ALLGEMEINES

REKRUTIERUNGSMETHODEN, SCHAMANISMUS UND PSYCHOPATHOLOGIE

Vorläufige Bemerkungen

Seit dem Anfang unseres Jahrhunderts verwenden die Ethnologen unterschiedslos die Termini Schamane, Medizinmann (medicine-man), Zauberer oder Magier zur Bezeichnung bestimmter mit magisch-religiösen Fähigkeiten begabter Individuen, wie sie in jeder «primitiven» Gesellschaft bezeugt sind. Man hat diese Terminologie auch bei der religionsgeschichtlichen Erforschung «zivilisierter» Völker angewendet und sprach zum Beispiel von einem indischen, iranischen, germanischen, chinesischen, sogar babylonischen Schamanismus, wobei man sich auf die «primitiven» Elemente in der betreffenden Religion berief. Diese Verwirrung schadet dem Verständnis des Phänomens Schamanismus und zwar aus mehr als einem Grund. Wenn man unter dem Wort «Schamane» einen jeden Magier, Zauberer, Medizinmann oder Ekstatiker begreift, der im Laufe der Religionsgeschichte und Völkerkunde aufgetreten ist, so landet man bei einem zugleich äußerst komplexen und äußerst ungenauen Begriff, dessen Nutzen nicht einzusehen ist; bieten sich doch schon die Termini «Zauberer» und «Magier» zur Bezeichnung so disparater und ungefährer Begriffe wie «Magie» oder «primitive Mystik».

So ist es doch wohl von Vorteil, den Gebrauch der Wörter «Schamane» und «Schamanismus» einzugrenzen, um Doppelsinnigkeiten zu vermeiden und auch in der Geschichte der «Magie» und «Zauberei» klarer zu sehen. Denn der Schamane ist natürlich seinerseits auch ein Magier und Medizinmann; man glaubt, daß er heilen kann wie alle Ärzte und Fakirwunder wirken wie alle Zauberer, primitive und moderne. Aber er ist dazu noch Psychopomp, Seelengeleiter, und er kann Priester sein, Mystiker und Dichter. Unter der grauen und wirren Masse das in seiner Gesamtheit betrachteten religiös-magischen Lebens der archaischen Gesellschaften weist der Schamanismus im strikten und 

exakten Sinne schon eine eigene Struktur auf, verrät er eine «Geschichte», welche genauer zu bestimmen nur von Vorteil sein kann.

Der Schamanismus stricto sensu ist ein par excellence sibirisches und zentralasiatisches Phänomen. Das Wort stammt über das Russische vom tungusischen shaman. In den übrigen zentral- und nordasiatischen Sprachen entsprechen diesem Terminus jakutisch ojun, mongolisch bügä, bögä (buge, bü) und udagan (vgl. dazu buriätisch udayan, jakutisch udoyan «Schamanin»), turktatarisch kam (altaisch kam, gam, mongolisch kam; usw.). Man hat den tungusischen Terminus aus pâli samana zu erklären versucht; auf die Möglichkeit dieser Etymologie, eine Frage aus dem großen Problemkreis des indischen Einflusses auf die sibirischen Religionen, werden wir im letzten Kapitel des vorliegenden Buches zurückkommen. In diesem ganzen riesigen Bereich Zentral- und Nordasiens hat das magisch-religiöse Leben seinen Mittelpunkt im Schamanen. Das heißt natürlich nicht, daß einzig und allein er das Sakrale handhabt, daß vom Schamanen alle religiöse Aktivität in Be-schlag genommen ist. In vielen Stämmen steht neben dem Schamanen der Opferpriester, abgesehen davon, daß jedes Familienoberhaupt auch das Oberhaupt des häuslichen Kultes ist. Nichtsdestoweniger bleibt der Schamane die beherrschende Gestalt, denn in dem ganzen Bereich, wo das ekstatische Erlebnis für das religiöse Erlebnis schlechthin gehalten wird, ist der Schamane, und nur er, der große Meister der Ekstase. Eine allererste Definition dieses komplexen Phänomens, und vielleicht die wenigst gewagte, wäre: Schamanismus = Technik der Ekstase.

