese «magische Kraft» ist nicht ein isoliertes, in sich selbst gültiges, ausschließlich auf das persönliche Erlebnis des Magiers gegründetes Element -im Gegenteil, sie fügt sich vielmehr einem theologisch-kosmologischen Ganzen ein, das viel weiter reicht als die verschiedenen schamanischen Ideologien.
Der tapas und die dîksâ
Dieselbe Kontinuität zwischen Ritual und Ekstase erweist sich auch an einem anderen Begriff, welcher in der panindischen Ideologie eine bedeutende Rolle spielt, dem Begriff des lapas. Die Bedeutung des Wortes geht aus von «äußerste Hitze»; schließlich bezeichnete es aber die asketische Anstrengung im allgemeinen. Der lapas ist im Rig Veda deutlich belegt (vgl. z. B. VIII, 59,6; X, 136,2; 154,2,4; 167,1; 109,4 usw.) und seine Kräfte sind schöpferisch sowohl auf kosmischer als auf geistiger Ebene: Durch den tapas wird der Asket hellsehend und vermag sich sogar die Götter einzukörpern. Prajäpati erschafft die Weit, indem er sich durch die Askese bis zum äußersten «erhitzt» (Aitareya Brâbmaaa V, 32, 1); er erschafft sie nämlich durch eine Art magisches Schwitzen, wozu wir schon anderen Orts die kosmogonischen Parallelen getroffen haben. Die «innere Hitze» oder «mystische Wärme» ist schöpferisch; sie wird zu einer Art magischer Kraft, die, auch wenn sie sich nicht unmittelbar in einer Kosmogonie erweist (vgl den Prajâpati-Mythus), doch auf einer bescheideneren kosmischen Ebene «erschafft»: Sie schafft z. B. die zahllosen Wunder der Asketen und Yogi (magischer Flug, Aufhebung der physikalischen Gesetze, Verschwinden usw.). Nun erinnern wir uns, daß die «innere Hitze» einen integrierenden Teil der Technik der «primitiven» Zauberer und Schamanen bildet; sie äußert sich allenthalben in der «Herrschaft über das Feuer» und letzten Endes in der Aufhebung der physikalischen Gesetze. Das heißt also: der richtig «erhitzte» Magier kann «Wunder» tun, kann neue Existenzbedingungen im Kosmos schaffen - er wiederholt gewissermaßen die Kosmogonie. Von diesem Gesichtspunkt betrachtet wird Prajâpati zu einem Archetyp des «Zauberers».
Diese außerordentliche Flitze erzielte man entweder durch Meditieren am Feuer - diese asketische Methode hat in Indien großes Glück gemacht - oder indem man den Atem zurückhielt (vgl. z. B. Baudbâ-yana Dharma Sûtra IV, 1, 24; usw.). Man braucht kaum zu erwähnen, daß die Atemtechnik und das Anhalten des Atems innerhalb des Komplexes asketischer Praktiken und magisch-mystisch-metaphysischer Theorien, den man unter dem allgemeinen Terminus Yoga begreift eine beträchtliche Rolle einnimmt. Der tapas im Sinne asketischer Anstrengung bildet einen integrierenden Teil jeder Art von Yoga, und es erscheint uns wichtig, im Vorbeigehen auf seinen «schamanischen» Gehalt hinzuweisen. Wie wir sogleich sehen werden, hat die «mystische Hitze» im eigentlichen Sinn des Wortes im tantrischen Yoga des Himalajagebietes und Tibets große Bedeutung. Die klassische Yoga-Tradition, soviel sei schon hier gesagt, benützt die durch das prânayâma verliehene «Kraft» zu einer «Kosmogonie nach rückwärts», und zwar in dem Sinn, daß diese Kraft, statt zur Erschaffung neuer Welten (und damit neuer «Wunder») zu führen, dem Yogi vielmehr die Ablösung von der Welt, ja in gewissem Sinn ihre Zerstörung ermöglicht, kommt doch die yogische Befreiung einer vollkommenen Lösung des Verbandes mit dem Kosmos gleich. Für einen jivanmukta existiert das Universum nicht mehr, und wenn man den Prozeß in seinem eigenen Innern auf die Ebene des Kosmischen projizierte, so hätte man eine völlige Resorption der kosmischen Formen in der ersten Substanz (prakriti), mit anderen Worten eine Rückkehr zu dem undifferenzierten Zustand von vor der Schöpfung. Das alles übersteigt bei weitem den Horizont der «schamanischen» Ideologie, doch das Bemerkenswerte ist die Tatsache, daß die indische Geistigkeit als Mittel zur metaphysischen Befreiung eine archaische magische Technik eingesetzt hat, der die Fähigkeit zugesprochen wurde die physikalischen Gesetze aufzuheben und sogar in die Konstitution des Universums einzugreifen.
