Götter auf die Erde zu erleichtern und die Auffahrt der Seele des Toten zu sichern. So fordert man im indischen Archipel den Sonnengott auf, über eine Leiter mit sieben Sprossen auf die Erde herabzusteigen. Bei den Dajak in Dusun stellt der Medizinmann, wenn er zu einem Kranken gerufen wird, in der Mitte des Zimmers eine Leiter auf, die bis zum Dach reicht; auf dieser Leiter steigen nach der Einladung des Zauberers die Geister herab, die von ihm Besitz ergreifen sollen 64. Bestimmte malaiische Stämme schlagen in die Gräber Stöcke ein, die sie «Seelenleitern» nennen, ohne Zweifel um die Toten aufzufordern ihr Grab zu verlassen und zum Himmel zu fliegen 65. Die Mangar, ein Stamm in Nepal, machen sich eine symbolische Leiter, indem sie sieben Einschnitte oder Stufen in einen Stock machen und ihn in das Grab stek-ken; diese Leiter dient der Seele des Toten zum Aufstieg in den Himmel 66.

Die Ägypter haben in ihren Totentexten den Ausdruck asken pet (asken = Stufe) bewahrt, um zu zeigen, daß die Leiter, die Râ ihnen gibt, um zum Himmel zu steigen, eine wirkliche Leiter ist 67. «Aufgestellt ist für midi die Leiter, damit ich die Götter sehen kann», sagt das Totenbuch 68. «Die «Götter machen ihm eine Leiter, damit er mit ihrer Hilfe zum Himmel steigen kann» (Weill, a.a.O., S. 28). In vielen Gräbern der archaischen und mittleren Dynastien fanden sich 

64 Sir James George Frazer, Folklore in the Old Testament (London 1919), 2. Ild.. S. 54 f.

65 W. W. Skeal und Blagden, Pagan Races of the Mala) Peninsula (London 1906), 2. Bd., S. 108, 114.

66 H. H. Risley, The Tribes and Castes of Bengal (Calcutta 1891), 2. Bd., S. 75. In Woronetz backen die Russen zu Ehren ihrer Toten kleine Leitern aus Teig und manchmal bezeichnen sie daran durch sieben Querstangen die sieben Himmel. Dieser Brauch wurde auch von den Tscheremissen entlehnt, vgl. Frazer, Folklore in the Old Testament II, S. 57; ders.. The fear of the dead, I, S. 187. Über die Leiter in der russischen Totenmythologie vgl. Propp, le radice sloriche dei racconti di fate, S. 558 ff,

67 Vgl. z. B, Wallis Budge, From fetish io God in Ancient Egypt (Oxford 1954),

5.    346; H. P. Blok, Zur altägyptischen Vorstellung der Himmelsleiter (Acta Orientalia,

6.    Bd., 1928, S. 257-269).

68 Zitiert bei R. Weill, Le Champ des Roseaux et le Champ des Offrandes dans la religion funéraire et la religion générale (Paris 1936), S. 52. Vgl. auch J. H. Breasted, The development of Religion and Thought in Ancient Egypt (London 1912), S. 112 ff., 156IF.; W. Max Millier, Egyptian Mythology (Boston 1918), S. 176; J. W. Perry, The Primordial Ocean (London 1935), S, 263, 266; Jacques Vandier, La religion égyptienne (Paris 1944), S. 71 f.

Amulette in Gestalt einer Leiter (maqet) oder Stiege 69. Ähnliche Gebilde waren in den Begräbnisstätten an der Rheingrenze 70.

Eine Leiter (climax) mit sieben Sprossen ist in den Mithrasmysterien bezeugt, und, wie wir schon sahen, drohte der Priesterkönig Kosingas seinen Untertanen, daß er sich auf einer Leiter zu Hera begeben werde. Eine Himmelfahrt durch zeremonielles Ersteigen einer Leiter bildete wahrscheinlich einen Bestandteil der orphischen Initiation 71. Auf jeden Fall war der Symbolismus der Auffahrt mit Hilfe einer Leiter in Griechenland bekannt 72.

W. Bousset hat schon lange die Mithrasleiter mit ähnlichen orientalischen Vorstellungen zusammengestellt und ihre gemeinsame kosmologische Symbolik gezeigt 73. Doch wäre hier auch der Symbolismus des «Zentrums der Welt» ins Licht zu setzen, der implicite in allen Himmelfahrten enthalten ist. Jakob träumt von einer Leiter, deren Spitze den Himmel erreicht und auf der «die Engel des Herrn auf- und niedersteigen» (Genesis 28, 12). Der Stein, auf dem Jakob einschläft, ist ein bethel und befindet sich «im Zentrum der Welt», weil hier die Verbindung zwischen allen kosmischen Regionen stattfand Nach der islamischen Tradition sieht Mohammed eine Leiter sich vom Tempel in Jerusalem (dem «Zentrum» par excellence) bis zum Himmel 

69 Vgl. z. B. Wallis Budge, The Mummy (2. Aufl., Cambridge 1925), S. 324, 327. Abbildung der Toten-Himmelsleitern bei Wallis Budge, The Egyptian Heaven and Hell (London 1925), 2. Bd., S. 159 ff.

70    Vgl. F. Cumont, Lux Perpetua, S. 282.

71    Wenigstens nach der Hypothese von A. B. Cook, Zeus, II. I (Cambridge 1925), S. 124 ff., der auf seine Art eine große Menge von Hinweisen auf rituelle Leitern in anderen Religionen anhäuft. Doch s. auch W. K. C. Guthrie, Orpheus and Greek Religion (London 1935), S. 208.

72    Vgl. Cook, Zeus, II, I, S. 37, S. 127 ff. Vgl. auch C.-M. Edsman, Le baptême de feu (Uppsala-Leipzig 1940), S. 41.

73    W. Bousset, Die Himmelsreise der Seele (Archiv für Religionswissenschaft IV, 1901, S. 155-169); s. auch A. Jeremias, Handbuch der altorientalischen Geistes-kultur (2. Aufl., Berlin 1929), S. 180 ff. Der 8. Band der «Vorträge» der Warburg-Bibliothek ist den Himmelsreisen der Seele in den verschiedenen Traditionen gewidmet (Leipzig 1930); vgl. auch F. Saxl, Mithras (Berlin 1931), S. 97 ff.; Benjamin Rowland, Studies in the Buddhist Art of Bâmiyân (Art and Thought, S. 46-50), S. 48.