In diesem Sinne wird er von den ersten Reisenden bezeugt und geschildert, welche die verschiedenen Teile Zentral- und Nordasiens bereist haben. Später hat man in Nordamerika, Indonesien und Ozeanien ähnliche religiös-magische Phänomene beobachtet. Diese Phänomene sind, wie sich bald zeigen wird, ohne weiteres schamanisch, und es besteht Grund genug, sie zugleich mit dem sibirischen Schamanismus zu studieren. Doch eine Beobachtung drängt sich von Anfang an auf: Das Vorkommen eines schamanischen Komplexes in irgendeinem Bereich schließt nicht notwendig ein, daß das religiöse und magische Leben des betreffenden Volkes um den Schamanismus kristallisiert ist. Dies kann der Fall sein (so etwa in bestimmten Gegenden von Indonesien), doch es ist nicht das Übliche. Im allgemeinen lebt der Schamanismus mit anderen Formen von Magie und Religion zusammen.

Hier zeigt sich, welchen Vorteil es hat, den Terminus «Schamanismus» nur in seinem strengen und eigentlichen Sinn zu verwenden. Sobald man sich die Mühe nimmt den Schamanen von anderen «Magiern» und medicine-men primitiver Gesellschaften abzuheben, gewinnt die Feststellung schamanischer Komplexe in der und jener Religion eine recht erhebliche Bedeutung. Magie und Magier findet man fast überall auf der Welt; Schamanismus dagegen bedeutet eine eigentümliche «Spezialität» in der Magie, bei der wir lange verweilen werden, mit «Meisterschaft über das Feuer», magischem Flug usw. Wenn also der Schamane auch unter anderem ein Magier ist, kann doch nicht jeder beliebige Zauberer als Schamane gelten. Dieselbe Abgrenzung ergibt sich für die schamanischen Heilungen: Ein jeder medicine-man heilt, aber der Schamane bedient sich einer nur ihm eigenen Methode. Und was die Ekstasetechniken der Schamanen betrifft, so erschöpfen sie keineswegs alle religionsgeschichtlich und völkerkundlich bekannten Arten des Ekstaseerlebnisses. Man kann daher nicht einen jeden Ekstatiker als Schamanen betrachten; der Schamane ist der Spezialist einer Trance, in der seine Seele den Körper zu Himmel- und Unterweltfahrten verläßt.

Einer ähnlichen Unterscheidung bedarf es auch, wenn es gilt, die Beziehungen des Schamanen zu den «Geistern» näher zu bestimmen. Allenthalben in der primitiven und modernen Welt finden sich Individuen, welche behaupten Beziehungen zu den «Geistern» zu haben, ob sie nun von ihnen besessen oder ihrer Meister sind. Es bedürfte mehrerer Bände, um all die Probleme des Begriffes «Geist» und seiner Beziehungen zu den Menschen hinlänglich zu bearbeiten, denn ein «Geist» kann ebensowohl die Seele eines Verstorbenen sein als ein «Naturgeist» oder ein mythisches Tier. Aber zum Studium des Schamanismus ist das nicht notwendig. Es genügt, wenn wir die Position herausarbeiten, welche der Schamane gegen seine Hilfsgeister einnimmt. Da ist leicht zu sehen, worin der Schamane sich vom «Besessenen» unterscheidet: er meistert seine «Geister», in dem Sinn, daß er als menschliches Wesen eine Verbindung mit den Toten, den «Dämonen» und den «Naturgeistern» zustandebringt, ohne sich dazu in ihr Instrument verwandeln zu müssen. Gewiß gibt es wirklich «besessene» Schamanen, doch eher als seltene Abirrungen, die sich erklären lassen.