79 S. unsere Arbeiten Yoga (Paris 1956) und Techniques du Yoga (Paris 1948));
Le Yoga, Immortalité et Liberté (Paris 1954).
Doch der tapas ist nicht eine ausschließlich den «Ekstatikern» vorbehaltene Askese, er bildet einen Teil der religiösen Erfahrung der Laien. Denn das Soma-Opfer verlangt unbedingt, daß der Opferer und seine Frau die dtksâ vollziehen, also einen Weiheritus, welcher den tapas einschließt80. Zur dtksâ gehören asketische Nachtwache, schweigende Meditation, Fasten und eben auch «Hitze», der tapas, und diese «Weihezeit kann von ein, zwei Tagen bis zu einem Jahr dauern. Nun ist das Soma-Opfer eines der bedeutendsten im vedischen und brâh-manischen Indien, und somit bildet die Askese zum Zweck der Ekstase notwendig einen Bestandteil des religiösen Lebens des ganzen indischen Volkes. Die Kontinuität zwischen Ritual und Ekstase, welche wir schon anläßlich der Auffahrtsriten (der Profanen) und des mystischen Flugs (der Ekstatiker) festgestellt haben, bestätigt sich auch auf der Ebene des tapas. Es bleibt zu fragen, ob das indische religiöse Leben in seiner Gesamtheit und mit allen seinen Symbolismen aus einer Reihe von ekstatischen Erlebnissen einiger Privilegierter hervorgegangen ist, welche bei der Anpassung an die profane Welt dann eine gewisse «Degradierung» erfuhren, oder ob im Gegenteil das ekstatische Erlebnis dieser Privilegierten nur das Ergebnis einer «Verinnerlichung» bestimmter kosmo-theologischer Schemata ist, die ihm vorausgingen. Eine folgenschwere Frage, doch übersteigt sie die Ebene der indischen Religionsgeschichte und auch den Gegenstand der vorliegenden Arbeit 8‘.
«Schamartische» Symbolismen und Techniken in Indien
Für die schamanische Heilung durch Zurückrufung oder Aufsuchen der flüchtigen Seele des Kranken gibt der Rig Veda einige Beispiele. Der Priester redet den Sterbenden auf folgende Weise an: «Deinen Geist, der sich aufgemacht hat in den Himmel, deinen Geist, der sich aufgemacht hat zu den Enden der Erde... wir lassen ihn zurück-
80 über dtksä und tapas s. H. Oldenberg, Die Religion des Veda (2. Auf!., 1917), S. 397: A. Hillebrandt. Vediscbe Mythologie (2. Aufl.. Breslau 1927-1928) I, S. 482 ff.: J. W. Hauer, Die Anfänge der Yogapraxis. S. 55 ff.; A. B. Keith, The Religion and the Philosophy of the Veda and Upanisbads (Cambridge, Mass., 1925) I, S. 300 ff. Vgl. auch Meuli. Scythiea, S. 134 ff.
81 Wir wagen zu hoffen, daß die vorliegende Arbeit zeigt, in welchem .Sinn das Problem zu stellen ist.
kommen zu dir, damit du hier wohnest, damit du hier lebest!» (RV, X, 58). Ebenfalls im Rig Veda (X, 57, 4 ff.) beschwört der Brahmane die Seele des Patienten so: «Möge der Geist zu dir zurückkehren, um zu wollen, zu handeln, zu leben und lange die Sonne zu sehen. O Väter, möge das Volk der Götter uns den Geist zurückgeben; wir wollen bei der Herde der Lebenden bleiben!...» Und in den medizinisch-magischen Texten des Atharva Veda ruft der Magier, um den Sterbenden zum Leben zurückzubringen, vom Wind seinen Atem und von der Sonne seine Augen zurück, fügt die Seele wieder in den Körper ein und befreit den Kranken von den Banden Nirrtis (AV VIII, 2, 3; VIII, 1, 3,1; usw.).