74 Vgl. Eliade, Die Religionen und das Heilige, S. 262 ff., 432 ff. Siche auch oben 8. Kapitel. Nicht vergessen sei auch ein anderer Typ von Himmelfahrt, die des Herrschers oder Propheten, der von der Hand des höchsten Gottes das «himmlische Buch» entgegennimmt, ein sehr wichtiges Motiv, das Geo Widengren in The Ascension of the Apostle and the Heavenly Book behandelt hat (Uppsala 1950).

erheben mit Engeln rechts und links; auf dieser Leiter stiegen die Seelen der Gerechten zu Gott empor 75. Die mystische Leiter ist in der christlichen Tradition überreich bezeugt; wir erwähnen nur das Martyrium der heiligen Perpetua und die Legende des heiligen Olaf Der heilige Johannes Climacus übernimmt den Symbolismus der Leiter, um die verschiedenen Phasen des geistigen Aufstiegs auszudrücken. Ein bemerkenswert ähnlicher Symbolismus begegnet in der islamischen Mystik: Zum Aufstieg der Seele zu Gott gehört die Ersteigung der sieben Grade: Reue, Enthaltsamkeit, Verzicht, Armut, Geduld, Gottvertrauen, Buße”. Die christliche Mystik hat nie aufgehört die Symbolik der «Stufe», der «Leitern» und «Aufstiege» auszuwerten. Dante sicht im Saturnhimmel eine goldene Leiter sich schwindelnd bis zur äußersten Himmelssphäre erheben, auf der die Seelen der Seligen aufsteigen (Paradiso XXI-XXI1) 78. Die Leiter mit sieben Stufen hat sich auch in der alchimistischen Tradition erhalten; ein Kodex stellt die alchimistische Initiation durch eine Leiter mit sieben Sprossen dar, auf welcher Menschen mit verbundenen Augen aufsteigen; auf der siebten Sprosse befindet sich ein Mensch ohne Augenbinde vor einer geschlossenen Tür”.

75 Miguel Asin Palacios, La escalologta musulmane en la Divina Comedia. S. 70. Nach anderen Traditionen erreicht Mohammed den Himmel auf dem Rücken eines Vogels; so erzählt das Buch der Leiter, daß er seine Reise «auf einer Art Ente machte, die großer war als ein Esel und kleiner als ein Maultier», geführt vom Erzengel Gabriel, s. Enrico Cerulli, II «libro della scala» (Studi e Testi, 150, Citta di Vaticano, Biblio-teca Apostolica Vaticana 1949). S. oben die analogen Berichte von heiligen Muselmanen. «Mystischer Flug». Ersteigung, Auffahrt sind übrigens homotogable Formeln für ein und dieselbe mystische Symbolik und Erfahrung.

76 Vgl. Edsman, Le baptême de ten, S. 32 ff.

77 Van der Leeuw, La religion dam son essence et set manifestations (Paris 1948), S. 484. mit Nachweisen.

78 Der heilige Johann vom Kreuz stellt die Etappen der mystischen Vervollkommnung durch eine schwierige Ersteigung dar. Seine Sub'tda de! Monte Cannelo beschreibt die asketischen und geistigen Anstrengungen als lange und mühsame Besteigung eines Berges. In bestimmten osteuropäischen Legenden wird das Kreuz Christi als Brücke oder Leiter betrachtet, die dem Herrn dazu dient, auf die Erde herabzusteigen, den Seelen zu ihm hinaufzusteigen, s. Harva (=Holmberg), Der Baum des Lebens, S. 133. Über die byzantinische Ikonographie der Himmelsleiter vgl. Coomaraswamy, Scayamâtmaâ: Janua Coeli, S. 47.

79 G. Carbonelli, Sülle fonti storicbe della chimica e dell’Alchimia in Italia (Rom 1925), S. 39, Fig. 47; es handelt sich um einen Kodex in der Königlichen Bibliothek in Modena.

Der Mythus von der Himmelfahrt über eine Leiter ist auch in Afrika 80, Ozeanien 81 und Nordamerika 82 bekannt. Doch die Stiege ist nur eine von vielen symbolischen Ausdrucks weisen für die Himmelfahrt, Man kann den Himmel auch durch das Feuer oder den Rauch erreichen 83, durch das Ersteigen eines Baums 84 oder eines Berges 85, das Erklettern eines Seils 86 oder einer Liane 87, des Regenbogens 88, sogar eines Sonnenstrahls. Erinnern wir uns schließlich noch an eine andere Gruppe von Mythen und Legenden, die mit dem Thema der Auffahrt in Beziehung steht, nämlich die «Pfeilkette». Ein Heros steigt zum Himmel, indem er den ersten Pfeil in das Himmelsgewölbe bohrt, den folgenden in den ersten und so weiter, bis er eine Kette zwischen Himmel und Erde hergestellt hat. Das Motiv begegnet in Melanesien, in Nordamerika und Südamerika; es fehlt in Afrika und Asien (außer bei den Semang, vgl. Pettazoni, La catena di jrecce, S. 79), und bei den Korjaken, vgl. Jochelson, S. 213, 304). Da in Australien der Bogen unbekannt war, wurde sein Platz im Mythus von einer Lanze mit einem langen Stück Stoff eingenommen. Nachdem die Lanze sich in das Him-

80 Vgl. Alice Werner, African Mythology (Boston 1925), S. 136.

81 Vgl. Ad. E. Jensen, Hainuwele (Frankfurt am Main 1939), S. 51 ff, 82. 84 usw.; ders.. Die Drei Ströme (Leipzig 1948), S. 164; Chadwick, The Growth of Literature III, S. 481 usw.

82 Stith Thompson, Motif-Index of Folk-Literature III, S. 8.

83 Vgl. z. B. R. Pettazzoni. Saggi di Storia dette Religioni e di Mitologia (Rom 1946). S. 68, Anm. 1; A. Riesenfeld, The megalilhic culture of Melanesia, S. 196 ff., usw.

84 Vgl, A. van Gennep, Mythes et Légendes d'Australie, Nr. XVII und LVI; Pettazzoni, a. a. O- S. 67, Anm. 1; Chadwick III, S. 486 usw.; Harr}1 Tegnaeus, Le Héros Civilisateur (Uppsala 1950), S. 150, Anm. 1 usw.