Diese wenigen und vorläufigen Begriffsbestimmungen vermögen schon den Weg zu zeigen, den wir verfolgen wollen, um zu einem richtigen Verständnis des Schamanismus zu gelangen. Da sich dieses magisch-religiöse Phänomen offenbar in seiner vollständigsten Form in Zentral- und Nordasien bekundet hat, wird man als typisches Exemplar den Schamanen dieser Gegenden nehmen. Wir wissen sehr wohl, und es wird einen Gegenstand unserer Untersuchung bilden, daß der zentral-und nordasiatische Schamanismus, zum mindesten in seinem gegenwärtigen Zustand, kein ursprüngliches, von jedem Einfluß freies Phänomen darstellt; er ist im Gegenteil ein Phänomen mit einer langen «Geschichte». Aber dieser zentralasiatische und sibirische Schamanismus hat den Vorzug einer Struktur, in welcher sich Elemente, die in der übrigen Welt nur zerstreut Vorkommen - spezielle Beziehungen zu den «Geistern», ekstatische Fähigkeiten zum magischen Flug, zur Himmelfahrt und zum Abstieg in die Unterwelt, Meisterschaft über das Feuer -, innerhalb des fraglichen Bereiches schon in einer besonderen Ideologie integriert darstellen und spezifische Techniken sanktionieren.

Ein solcher Schamanismus stricto sensu ist nicht auf Zentral- und Nordasien begrenzt, und wir werden weiter unten versuchen, möglichst viele seiner Parallelen aufzuweisen. Andererseits findet man bestimmte Elemente des Schamanismus isoliert in verschiedenen Formen archaischer Magie und Religion, und ihre Bedeutung ist nicht gering; zeigen sie doch, wieweit der Schamanismus im engen Sinn einen Fonds primitiver Glaubensvorstellungen und Techniken bewahrt und wieweit er Neuerungen gebracht hat. Immer bemüht, den Ort des Schamanismus im Schoß der primitiven Religionen (mit allem, was dazugehört: «Magie», Glaube an höchste Wesen und «Geister», mythologische Vorstellungen und Techniken der Ekstase) richtig zu bestimmen, werden wir ständig zu Anspielungen auf mehr oder weniger ähnliche Phänomene Anlaß haben, ohne sie deswegen als «schamanisch» bezeichnen zu wollen. Aber es ist immer von Vorteil zu vergleichen und zu zeigen, was ein dem schamanischen ähnliches magisch-religiöses Element anderswo ergibt, wo es in einem anderen kulturellen Komplex und mit anderer geistiger Orientierung integriert ist1.

1 In diesem Sinn, und nur in diesem, erscheint uns das Aufsuchen «schamanischer» Elemente in einer weiter entwickelten Religion oder Mystik von Wert. Das Entdecken eines schamanischen Ritus oder Symbols im alten Indien gewinnt Bedeutung in dem Maß, als man im Schamanismus ein reinlich abgegrenztes religiöses Phänomen zu sehen gelernt hat. Andernfalls wird man unbestimmt von «primitiven Elementen» 

Mag der Schamanismus auch das religiöse Leben Zentral- und Nordasiens beherrschen - er ist deshalb doch nicht die Religion dieses riesigen Bereiches. Nur Bequemlichkeit und Begriffsverwirrung konnten dazu führen, daß man die Religion der arktischen oder turktatarischen Völker einfach als Schamanismus betrachtete. Die Religionen Zentral-und Nordasiens gehen auf allen Seiten über den Schamanismus hinaus, so wie eine jede Religion über das mystische Erlebnis einiger Privilegierter unter ihren Mitgliedern hinausgeht. Die Schamanen sind «Auserwählte» und als solche haben sie Zutritt zu einem Bereich des Heiligen, der für die übrigen Mitglieder der Gemeinschaft unzugänglich ist. Ihre ekstatischen Erlebnisse haben auf die Schichtenbildung der religiösen Ideologie, auf Mythologie und rituelles Leben einen mächtigen Einfluß geübt und üben ihn noch. Aber Ideologie wie Mythologie und Riten der arktischen, sibirischen und zentralasiatischen Völkerschaften sind nicht die Schöpfung ihrer Schamanen. All diese Elemente waren früher als der Schamanismus oder gehen ihm zum mindesten parallel, das heißt sie sind die Frucht des religiösen Erlebnisses aller und nicht einer bestimmten Klasse von Privilegierten, der Ekstatiker. Im Gegenteil, es gibt eine immer wiederkehrende Beobachtung, daß das scha-manische (also ekstatische) Erlebnis sich in der Sprache einer Ideologie ausdrücken möchte, die ihm nicht immer zum Vorteil gereicht.