Es handelt sich hier natürlich nur um Spuren von schamanischer Heilung, und wenn die indische Medizin später bestimmte traditionelle magische Ideen verwendet hat, so gehörten sie nicht der eigentlichen schamanischen Ideologie an82. Schon das Zurückrufen der verschiedenen «Organe» aus den kosmischen Gegenden, auf das der Zauberer in Atharva Veda anspielt (siehe auch RV X, 16, 3) impliziert eine andere Auffassung, nämlich die vom Menschen als Mikrokosmos; und obwohl diese Auffasung ziemlich altertümlich zu sein scheint (vielleicht indogermanisch), ist sie doch nicht «schamanisch». Nichtsdestoweniger ist in einem Buch des Rig Veda (dem jüngsten) die Zurück-rufung der flüchtigen Seele des Kranken bezeugt, und da ebendiese schamanische Ideologie und Technik bei den übrigen nichtarischen Völkern Indiens herrscht, wäre zu fragen, ob man nicht einen Einfluß des Substrates anzunehmen hat. So sucht auch der Zauberer der bengalischen Oraon die verirrte Seele des Kranken über Berge und Flüsse bis ins Land der Toten 83 ganz wie der altaische und sibirische Schamane.
Mehr noch: das alte Indien kennt die Lehre von der Instabilität der Seele, die in den verschiedenen vom Schamanismus beherrschten Kulturen so deutlich sichtbar ist. Im Traum begibt sich die Seele sehr weit vom Körper weg und der Çatapatha Brâhmana (XIV, 7, I, 12) empfiehlt, den Schläfer nicht plötzlich aufzuwecken, weil die Seele sich sonst auf dem Rückweg verirren könnte. Auch beim Gähnen läuft man
82 Vgl, z. B. Jean Filliozat. La doctrine classique de la medicine indienne. Ses origines et ses parallèles grecques (Paris 1949)-
83 Vgl. F. E. Clements, Primitive concepts of disease, S. 197 (der «Seelenverlust» bei den Garos und den hinduisierten Völkerschaften im Norden).
Gefahr seine Seele zu verlieren (Taittiriya Samhitâ II, 5,2,4). Die Legende von Subandhu berichtet, wie man seine Seele verlieren und wiederfinden kann (Jaiminiya Brâhmana III, 168-170; Pancavimça Br. XIII, 12,5).
In Zusammenhang mit der Vorstellung, daß der Zauberer seinen Körper nach Belieben verlassen kann - einer ausgesprochen schamani-schen Idee, deren ekstatische Grundlagen wir wiederholt feststellten -, findet man sowohl in den technischen Texten als in der Volksüberlieferung eine andere magische Fähigkeit, nämlich das «Eingehen in einen anderen Körper» (parakâyapraveça, vgl. Eliade, Le Yoga, S. 380 ff.). Doch trägt dieses magische Motiv bereits den Stempel indischer Weiterentwicklung; es erscheint übrigens unter den yogischen siddhi und wird von Patanjali (Yoga Sûtra III, 37) neben anderen wunderbaren Kräften angeführt.