85 Der Medizinmann des australischen Kulin-Stammcs kann sich bis zum «Dunklen Himmel« erheben, der einem Berg gleicht; A.W.Howitt, The native tribes of South-East-Australia (London 1904), S. 490. Vgl. auch W. Schmidt, Der Ursprung der Gottesidee, 3. Bd„ S. 845, 868, 871.

86 Vgl. R. Pettazzoni, Mili e Leggendi I. S. 63 (Thonga) usw.; Chadwick III. 481 (Meer-Dajak); Frazer, Folklore in the Old Testament II, S. 54 (Tscheremissen).

87    H. H. Juynboll, Religionen der Hat un oller Indonesiens (Archiv für Religionswissenschaft, 17. Bd„ 1914, S. 582-606), S. 583 (Indonesien); Frazer, Folklore II. S. 52-53 (Indonesien); Roland Dixon, Oceanic Mythology (Boston 1916), S. 156; Alice Werner. African Mythology, S. 1,35; H. B. Alexander, Latin America Mythology (Boston 1920). S. 271; Stith Thompson, Motif-Index, 3. Bd., S. 7 (Nordamerika). Fast in denselben Gegenden findet man den Mythus vom Aufstieg an einem Spinnengewebe.

88    Außer den schon erwähnten Beispielen; Juynboll, a.a.O., S. 585 (Indonesien); Evans. Studies in Religion, Folk-lore and Custom.. S. 51 f. (Dusun); Chadwick. Growth III, S. 272 ff.; usw.

melsgewölbe gebohrt hat, steigt der Heros mit Hilfe des Stoffstücks hinauf (ebd., S. 76 f. )89.

Es bedürfte eines eigenen Bandes, um diese mythischen Motive und ihre rituellen Zusammenhänge nach Gebühr darzulegen. Hier sei nur festgestellt, daß die Reisewege sowohl für die mythischen Heroen gelten wie für die Schamanen (Zauberer, Medizinmänner usw.) und bestimmte privilegierte Tote. Das sehr komplexe Problem der Verschiedenheit der Reisewege post mortem in den verschiedenen Religionen haben wir hier nicht zu studieren 90. Stellen wir nur fest, daß für bestimmte Stämme, die zu den archaischsten zählen, die Toten in den Himmel kommen, daß aber die meisten «primitiven» Völker zum mindesten zwei Reisewege nach dem Tode kennen, einen himmlischen für die Privilegierten (Oberhäupter, Schamanen, «Eingeweihte») und einen horizontalen oder unterweltlichen für die übrige Menschheit. So glaubt eine gewisse Anzahl australischer Stämme - Narrinyeri, Dieri, Buandik, Kurnai und Kulin -, daß ihre Toten sich zum Himmel aufschwingen 91;bei den Kulin steigen sie auf den Strahlen der untergehenden Sonne auf 92. In Zentralaustralien dagegen suchen die Toten die vertrauten Orte aus ihrem Leben heim; an anderen Orten wenden sie sich nach bestimmten Gegenden im Westen

Für die Maori auf Neuseeland ist der Aufstieg der Seelen lang und schwierig, denn es gibt bis zu zehn Himmeln und erst im letzten wohnen die Götter. Der Priester wendet verschiedene Mittel an, um dorthin

89 R. Pettazzoni, The Chain of Arrows: The diffusion of a mythical motive (in Folk-Lore, 35. Bd., 1924, S. 151—165). wieder veröffentlicht mit Zusätzen (La catena di frecce, S. 63-79) in dem Band Saggi di Sloria delle Religioni e di Milologia (Rom 1946). Dazu Jochelson, The Koryak, S. 293, 304; ebd. ergänzende Hinweise über die Verbreitung des Motivs in Nordamerika.

90 Wir werden diesem Problem in unserem Buch Mythologies de la Mort nachgehen (in Vorbereitung).

91 Vgl. Frazer, The Belief in Immortality, 1. Bd. (London 1913), S. 134, 138 usw.

92 A. W. Howitt, Native Tribes of South-East Australia, S. 438.

93 Nach Graebner (Weltbild der Primitiven, München 1924, S. 25 ff.) und W. Schmidt (Der Ursprung der Gollesidee, 1. Bd.. 2. Aufl., Münster 1926, S. 334 bis 476; 3. Bd., 1931, 574-586 usw.) wären die archaischsten Stämme Australiens die im Südosten des Kontinents, also genau diejenigen, bei denen man eine festere Verbindung der Todes- und Himmelsvorstellung findet (zweifellos im Zusammenhang mit dem Glauben an ein höchstes Wesen uranischer Struktur). Dagegen wären die Stämme im Zentrum, wo die «horizontale» Vorstellung vom Totenreich in Verbindung mit Ahnenkult und Totemismus herrscht, ethnologisch gesehen die weniger «primitiven». 

zu gelangen; er singt und begleitet so die Seele auf magische Weise bis zum Himmel. Gleichzeitig bemüht er sich durch einen besonderen Ritus die Seele vom Leichnam zu trennen und in die Höhe zu werfen. Stirbt ein Häuptling, so befestigen der Priester und seine Helfer Vogelfedern an der Spitze eines Stockes und heben singend ihre Stöcke mehr und mehr in die Luft. Auch in diesem Pall steigen also nur die Privilegierten zum Himmel; anders die übrigen Sterblichen, die durch den Ozean oder in eine unterirdische Gegend fortgehen.

Versucht man alle die Mythen und Riten, die wir nur kurz aufgezählt haben, mit einem Blick zu überschauen, so stellt man mit Erstaunen fest, daß sie alle von einem Gedanken beherrscht sind: Die Verbindung zwischen Himmel und Erde ist durch irgendein physisches Mittel (Regenbogen, Brücke, Stiege, Liane, Seil, «Pfeilkette» ) herstellbar - oder war es in illo tempore. Alle diese symbolischen Bilder für die Verbindung zwischen Himmel und Erde sind nichts anderes als Varianten des Weltenbaums oder der Axis Mundi. ln einem früheren Kapitel haben wir gesehen, daß Mythus und Symbolik des Kosmischen Baums die Idee eines «Zentrums der Welt» einschließen, eines Punktes, in dem Erde, Himmel und Unterwelt miteinander verbunden sind. Wir haben auch festgestellt, daß die Symbolik des «Zentrums», wiewohl sie in schamanischer Ideologie und Technik eine Hauptrolle spielt, ungleich verbreiteter ist als der Schamanismus und älter als er. Die Symbolik des «Zentrums» ist wiederum verbunden mit dem Mythus von einer uranfänglichen Epoche, wo die Verbindungen zwischen Himmel und Erde, Göttern und Menschen nicht nur möglich, sondern leicht waren und im Vermögen jedes Menschen standen. Die Mythen, die wir soeben aufführten, beziehen sich im allgemeinen auf jenes uran-fängliche illud tempus, doch einige von ihnen erwähnen eine Himmelfahrt eines Heros, Herrschers oder Zauberers nach der Unterbrechung der Verbindungen, mit anderen Worten die Möglichkeit für bestimmte Auserwählte oder Privilegierte an den Anfang der Zeit zurückzugehen und den mythischen, paradiesischen Augenblick von vor dem «Fall» zu erreichen, also vor dem Abbruch der Verbindungen zwischen Himmel und Erde.