Um nicht zu sehr auf den Inhalt der folgenden Kapitel vorauszugreifen, beschränken wir uns auf folgende Feststellung: Die Schamanen sind Wesen, die sich im Schoß ihrer jeweiligen Gesellschaft durch bestimmte Züge hervortun, welche innerhalb der Gesellschaften des modernen Europa die Zeichen einer «Berufung» oder doch einer «religiösen Krise» sind. Sie sind von der übrigen Gemeinschaft durch die Intensität ihres religiösen Erlebnisses abgesondert. Man würde also mit besserem Grund den Schamanismus unter die Mystiken einreihen als unter das, was man gewöhnlich mit «Religion» bezeichnet. Wir werden dem Schamanismus innerhalb vieler Religionen begegnen, denn er bleibt immer eine Technik der Ekstase, die einer gewissen Elite zur Verfügung steht und in gewisser Weise die Mystik der betreffenden Religion konstituiert.

sprechen, wie sie in jeder noch so «entwickelten» Religion zu finden sind. Denn die Religionen Indiens und des Iran weisen wie jede andere Religion des alten oder modernen Orient eine große Anzahl «primitiver Elemente» auf. die deswegen noch nicht schamanisch sind. Man kann nicht einmal jede Ekstasetechnik des Orients, mag sie auch noch so «primitiv» sein, als «schamanisch» ansprechen.

Ein Vergleich bietet sich auf den ersten Blick, der Vergleich mit den Mönchen, Mystikern und Heiligen der christlichen Kirchen. Aber man darf den Vergleich nicht zu weit treiben: Im Unterschied zum Christentum (wenigstens in seiner neueren Geschichte) messen die Völker, die sich als «schamanistische» zu erkennen geben, den ekstatischen Erlebnissen ihrer Schamanen eine erhebliche Bedeutung zu; sind es doch die Schamanen, die sie durch ihre Trancen heilen, die ihre Toten ins «Reich der Schatten» geleiten und als Mittler zwischen ihnen und ihren Göttern, himmlischen und unterweltlichen, großen und kleinen, dienen. Diese mystische Elite lenkt nicht nur das religiöse Leben der Gemeinschaft, sondern wacht in gewisser Weise über ihre «Seele». Der Schamane ist der große «Spezialist» für die menschliche Seele; er allein «sieht» sie, denn er kennt ihre «Gestalt» und ihr Schicksal.

Dort aber, wo das Los der Seele selber nicht berührt ist, wo es sich nicht um Krankheit (= Verlust der Seele), Tod oder Unglück handelt, oder um ein großes Opfer, das ein mystisches Erlebnis beliebiger Art (mystische Himmels- oder Unterweltsreise) einbegreift, dort ist der Schamane entbehrlich. Ein großer Teil des religiösen Lebens spielt sich ohne ihn ab.

Die arktischen, sibirischen und zentralasiatischen Völker setzen sich bekanntlich in ihrer überwiegenden Mehrheit aus Jägern und Fischern sowie aus Hirten und Viehzüchtern zusammen, und unbeschadet ihrer volklichen und sprachlichen Verschiedenheit stimmen ihre Religionen in den großen Zügen überein. Tschuktschen und Tungusen, Samojeden und Turktataren, um nur einige von den wichtigsten Gruppen zu nennen, verehren einen Großen Himmelsgott, der Schöpfer und allmächtig ist, doch im Begriff ein deus oliosus2 zu werden. Mitunter bedeutet schon der Name des Großen Gottes «Himmel»; so zum Beispiel bei dem Num der Samojeden, dem Buga der Tungusen oder dem Tengri der Mongolen (vgl. auch Tengeri bei den Buriäten, Tangere bei den Wolgatataren, Tingir bei den Beltiren, Tangara bei den Jakuten usw.). Und wenn auch der konkrete Name «Himmel» fehlt, so findet sich doch 