Wir können hier natürlich nicht alle Aspekte der Yoga-Techniken untersuchen, die eines engen Zusammenhangs mit dem Schamanismus verdächtig sind. Die große Synthese des - von uns so benannten - «barocken Yoga» (im Gegensatz zum klassischen Patanjali-Yoga) schließt zahlreiche Elemente aus den magischen und mystischen Überlieferungen sowohl des arischen Indien als der Ureinwohnerschaft in sich; so ist es nicht erstaunlich, daß sich in dieser weitreichenden Synthese zuweilen auch schamanische Elemente identifizieren lassen. Doch ist dabei jedesmal zu untersuchen, ob das betreffende Element ein im strengen Sinn schamanisches ist oder eine magische Tradition, die über die Sphäre des Schamanismus hinausreicht. Es ist uns hier nicht möglich, diese Vergleichsarbeit ganz durchzuführen 84, Nur noch eine Bemerkung: Sogar der klassische Text von Patanjali führt einige «Kräfte» auf, die dem Schamanismus geläufig sind: durch die Luft fliegen, verschwinden, riesig groß und winzig klein werden usw. Außerdem bezeugt eine Stelle des Yoga Sûtra (IV, I), wo «Wunderkräfte» verleihende Medizinal-
84 Vgl. Eliade, Le Yoga, S. 308 ff., und Techniques au Yoga, S. 173 ff Hier nur noch die Feststellung, daß wir uns bei der Diskussion der «Ursprünge» des Yoga nicht notwendig auf den Schanianismus zu beziehen haben; eine ganze populärmystische Tradition, die bhakti, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in das Yoga eindringt, ist nicht schamanisch. Dasselbe gilt für die Praktiken mystischer Erotik und andere zuweilen abwegige (Kannibalismus und Mord einschließende) magische Praktiken, die ebenfalls nicht schamanisch sind. Alle diese Irrtümer sind nur durch die falsche Gleichsetzung von «Schamanismus» und «primitiver Mystik» möglich geworden.
pflanzen (ausadhi) für den Yogi genannt sind, den Gebrauch von Narkotika im yogischen Umkreis und zwar ausgerechnet zur Erzielung ekstatischer Erlebnisse. Doch spielen diese «Kräfte» im klassischen und buddhistischen Yoga nur eine sekundäre Rolle, und viele Texte warnen vor der Versuchung des magischen Machtgefühls, das sie hervorrufen und das das wirkliche Ziel der Bemühungen des Yogi, die endliche Befreiung, vergessen machen könnte. Deshalb kann sich die durch Narkotika oder andere materielle Mittel erreichte Ekstase nicht mit der Ekstase des wirklichen samädbi vergleichen. Doch, wie wir gesehen haben, bedeuten auch im Schamanismus die Narkotika schon eine gewisse Dekadenz, und nur wenn die eigentlichen Ekstasemittel nach-lassen, greift man zu ihnen, um die Trance herbeizuführen. Im Vorbeigehen sei noch bemerkt, daß ganz wie das «barocke» (volkstümliche) Yoga auch der Schamanismus abirrende Varianten kennt. Doch sei hier noch einmal der strukturelle Unterschied zwischen klassischem Yoga und Schamanismus hervorgehoben: Der Schamanismus kennt zwar Konzentrationstechniken (z. B. Initiation bei den Eskimo usw.), doch liegt sein Endziel immer in der Ekstase und der ekstatischen Reise der Seele in die verschiedenen kosmischen Regionen, während das Yoga die Ekstase, die höchste Konzentration des Geistes und den «Ausweg» aus dem Kosmos verfolgt. Doch sind bei den frühgeschichtlichen Ursprüngen des klassischen Yoga keineswegs Zwischenformen von schamani-schen Yogas ausgeschlossen, deren Ziel die Herbeiführung bestimmter ekstatischer Erlebnisse gewesen wäre85.
Gewisse «schamanische» Elemente ließen sich noch in den indischen Glaubensvorstellungen über den Tod und das Schicksal der Abgeschiedenen finden“. Wie bei sovielen andern asiatischen Völkern enthalten sie Spuren eines Glaubens an eine Mehrheit von Seelen (z. B. Tai/tiriya Upanisad II, 4). Doch im allgemeinen glaubte das alte Indien,
85 Die gegenteilige Ansicht s. bei Jean Filliozat, Les origines d’une technique mystique indienne (Revue Philosophique 71, 1946, S. 208—220). dort Diskussion unserer Hypothese von einem präarischen Ursprung der yogischen Techniken. Vgl. auch Le
Yoga, S. 334.