In diese Kategorie von Auserwählten oder Privilegierten gehören die Schamanen. Sie sind nicht die einzigen, die zum Himmel auffliegen oder über einen Baum, eine Treppe dorthin gelangen können; andere 

Privilegierte können mit ihnen wetteifern, nämlich Herrscher, Heroen und Eingeweihte. Die Schamanen stechen von den anderen Kategorien Privilegierter durch ihre spezifische Technik, die Ekstase, ab. Die scha-manische Ekstase kann, wie wir gesehen haben, als die Wiedergewinnung der menschlichen Verfassung vor dem «Fall» betrachtet werden; mit anderen Worten, sie reproduziert eine uranfängliche «Situation», die den übrigen Menschen nur im Tod erreichbar ist (denn die Himmel-fahrten durch Riten - vgl. den Fall des Opferers im vedischen Indien -sind symbolisch, nicht konkret wie die der Schamanen). Obwohl die Ideologie der schamanischen Auffahrt außerordentlich fest mit den eben betrachteten mythischen Vorstellungen zusammenhängt («Zentrum der Welt». Abbruch der Verbindungen, Niedergang der Menschheit usw.), gibt es doch viele Fälle von abwegigen schamanischen Praktiken. Wir denken dabei vor allem an die rudimentären, mechanischen Trancemittel (Narkotika, Tanzen bis zur Erschöpfung, «Besessenheit usw'.). Man könnte fragen, ob diese abirrenden Techniken neben den «historischen Erklärungen» (Absinken infolge äußerer kultureller Einflüsse, Bastardisierung) nicht auch auf einer anderen Ebene zu interpretieren sind. Man kann zum Beispiel fragen, ob nicht die abwegige Seite der schamanischen Trance darauf zurückgeht, daß der Schamane in concreto mit einem Symbolismus und einer Mythologie experimentieren will, die von Natur auf «konkreter» Ebene nicht «experimen-tabel» sind; mit einem Wort, ob nicht der Wunsch, um jeden Preis und mit jedem Mittel eine Auffahrt in concreto, eine mystische, aber zugleich rede Himmelsreise zu erreichen, zu den behandelten abwegigen Trancen führte; ob diese Erscheinungen nicht die unvermeidliche Konsequenz eines so erbitterten Strebens sind, das zu «leben», das heißt im Fleische zu vollziehen, was der menschlichen Verfassung nur «im Geiste» zugänglich ist. Doch wir wollen dieses Problem lieber offen lassen, zumal es den Rahmen der Religionsgeschichte übersteigt und in den Bereich der Philosophie und Theologie einmündet.

SCHLUSSBETRACHTUNGEN

Die Entstehung des nordasiatischen Schamanismus

Wir erinnern uns, daß das Wort «Schamane» über das Russische von tungusisch shaman kommt. Die Erklärung dieses Wortes aus pâli samana (skr. cramana) durch Vermittlung von chinesisch scha-men (einfache Transskription des Pali-Wortes) wurde, obwohl von den meisten Orientalisten des 19. Jahrhunderts angenommen, dennoch schon ziemlich früh angezweifelt (1842 durch W. Schott, 1846 durch Dordji Banzarov) und 1914 von J. Németh 1, 1917 von B. Läufer 2 abgelehnt. Diese beiden Forscher glaubten die Zugehörigkeit des tun-gusischen Wortes zur türkisch-mongolischen Sprachgruppe nachweisen zu können und zwar auf Grund gewisser phonetischer Entsprechungen. Da sich alttürkisches anlautendes k’ zu tatarisch k, tschuwaschisch jakutisch ch (stumme Spirans wie in deutsch ach), mongolisch ts, tsch und mandschurisch-tungusisch s oder sh entwickelt hat, wäre das tun-gusische shaman die genaue phonetische Entsprechung von turko-mongolisch kam (qam), das in den meisten türkischen Sprachen den «Schamanen» im eigentlichen Sinn bezeichnet.

Doch G. J. Ramstedt 3 hat die Unzulänglichkeit von Némeths phonetischem Gesetz nachgewiesen. Außerdem rückt die Entdeckung ähnlicher Wörter im Tocharischen (samâne - buddhistischer Mönch) und Soghdischen (çmn- (aman) die Hypothese von der indischen Herkunft

1 über den Ursprung des Wortes shaman und einige Bemerkungen zur türkisch-

mongolischen Lautgeschichte (Keleti Szemle, 14. Bd., 1913-1914. S. 240-249).

2 Origin of the word shaman (American Anthropologist, 19. Bd , 1917, S. 361-371).

Der Artikel von Läufer enthält auch eine knappe Geschichte und Bibliographie der Frage.

3 Zur Frage nach der Stellung des Tchuwassischen (Journal de la Société Finno-Ougrienne, 38. Bd.. 1922-1923, S. 1-34), S. 20 f.; vgl. Kai Donner. Über soghdisch nom «Gesetz» und samojedisch nom «Himmel, Gott» (Studia Orientalia, Helsingfors, I, 1923. S. 4-8), S. 7. S. auch G. J. Ramstedt. The relation of the allait languages to other language groups (Journal de la Société Finno-Ougrienne, 53. Bd., I. 1946-1947, S. 15-26).

des Terminus von neuem in den Vordergrund 4. Wir wagen nicht uns über den linguistischen Aspekt der Frage auszusprechen und wir sind uns klar über die Schwierigkeit, die Wanderung dieses indischen Wortes von Zentralasien bis in den äußersten Osten Asiens zu erklären, aber auf jeden Fall muß das Problem der indischen Einflüsse auf die Völker Sibiriens in seiner ganzen Breite gestellt werden, wobei auch die historischen und ethnographischen Gegebenheiten heranzuziehen sind.