86 Eine klare Zusammenfassung s. bei A. B. Keith, The Religion and Philosphy of the Veda and Upanishads (Cambridge, Mass. 1923). II. Bd.. S. 403 ff- Die Welt der Toten ist eine «verkehrte», «umgedrehte» Welt wie unter anderen Völkern auch bei den Sibiriern, vgl. Herman Lommel, Bhrigu im Jenseits (Paideuma IV. 1930. S. 93-109), S. 101 ff.
daß die Seele nach dem Tod zum Himmel, zu Yama (Rig Veda X, 58) und den Ahnen (pitaras) aufsteigt. Man gab dem Toten den Rat, sich nicht durch die vieräugigen Hunde Yamas beeindrucken zu lassen, sondern seinen Weg fortzusetzen, der ihn zu den Ahnen und dem Gott Yama führt (RV X, 14, 10-12; Atharva Veda XVIII, 2, 12; VIII, 1, 9; usw.). Der Rig Veda enthält keine ausdrückliche Beziehung auf eine Brücke, die der Tote zu überschreiten hätte (Keith, a. a. O., II, S. 406, Anm. 9). Doch ist von einem Fluß die Rede (AV XVIII, 4, 7) und von einem Boot (RV X, 63, 10), was mehr nach einem unterweltlichen als nach einem himmlischen Reiseweg klingt. Auf jeden Fall erkennt man die Spuren eines altertümlichen Rituals, in welchem man den Toten an den Weg erinnerte, auf dem er das Reich Yamas erreichte (z. B. RV X, 14, 7-12; über die Sûtras vgl. Keith II, S. 418, Anm. 6). Und man wußte auch, daß die Seele des Abgeschiedenen nicht sofort die Erde verließ; sie strich noch eine bestimmte Zeit, ja bis zu einem Jahr um das Haus herum. Das war übrigens auch der Grund dafür, daß man sie zu den für sie veranstalteten Opfern und Darbringungen herbeirief (Keith, a.a.O. II, S. 412).
Aber der genaue Begriff eines seelengeleitenden Gottes ist der ve-dischen und brâhmanischen Religion unbekannt87. Rudra-Çiva erfüllt zuweilen eine solche Rolle, doch ist diese Vorstellung spät und wahrscheinlich von dem Glauben präarischer Ureinwohner beeinflußt. Auf jeden Fall gibt es im vedischen Indien nichts, was an die altaischen und nordsibirischen Totenführer erinnert; man sagt lediglich dem Toten seinen Reiseweg an, ungefähr nach Art der indonesischen und po-lynesischen Totenklagen und des tibetanischen Totenbuchs. Die Anwesenheit eines Seelengeleiters war wahrscheinlich zur vedischen und brâhmanischen Zeit überflüssig geworden, weil trotz allen Ausnahmen und Widersprüchen der Texte der Weg des Toten zum Himmel gerichtet und somit weniger gefährlich war als ein Weg in die Unterwelt.
Auf jeden Fall kennt das alte Indien sehr wenig «Abstiege in die Unterwelt». Wiewohl der Gedanke einer unterirdischen Unterwelt schon im Rig Veda bezeugt ist (vgl. Keith II, S. 409), sind ekstatische Jenseitsreisen sehr selten. Naciketas wird von seinem Vater dem «Tod»
87 Dies gegen die These von E. Arbman, Rudra. Untersuchungen zum altindischen Glauben und Kultus (Uppsala-Leipzig 1922), passim.
übergeben und wirklich begibt sich der junge Mann in die Wohnstatt Yamas (Tailtiriya Br. III, 11,8), doch diese Reise über das Grab hinaus macht nicht den Eindruck eines ,«schamanischen» Erlebnisses, denn es schließt die Ekstase nicht ein. Der einzige klar bezeugte Fall einer ekstatischen Jenseitsreise ist die Geschichte von Bhrgu, dem «Sohn» Va-ruwas (Çatapalha Br. XI, 6,1; Jaiminîya Br. I, 42-44). Nachdem der Gott ihn bewußtlos gemacht hat, entsendet er seine Seele in die verschiedenen kosmischen Regionen und in die Unterwelt. Bhrgu wohnt sogar den Strafen derer bei, die sich bestimmter ritueller Vergehen schuldig gemacht haben. Die Bewußtlosigkeit Bhrgus, seine ekstatische Reise quer durch den Kosmos, die Bestrafungen, denen er beiwohnt und die ihm dann von Varuna selbst erklärt werden - das alles erinnert an Ardâ Virâf, natürlich mit dem Unterschied, der zwischen einer Jenseitsreise mit vollständiger Schau der jenseitigen Vergeltungen wie bei Ardâ Virâf und einer ekstatischen Reise mit nur wenigen Szenen besteht. Doch im einen wie im andern Fall läßt sich noch das Schema einer Initiations-Jenseitsreise entziffern, wie es von ritualistischen Zirkeln wieder aufgegriffen und neu interpretiert wurde.
Hier wären auch die «schamanischen» Motive zu erwähnen, welche in den so komplexen Gestalten Varunas, Yamas und Nintis überleben. Jeder von ihnen ist auf seiner Ebene ein «bindender» Gott“. Zahlreich sind die vedischen Hymnen, in denen von den «Nesteln Varunas» die Rede ist. Die Bande Yamas (yamasya padbiçâ, AV VI, 96,2; usw. ) heißen im allgemeinen «die Bande des Todes» (mrtyupâçab, AV VII. 112,2, usw.). Und Nirrti legt die, die er verderben will, in Ketten (AV VI, 63, 1-2, usw.); man bittet die Götter, «die Bande Nirrtis» zu entfernen (AV I, 31,2). Denn die Krankheiten sind «Nesteln» und der Tod ist nichts anderes als das höchste «Band». Wir haben an anderem Ort den sehr komplexen Symbolismus studiert, in den sich die Magie der «Bande» einfügt. Hier sei nur gesagt, daß gewisse Aspekte dieser Magie schamanisch sind. Wenn es richtig ist, daß «Nesteln» und «Knoten» unter den bezeichnendsten Attributen der Todesgötter fungieren und das nicht nur in Indien und dem Iran, sondern auch in anderen Gegenden (China, Ozeanien usw.), so besitzen auch die Schamanen Nesteln und Lassos zu demselben Zweck, nämlich die schwei-
88 unseren Artikel Le «dieu Heure er le symbolisme des noeuds (Revue de l'Histoire des Religions, 134. Bd„ 1947-1948, S. 5-36), bes. S. 8 ff., 12 ff.
fenden Seelen einzufangen, die ihre Körper verlassen haben. Die Todesgötter und -dämonen fangen die Seelen der Abgeschiedenen mit einem Netz; der tungusische Schamane z. B. benützt ein Lasso, um die flüchtige Seele des Kranken wiederzubekommen (Shirokogorov, Psychomental complex of the Tungus, S. 290). Aber der Symbolismus der «Bindung» reicht über den eigentlichen Schamanismus in jeder Hinsicht hinaus; einzig in den Hexenkünsten der «Knoten» und «Bande» begegnet man gewissen Ähnlichkeiten mit der schamanischen Magie.
Zum Schluß wäre noch der ekstatische Aufstieg Arjunas auf den Berg Çivas mit all seinen Licht-Epiphanien zu erwähnen (Mahâbhârata VII, 80 ff ); ohne «schamanisch» zu sein, fügt er sich in die Kategorie mystischer Auffahrten, welcher auch die schamanische Auffahrt angehört. Was die Lichterlebnisse angeht, so erinnern wir uns an das qaumanek des Eskimoschamanen, den «Blitz» oder die «Erleuchtung», die plötzlich seinen ganzen Körper erzittern macht. Offensichtlich ist das «innere Licht», das nach langen Konzentrations- und Meditationsanstrengungen aufstrahlt, allen religiösen Traditionen wohlbekannt und auch in Indien von den Upanishaden bis zum Tantrismus reichlich belegt. Wir haben diese wenigen Beispiele angeführt, um den Rahmen abzustecken, in welchen bestimmte schamanische Erlebnisse zu stellen sind, denn wie wir schon oft im Lauf dieses Werkes wiederholt haben, der Schamanismus ist nicht in seiner Gesamtheit immer und überall eine abwegige, dunkle Mystik.