Das hat Shirokogorov für die Tungusen in einer Reihe von Arbeiten geleistet 5, deren Resultate und allgemeine Schlußfolgerungen wir zusammenfassen wollen. Das Wort shaman, bemerkt Shirokogorov, scheint dem Tungusischen fremd zu sein. Aber, was wichtiger ist, auch das Phänomen des Schamanismus selbst zeigt Elemente südlichen, in diesem Fall buddhistischen (lamaistischen) Ursprungs, ln der Tat war der Buddhismus ziemlich weit nach Nordostasien vorgedrungen, im

4.    Jahrhundert nach Korea, in der zweiten Hälfte des 1. Jahrtausends zu den Uiguren, im 13. Jahrhundert zu den Mongolen, im 15. in die Amurgegend (buddhistischer Tempel an der Amurmündung). Die Mehrzahl der tungusischen Geister-(burkhan)-namen sind von den Mongolen und Mandschu entlehnt, die sie ihrerseits von den La-maisten 6 übernommen haben. In Tracht, Trommel und Malereien der

4 Vgl. Sylvain Lévy, Etude des documents tokhariens de la Mission Peiliot (Journal Asiatique, Mai-Juni 1911, S. 431-464), bes. S.445 f.; Paul Peiliot, Sur quelques mots d'Asie centrale attestés dans les textes chinois (Journal Asiatique, März-April 1913)

5.    451-469, bes. S. 466-469; A. Mcillct, Le tokharien (Indogermanisches Jahrbuch I, 1914), S. 19 weist ebenfalls auf die Ähnlichkeit des tocharischen samäne mit dem tungusischen Wort hin. F. Rosenberg, On Wine and Leasts in the Iranian National Epic (Übersetzung aus dem Russischen von L. Bogdanov, Journal of Cama Oriental Institute, Nr. 19, Bombay, August 1931), Anm., S. 18-20, unterstreicht die Wichtigkeit des soghdischen Wortes çmn.

5 N. D. Mironov und S. Shirokogorov, Sramana-Shuman (Journal of the North-China Branch of the Royal Asiatic Society, 55. Bd., Shanghai 1924, S. 110-130); vgl. auch S. Shirokogorov, General Theory of shamanism among the Tungus (ebd., 57. Bd., 1923, S. 246-249); Northern Tungus Migrations in the Far East (ebd., 57. Bd., 1926, S. 123-183); Versuch einer Erforschung der Grundlagen des Schamanentums bei den Tungusen (Bacßlcr-Archiv, 18. Bd., 1935, S. 41-96 - deutsche Übersetzung eines russisch erschienenen Artikels, Wladiwostok 1919) ; Psychomental Complex of the Tungus (London 1935), S. 268 ff.

6 Shirokogorov, Sramana-shaman, S. 119 ff., ders., Psychomental Complex, S. 279 ff. Shirokogorovs These wurde auch von N. N. Poppe akzeptiert, vgl. Asia Major, 1926, S. 138. Der südliche (chinesisch-buddhistische) Einfluß auf die burkhan wurde auch von Harva herausgestellt (Die religiösen Vorstellungen der altaischen Völker, S. 381).

tungusischen Schamanen entdeckt Shirokogorov moderne Einflüsse Noch dazu behaupten die Mandschu, daß der Schamanismus bei ihnen um die Mitte des 11. Jahrhunderts aufgetreten sei, sich aber erst unter der Ming-Dynastie (14. bis 17. Jahrhundert) ausgebreitet habe. Die Südtungusen wieder behaupten, daß ihr Schamanismus von den Mandschu und Dahur entlehnt sei. Die Nordtungusen schließlich sind von ihren südlichen Nachbarn, den Jakuten, beeinflußt. Daß eine Koinzidenz zwischen dem Erscheinen des Schamanismus und der Ausbreitung des Buddhismus in diesen Gegenden Nordasiens besteht, glaubt Shirokogorov dadurch nachweisen zu können, daß der Schamanismus in der Mandschurei vom 12. bis 17. Jahrhundert, in der Mongolei vor dem 14. Jahrhundert, bei den Kirgisen und Uiguren wahrscheinlich zwischen dem 7. und 11. Jahrhundert geblüht hat, also kurz vor der offiziellen Anerkennung des Buddhismus (Lamaismus) durch diese Völker (Sramana-Shaman, S. 125). Der russische Ethnologe erwähnt außerdem mehrere ethnologische Elemente südlichen Ursprungs: Die Schlange (in gewissen Fällen die boa constrictor), die in Ideologie und Ritualtracht des Schamanen vorkommt, fehlt im religiösen Glauben der Tungusen, Mandschu und Dahur usw.; bei einigen von diesen Völkern ist sogar das Tier selbst unbekannt 8. Die Schamanentrommel, deren Ausbreitungszentrum nach dem russischen Forscher die Gegend des Baikalsees ist, spielt in der religiösen Musik des Lamaismus eine Hauptrolle, wie übrigens auch der Kupferspiegel lamaistischen Ursprungs ist, der im Schamanismus so wichtig wurde, daß man sogar ohne Tracht und ohne Trommel schamanisieren kann, wenn man nur den Spiegel hat. Auch gewisse Arten von Kopfschmuck seien eine Entlehnung aus dem Lamaismus.

Zusammenfassend betrachtet Shirokogorov den tungusischen Schamanismus als ein «relativ junges Phänomen, das sich von Westen nach Osten und von Süden nach Norden ausgebreitet zu haben scheint. Er enthält viele Elemente, die unmittelbar vom Buddhismus entlehnt sind» (Sramana-Shaman, S. 127). «Der Schamanismus hat seine tiefen Wurzeln in Sozialordnung und Psychologie der animistischen Philosophie, 

7 Shirokogorov, Sramana-sbaman, S. 122; Psychomental Complex, S. 281.

8 Sramana-Shaman, S. 126. Viele «Geister» der Tungusenschamanen sind buddhistischer Herkunft, Psychomental Complex, S. 278. Ihre Darstellung auf den Schamanen-trachten verrät «eine genaue Wiedergabe der Tracht der buddhistischen Priester» (ebd.).

welche für die Tungusen und anderen Schamanisten charakteristisch ist. Andererseits aber ist der Schamanismus in seiner gegenwärtigen Form eine von den Folgen des Eindringens des Buddhismus unter den ethnischen Gruppen Nordostasiens» (ebd., S. 130, Anm. 52). ln seiner groben Synthese The psychomenttil complex of the Tungus gelangt Shirokogorov zu der Formel von dem «vom Buddhismus angereizten Schamanismus» (S. 282). Dieses Phänomen der Anreizung ist noch heute in der Mongolei zu beobachten: Die Lamas raten den Verrückten Schamanen zu werden, und nicht selten wird ein Lama Schamane und benützt die «Geister» von Schamanen (ebd.). Es braucht uns deshalb nicht zu wundern, wenn die tungusischen Kulturkomplexe mit Elementen aus dem Buddhismus und Lamaismus gesättigt sind (ebd.). Die Koexistenz Schamanismus - Lamaismus erweist sich auch bei anderen asiatischen Völkern. Bei den Tuvanern z. B. findet man in vielen Jurten, sogar in denen der Lamas, neben den Buddhabildern die schama-nischen hint als Schützer gegen den bösen Geist 9.