Erwähnen wir noch im Vorbeigehen die Zaubertrommel und ihre Rolle in der indischen Magie89. Die Legende erwähnt mehrfach die göttliche Herkunft der Trommel; so erwähnt eine Überlieferung, daß ein nâga (Schlangengeist) dem König Kanishka die Wirksamkeit des ghanta bei den Regenriten offenbart90. Man vermutet hier den Einfluß des nichtarischen Substrates, und zwar umso mehr, als in der Magie der indischen Urbevölkerungen (die, ohne immer von schamanischer Struktur zu sein, doch an den Schamanismus hinrührt) die Trommeln einen
89 E. Crawley, Dress, drinks and drums (hrsg. von Th. Besterman, London 1931), S. 236 ff., Claudie Marcel-Dubois, Les instruments de musique de l'Inde ancienne (Paris 1941), S. 33 ff. (Glocken), 41 ff. (Rahmentrommel), 46 ff. (Trommel mit zwei Fellen und gewölbtem Kasten), 63 ff. (Sanduhrtrommel). Über die rituelle Rolle der Trommel beim açvamedba vgl. P. Dumont, L'Astamedha (Paris 1927), S. 130 ff.
90 S. Beal, Si-yu-ki (London 1884), 1. Bd., S. 66.
bedeutenden Raum einnehmen 91. Deshalb befassen wir uns hier auch nicht mit der Trommel im nichtarischen Indien noch mit dem im Lamaismus und vielen tantrisch orientierten indischen Sekten so wichtigen Schädelkult92. Einige Einzelheiten sollen weiter unten behandelt werden, doch ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
91 Einige diesbezügliche Angaben über die Santali, Bhil und Baiga s. bei W. Köppers, Probleme der leidlichen Religionsgeschichte (Anlhropos, 25.-26. Bd„ 1940-1941, S. 761-814), S. 805 und Anm. 176. Vgl. auch W. Köppers. Die Bhil in Zenlralindien (Horn Wien 1948), S. 178 ff.
92 Über den Schädelkult im nichtarischen Indien s. W. Ruben. Eisenschmiede und Dämonen in Indien (Suppl, bd. 37 des Intern. Arth. f. Ethnographie, Leiden 1939), S. 168, 204-208, 244 usw.
6 Ellis, a. a. O., S. 127. Zu Odins schamanischen Attributen zählt Alois Kloß unter anderem die beiden Wölfe, den Namen «Vater», den man Odin gab (galdrs faöir = Vater der Zauberei. Baldrs draumar, 3, 3). das «Trunkenheitsmotiv» und die Valkyren; vgl. Die Religionen des Semnonenstammes (W'iener Beiträge IV. 1936, S. 349 bis 673), S. 665 ff., Anm. 62. Chadwick sah schon seit langem in den Valkyren mythische W'esen. die näher an «Werwölfen* als an himmlischen Feen sind; vgl. Ellis, S. 77, Aber alle diese Motive sind nicht unbedingt schamanisch. Die Valkyren sind Seelengeleiter und spielen manchmal dieselbe Rolle wie die «Himmelsgattinnen» und «Geisterfrauen» der sibirischen Schamanen, doch wie wir gesehen haben geht dieser Komplex über die Sphäre des Schamanismus hinaus und hat sowohl an der Mythologie der Frau als an der Mythologie des Todes teil.
7 Ellis, a. a. O., S. 105 ff., 108.
8 Thomas F. O'Rahilly. Early Irish History and Mythology (Dublin 1946), S. 323 ff.
Das ist das «Wütende Heer», s. Karl Meisen, Die Sagen vom Wütenden Heer und Wilden Jäger (Münster 1935); G. Dumézil, Mythes et Dieux, S. 79 ff.; Höfler, S. 154 ff.
12 Dieses von Saxo verzeichnete Detail ließe sich mit dem Totenritual eines skandinavischen Häuptlings («Ruriker») zusammenstellen, dem der arabische Reisende Ahmed ihn Fozlan im Jahr 921 an der Wolga beigewohnt hat: Eine von den Sklavinnen vollzog, bevor sie geopfert wurde um ihrem Herrn folgen zu können, noch folgenden Ritus: Dreimal zogen die Männer sie in die Höhe, sodaß sie über den Rahmen einer Türe schauen konnte, und sie sagte, was sie dabei sah: das erste Mal ihren Vater und ihre Mutter, das zweite Mal alle ihre Verwandten und das dritte Mal ihren Herrn «im
6 Jan de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, Bd. 2: Religion der Nordgermanen (Berlin und Leipzig 1937), S. 71.