Wir sind mit Shirokogorovs Formel von dem «vom Buddhismus angereizten Schamanismus» vollkommen einverstanden. Die südlichen Einflüsse haben in der Tat den tungusischen Schamanismus modifiziert und bereichert - aber er ist keine Schöpfung des Buddhismus. Wie Shirokogorov selbst bemerkt, herrschte in der Religion der Tungusen vor dem Eindringen des Buddhismus der Kult des Himmelsgottes Buga, außerdem spielte das Totenritual eine gewisse Rolle. Wenn auch keine «Schamanen» im jetzigen Sinn da waren, so gab es doch eigene Priester und Zauberer für die Opfer an Buga und für den Totenkult. Heute nehmen, wie Shirokogorov bemerkt, in keinem der tungusischen Stämme die Schamanen an den Opfern für den Himmelsgott teil, und zum Totenkult werden die Schamanen, wie schon gesagt, nur in Ausnahmefällen beigezogen, z. B. wenn ein Abgeschiedener die Erde nicht verlassen will und durch eine schamanische Sitzung in die Unterwelt gerufen werden muß (Psychomental Complex, S. 282). Zwar greifen die tungusischen Schamanen bei den Opfern an Buga nicht ein, doch gibt es bei den schamanischen Sitzungen noch eine Anzahl von Elementen, die man als zum Himmel gehörig ansehen könnte; die Auffahrtssymbolik ist übrigens bei den Tungusen reichlich bezeugt. Es

9 Prof. V. Bounak. Un pays de l'Ane peu connu: le Tantu-Touta (Internationales Archiv für Ethnographie, 29. Iïd-, 1928, S. 1—16), S. 9.

kann sein, daß diese Symbolik in ihrer gegenwärtigen Form von den Buriäten oder Jakuten entlehnt ist, doch das beweist in keiner Weise, daß die Tungusen sie vor ihrer Berührung mit den südlichen Nachbarn nicht gekannt hätten; die religiöse Bedeutung des Himmelsgottes und die allgemeine Verbreitung der Auffahrtsmythen und -riten im äußersten Norden Sibiriens und in den arktischen Gegenden führt sogar zu der gegenteiligen Annahme. Daraus ergäbe sich für die Entstehung des tungusischen Schamanismus die Schlußfolgerung, daß die lamaistischen Einflüsse sich vor allem in der Bedeutung ausgewirkt hätten, die man den «Geistern» beimaß, und in der Technik zur Meisterung und Einkörperung dieser Geister. Dann wäre also der tun-gusische Schamanismus in seiner gegenwärtigen Form vom Lamaismus stark beeinflußt. Aber ist wirklich der asiatische und sibirische Schamanismus in seiner Gesamtheit das Ergebnis solcher chinesisch-budhi-stischer Einflüsse?

Bevor wir diese Frage beantworten, wollen wir uns noch einmal einige Ergebnisse der vorliegenden Arbeit vergegenwärtigen. Wie wir festgestellt haben, ist das spezifische Element des Schamanismus nicht die Einkörperung von «Geistern» durch den Schamanen, sondern die Ekstase, welche durch die Himmel- oder Unterweltsfahrt herbeigeführt wird; Einkörperung von Geistern und Besessensein durch Geister sind allgemein verbreitete Phänomene, doch sie gehören nicht notwendig zum Schamanismus im strengen Sinn. Von diesem Gesichtspunkt aus darf der heutige tungusische Schamanismus nicht als «klassische» Form des Schamanismus betrachtet werden, eben weil er der Einkörperung von «Geistern» eine Haupt- und der Himmelfahrt nur eine geringere Rolle einräumt. Nun haben wir gesehen, daß nach Shirokogorov gerade die Ideologie und Technik der Bemeisterung und Einkörperung der «Geister», also der südliche (lamaistische) Zustrom, dem tungusischen Schamanismus sein heutiges Gesicht gegeben haben. Wir dürfen also mit gutem Grund diese moderne Form des tungusischen Schamanismus als eine Bastardisierung des alten nordasiatischen Schamanismus betrachten; übrigens sprechen, wie wir gesehen haben, die Mythen oft genug von dem gegenwärtigen Niedergang des Schamanismus, und solche Mythen begegnen ebenso bei den Tataren in Zentralasien wie bei den Völkern im äußersten Nordosten Sibiriens.

Die Einflüsse des Buddhismus (Lamaismus), die für den tungu-sischen Schamanismus entscheidend wurden, haben auch auf Buriäten und Mongolen reichlich gewirkt. Wir haben mehrfach Beweise für solche indische Einflüsse auf Mythologie, Kosmologie und religiöse Ideologie der Buriäten, Mongolen und Tataren angeführt. An dem indischen Zustrom in den Religionen Zentralasiens kommt dem Buddhismus der Hauptanteil zu. Doch hier drängt sich eine Bemerkung auf: Die indischen Einflüsse waren weder die ersten noch die einzigen, die vom Süden nach Zentral- und Nordasien ausgestrahlt sind. Seit der frühesten Vorgeschichte haben die südlichen Kulturen und später der antike Nahe Orient alle Kulturen Zcntralasiens und Sibiriens beeinflußt. Die Steinzeit der Polargegenden ist von der Vorgeschichte Europas und des Nahen Orients abhängig Die vor- und frühgeschichtlichen Zivilisationen Nordrußlands und Nordasiens sind stark von den altorientalischen Zivilisationen beeinflußt". Auf ethnologischer Ebene sind alle Nomadenkulturen als Tributäre der Entdeckungen der Ackerbau- und Stadtzivilisationen anzusprechen; mittelbar dringt die Ausstrahlung dieser Zivilisationen außerordentlich weit nach Norden und Nordosten vor. Und diese Ausstrahlung, die in vorgeschichtlicher Zeit begann, setzt sich noch heute fort. Die Bedeutung indo-iranischer und mesopotamischer Einflüsse auf die Bildung der zentralasiatischen und sibirischen Mythologien und Kosmologien haben wir schon gesehen. Iranische Wörter sind bei Ugriern, Tataren, ja sogar Mongolen bezeugt und die kulturelle Berührung und gegenseitige Beeinflussung zwischen China und dem hellenistischen Orient ist bekannt genug. Sibirien hat seinerseits von diesem Kulturaustausch profitiert: Die Ziffern der verschiedenen sibirischen Völker sind mittelbar von Rom und von China entlehnt (Kai Donner, La Sibérie, S. 215 f. ). 

Die Einflüsse der chinesischen Zivilisation reichen bis an den Ob und Jenessej 13.

In diese historisch-ethnologischen Perspektiven sind die südlichen Einflüsse auf Religion und Mythologie der zentral- und nordasiatischen Völker einzubauen. Das Ergebnis dieser Einflüsse auf den eigentlichen Schamanismus, besonders auf seine magischen Techniken, haben wir bereits gesehen. Ebenso haben auch Schamanentracht und Trommel 14. südlichen Einfluß erlebt. Doch kann man nicht den Schamanismus in seiner Struktur und seiner Gesamtheit als eine Schöpfung dieses südlichen Zustroms ansprechen. Die in diesem Buch gesammelten und interpretierten Zeugnisse zeigen, daß Ideologie und spezifische Techniken des Schamanismus in archaischen Kulturen belegt sind, wo es schwer hielte altorientalische Einflüsse anzunehmen 15.

13    Vgl. z. B. F. B. Steiner, Skinboats and the Y akut* xayik» (Ethnos, 4. Bd., 1939, S. 177-183).

14    In einer noch unveröffentlichten, von W. Schmidt (Ursprung der Gottesidee, 3. Bd., Münster 1931, S. 3.34-338) zusammengefaßten Arbeit äußert Al. Gahs die Ansicht, daß die Schamanentrommel Zentral- und Nordasiens die tibetanische Doppel-trommel zum Vorbild habe. Shirokogorov, Psychomental Complex, S. 299, akzeptiert die Hypothese W. Schmidts (Ursprung III, S. 338). wonach die runde Trommel mit Holzgriff — tibetanischen Ursprungs — als erste in Asien eingedrungen wäre, auch bei den Tschuktschen und Eskimo. Die asiatische Herkunft der Eskhnotrommel wird auch von W. Thalbitzer (The Ammasahk Eskimo, 2. Teil, 2. Halbband. Kopenhagen 1941, S. 580) angenommen. W. Köppers, Probleme der indischen Religionsgeschichte (Anthropos, 1940-1941. 35.-36. Bd., S. 761-814), S. 805-807, akzeptiert zwar die Folgerungen von Shirokogorov und Gahs hinsichtlich des südlichen Ursprungs der Schamanentrommel, glaubt aber nicht, daß das Vorbild tibetanisch ist. sondern eher die Trommel in Form einer Getreideschwinge, die auch bei den Zauberern der archaischen indischen Völker (Santali, Munda, Bhil, Bhaiga) Vorkommen. Bei der Behandlung des .Schamanismus dieser Ureinwohnervölker (der übrigens auch seinerseits stark von der indischen Magie beeinflußt ist) fragt sich Köppers (ebd., S. 810-812), ob es eine organische Beziehung gibt zwischen der turktatarischen Form kam und einer Gruppe von Wörtern für Zauberei, Zauberer oder Zauberland in der Sprache der Bhil (kämru, das Zauberland usw.), der Santali (kamru, die Heimat der Zauberei, Kamru, der Erste Zauberer usw.) sowie im Hindi (Kâmrûp, skr. Kâmarûpa usw.). Der Verf. denkt an eine eventuelle ostasiatische Herkunft des Wortes kämaru (kamru), das später durch Volksetymologie zu Kâmarûpa wurde (Name des Distrikts Assam, der durch die Bedeutung berühmt wurde, die dort der Shaktismus gewann). Über den Schamanismus der Munda vgl. J. Hoffmann. Encyclopaedia Mundarica II (Patna 1930), S. 422 ff.; und Köppers, S. 801 ff. S. auch AI. Gahs. Die kulturhistorischen Beziehungen der östlichen Paläosibirier zu den ausirischen Völkern, insbesondere zu denen Pormosas (Mitt. der Anthropologischen Gesellschaft Wien. 60. Bd., 1930, Sitzungsberichte S. 3-8).

15    S. auch Horst Kirchner, Ein archäologischer Beitrag zur Urgeschichte des Schamanismus (Anthropos, 47. Bd., 1952, S. 244-286.)

Bei allen Erwägungen über die Entstellung des Komplexes «Schamanismus» in Zentral- und Nordasien muß man die beiden wesentlichen Elemente des Problems im Auge behalten: auf der einen Seite das ekstatische Erlebnis als solches, insofern es ein ursprüngliches Phänomen ist, und auf der anderen Seite das religionsgeschichtliche Milieu, dem sich dieses ekstatische Erlebnis einzufügen, und die Ideologie, die ihm letzten Endes seine Gültigkeit zu geben hatte. Wir haben das ekstatische Erlebnis als «Urphänomen» betitelt, weil wir keinen Grund sehen es als das Produkt eines bestimmten geschichtlichen Moments, einer bestimmten Zivilisationsform zu betrachten. Wir neigen vielmehr dazu es als ein Konstitutivum der menschlichen Verfassung zu betrachten und damit als der gesamten archaischen Menschheit bekannt, und nur seine Interpretation und seine Wertung hätte sich mit den verschiedenen Kultur- und Religionsformen gewandelt.