17 Strömback, a. a. O., S. 50 ff.; Runeberg, ,j. a. 0., S. 9 ff.
18 Strömback sieht im seiör einen Schamanismus im strengen Sinn, vgl. die Kritik von Ohlmarks, Studien zum Problem des Schamanismus, S. 310 ff.; ders., Arktischer Schamanismus und altnordischer seiör (Archiv für Religionswissenschaft 3d, 1939, S. 171-180). Über die Spuren von nordischem Schamanismus vgl. auch Carl-Martin Edsman, Alerspeglar Volusph 2: S-8 eit shamanistik ritual elles en keitisk aldersvers? (Arckiv för Nordisk Filologi, 63. Bd., 1948, S. 1-54). Über alles die Zauberei bei den Skandinaviern Betreffende s. Magnus Olsen, Le prêtre-magicien et le dieu-magicien dans ta Norvège ancienne (Revue de l'Histoire des Religions, 111. Bd., 1935, S. 177-221; 112. Bd.. S. 5-49). Einige «schamanische» Züge im weiteren Sinn brechen an der sehr komplexen Figur Lokis durch, s. die ausgezeichnete Arbeit von Georges Dumézil, Loki (Paris 1948). ln eine Stute verwandelt brachte Loki mit dem Hengst SkaSilfari das achtbeinige Pferd Sleipnir hervor (s. die Texte bei Dumézil, a.a.O., S. 28 ff.). Loki kann verschiedene Tiergestalten annehmen, so die Gestalt eines Seehundes, eines Lachses usw. Er bringt den Wolf und die Weltschlange hervor. Er fliegt auch durch die Lüfte, nachdem er die Tracht aus Falkenfedern angelegt hat; aber dieses Zaubergewand gehört nicht ihm, sondern Freyja (Dumézil, S. 35; s. auch S. 25, 31). Bekanntlich hat
Vgl. Georges Dumézil, Légendes sur les Nurses (Paris 1930), passim, und -allgemein - die vier Bände Jupiter, Mars, Quirinus, 1940—1948.
Robert Bleichsteiner, Roßweihe und Pferderennen im Totenkuli der kaukasischen Völker (Wiener Beiträge zur Kulturgeschichte und Linguistik IV, Salzburg-Leipzig 1936. S. 413-495), S. 467 ff. Bei den Ossen «steigt der Tote, nachdem er von den Seinen Abschied genommen hat, aufs Pferd. Auf seinem Weg begegnet er schon bald einer Art Patrouillen, denen er einige Kuchen geben muß - die Kuchen, die man ihm ins Grab gelegt hat. Dann kommt er an einen Fluß, über den statt einer Brücke ein gewöhnlicher Balken gelegt ist. . . Unter den Füßen des Gerechten, oder vielmehr des Wahrhaftigen, wird der Balken breiter und stärker, bis er eine prächtige Brücke ist. ..» (G. Dumézil, Légendes sur les Nattes, S. 220-221). Zweifellos kommt die «Jenseitsbrücke» aus dem Mazdaismus wie die «enge Brücke* der Armenier und die «Haarbrücke» der Georgier. Alle diese Balken, Haare usw, haben die Eigenheit, sich vor der Seele des Gerechten großartig auszudehnen, vor der schuldigen Seele jedoch sich zur Dicke einer Schwertschneide zusammenzuziehen.» (Dumézil. a.a.O., S. 202. S. auch unten S. 445 ff.
50 Bleichsteiner, a.a. O., S. 470 ff. Damit läßt sich die Funktion der indonesischen Klagefrauen («pleureuses») zusammenstellen.
140ff. Erwähnt sei, daß Stig Wikander, Der arische Mänuerbund (Lund 1938), S. 64 ff. und G. Widengren. Hochgottglaube, S. 328 ff., 342 ff. usw. das Bestehen iranischer «Männerbünde» initiatischer und ekstatischer Struktur - Gegenstücke der germanischen herserkir und der vedischen marya - sehr gut ins Licht gerückt haben.
55 Wir folgen der Übersetzung von M. A. Barthélemy. Anâ Virâf-Nâmah ou Une d'Ardâ Virât (Paris 1887). S. Stig Wikander, Vayu, S. 43 ff.