Welches war nun die religionsgeschichtliche Situation in Zentral-und Nordostasien, dort wo sich später der Schamanismus als autonomer und spezifischer Komplex herauskristallisiert hat? Überall in diesem Bereich und seit den frühesten Zeiten ist die Existenz eines Höchsten Wesens manischer Struktur bezeugt, das übrigens morphologisch allen anderen höchsten Himmelswesen in den archaischen Religionen entspricht (s. unser Buch Die Religionen und das Heilige, 2. Kap.). Die Symbolik der Auffahrt mit allen von ihr abhängigen Riten und Mythen ist mit den Höchsten Himmelswesen in Beziehung zu setzen; bekanntlich war die «Höhe» selber geheiligt und heißen viele höchsten Gottheiten archaischer Völker »Der von oben», «Der vom Himmel» oder einfach «Himmel». Die Symbolik der Auffahrt und Elevation behält ihre religiöse Gültigkeit und Aktualität sogar noch nach der «Entfernung» des Höchsten Himmelswesens; verlieren doch die Höchsten Wesen allmählich ihre Aktualität im Kult, um «dynamischeren» und «vertrauteren» religiösen Gestalten und Eormen Platz zu machen (Sturmund Fruchtbarkeitsgötter, Demiurgen, die Seelen der Toten, die Großen Göttinnen usw.). Durch den religiös-magischen Komplex des sogenannten Matriarchats wird die Verwandlung des Himmelsgottes in einen deus otiosus noch mehr betont. Dieser Rückgang und völlige Schwund der religiösen Aktualität der höchsten Himmelswesen fand seinen Niederschlag in manchen Mythen mit einer uranfänglichen paradiesischen Zeit, wo die Verbindung zwischen Himmel und Erde leicht 

und allen Menschen möglich war; infolge irgendeines Ereignisses (vorzüglich eines rituellen Versehens) wurde diese Verbindung unterbrochen und die Höchsten Wesen zogen sich in den obersten Himmel zurück. Noch einmal: Das Verschwinden des höchsten Himmelswesens aus dem Kult hat die Auffahrtssymbolik mit allem, was zu ihr gehört, nicht ins Wanken gebracht. Wie wir gesehen haben, ist diese Symbolik überall und in jedem religionsgeschichtlichen Zusammenhang bezeugt. Nun spielt aber die Auffahrtssymbolik eine wesentliche Rolle in der schamanischen Ideologie und Technik.

Im vorhergehenden Kapitel haben wir gesehen, in welchem Sinn die schamanische Ekstase als eine Wiedervergegenwärtigung des mythischen illud tempus gelten kann, wo die Menschen in concreto mit dem Himmel verkehren konnten. Ohne Zweifel ist die Himmelfahrt des Schamanen (Medizinmanns, Zauberers) ein, wenn auch stark umgestaltetes, zuweilen entartetes Überlebsel dieser archaischen Ideologie, die auf den Glauben an ein Höchstes Himmelswesen und die Vorstellung von konkreten Verbindungen zwischen Himmel und Erde zentriert war. Doch gilt der Schamane, wie wir gesehen haben, auf Grund seines ekstatischen Erlebnisses, das ihn einen der übrigen Menschheit nicht mehr erreichbaren Zustand noch einmal leben läßt, als ein privilegiertes Wesen und hält sich auch selber dafür. Und die Mythen wissen von noch engeren Beziehungen zwischen dem Höchsten Wesen und den Schamanen; so ist vor allem von einem Ersten Schamanen die Rede, der von dem Höchsten Wesen oder seinem Stellvertreter (dem Demiurgen oder dem solarisierten Gott) auf die Erde geschickt wurde, um die Menschen gegen die Krankheiten und die bösen Geister zu schützen.

Die Wandlungen, welche die Religionen Zentral- und Nordasiens im Lauf der Geschichte erlebt haben, also vor allem die immer größere Rolle des Ahnenkults und der göttlichen und halbgöttlichen Gestalten, die an den Platz des Höchsten Wesens getreten sind, wirken ihrerseits auf die Bedeutung des ekstatischen Erlebnisses der Schamanen verändernd ein. Die Unterweltsfahrten, die Kämpfe gegen die bösen Geister, doch auch die immer vertrauteren Beziehungen zu den «Geistern», die zu ihrer «Einkörperung» oder zur «Besessenheit» führen, sind Neuerungen - in den meisten Fällen sogar ziemlich junge Neuerungen -, welche zu Lasten der allgemeinen Umwandlung des religiösen

Komplexes gehen. Dazu sind noch die Einflüsse aus dem Süden zu rechnen, die sich ziemlich frühzeitig Bahn brechen und sowohl Kosmologie als Mythologie und Ekstasetechniken verändern. Unter diese südlichen Einflüsse der späteren Zeit ist der Beitrag des Buddhismus und Lamaismus zu rechnen, der zu den früheren iranischen und letzten Endes mesopotamischen Einflüssen hinzukam.

Wahrscheinlich ist auch das Initiationsschema mit rituellem Tod und Auferstehen des Schamanen eine Neuerung, die aber in viel ältere Zeit zurückreicht; dem Einfluß des antiken Nahen Orients ist sic jedenfalls nicht zuzurechnen, da Symbolik und Ritual einer Initiation durch Tod und Auferstehung schon in den australischen und südamerikanischen Religionen bezeugt sind. Doch gerade die Struktur dieses Initiationsschemas wurde besonders von den Neuerungen des Ahnenkults betroffen. Sogar die Vorstellung des mystischen Todes selber wandelte sich infolge der vielfachen Veränderungen, welche Mondmythologien, Totenkult und die Ausgestaltung der magischen Ideologien über dieses Gebiet gebracht hatten.

So müssen wir uns den asiatischen Schamanismus als eine archaische Ekstasetechnik vorstellen, gegründet auf eine Urideologie - den Glauben an ein Höchstes Himmelswesen, mit dem man durch den Aufstieg zum Himmel direkte Beziehungen unterhalten kann -, später aber unaufhörlich umgeformt durch eine lange Reihe exotischer Einflüsse, deren Höhepunkt die Invasion des Buddhismus war. Der Gedanke des mystischen Todes begünstigte die Aufnahme von Beziehungen zu den Seelen der Almen und den «Geistern», Beziehungen, welche immer intensiver gepflegt wurden und zur «Besessenheit» führten. Die Phän-nomenologie der Trance hat, wie wir sahen, manche Abänderung und Verderbnis erlebt, woran zum großen Teil falsche Vorstellungen über die Natur der Ekstase schuld waren. Doch alle diese Neuerungen und Herabsetzungen haben an der Möglichkeit der wirklichen schamani-schcn Ekstase nichts geändert, und wir trafen bei den Schamanen mehr als ein Beispiel echter mystischer Erlebnisse, welche in einer «geistigen» Himmelfahrt bestanden und durch Meditationen vorbereitet waren, deren Methoden denen der großen Mystiker des Ostens und Westens vergleichbar sind.

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