2 Dieses für die Religionsgeschichte hochwichtige Phänomen ist keineswegs auf Zentral- und Nordasien beschränkt. Man begegnet ihm überall auf der Welt und seine Erklärung ist noch nicht abgeschlossen; vgl. Eliade, Traité d'Histoire des Religions (Payot. 1949. deutsch; Die Religionen und das Heilige, Salzburg 1954. S. 71 ff.). Das vorliegende Werk soll auf dieses Problem ein wenigstens indirektes Licht werfen. 

eines seiner bezeichnendsten Attribute: er ist «hoch», «erhaben», «leuchtend» usw. So kommt bei den Irtysch-Ostjaken der Name des Himmelsgottes von dem Wort sänke, ursprünglich «leuchtend, glänzend, Licht». Die Jakuten nennen ihn «hocherhabenen Meister» (ar lojon), die Altaitataren «Weißes Licht» (ak ajas), die Korjaken «Den von oben», «den Meister der Höhe» usw. Die Turktataren, bei welchen der Große Himmelsgott seine religiöse Aktualität besser bewahrt als bei ihren nördlichen und nordöstlichen Nachbarn, nennen ihn in gleicher Weise «Oberhaupt», «Herr» und oft «Vater» (s. Eliade, Die Religionen und das Heilige, S. 88 ff.).

Dieser Himmelsgott, der den Oberhimmel bewohnt, verfügt über mehrere «Söhne» oder «Boten», die, ihm untergeordnet, die unteren Himmel innehaben. Zahl und Namen sind von Stamm zu Stamm verschieden: im allgemeinen ist von sieben oder neun «Söhnen» und «Töchtern» die Rede, und mit mehreren von ihnen unterhält der Schamane ganz besondere Beziehungen. Diese Söhne, Boten oder Diener des Himmelsgottes haben die Aufgabe, über die Menschen zu wachen und ihnen zu helfen. Das Pantheon ist manchmal noch weit zahlreicher, so zum Beispiel bei den Buriäten, Jakuten und Mongolen. Die Buriäten sprechen von 55 «guten» und 44 «bösen» Göttern, die seit jeher in endlosem Streit liegen. Doch, wie sich unten zeigen wird, gibt es Gründe dafür, daß diese Vervielfachung der Götter - wie auch der Gegensatz zwischen ihnen - vielleicht ziemlich junge Neuerungen sind.

Göttinnen kommen bei den Turktataren fast überhaupt nicht vor. Die mythisch-religiöse Funktion der Erde ist recht bescheiden; es gibt keine figürlichen Abbildungen der Erdgöttin und man bringt ihr keine Opfer dar. Die mythologische Rolle der Frau ist ebenfalls ziemlich beschränkt, wenn sie auch in gewissen schamanischen Traditionen noch spurenweise greifbar ist. Der einzige große Gott nach dem Himmelsoder Luftgott3 ist bei den Altaiern der Herr der Unterwelt, Erlik Khan; auch er ist dem Schamanen gut bekannt. Ein sehr bedeutender Feuerkult, Jagdriten, die Todesvorstellung, auf welche wir noch mehrfach zurückzukommen haben, mögen diese kurze Aufzählung aus dem religiösen Leben Zentral- und Nordasiens vervollständigen. In morphologischer Hinsicht nähert sich diese Religion in ihren großen Zügen

3 Audi in Zentralasien findet sich der bekannte Übergang vom Himmelsgott zu einem Luft- oder Sturmgott; vgl. Religionen, S. 117 ff.

der der Indogermanen: hier wie dort dieselbe Wichtigkeit des Großen Himmels- oder Sturmgottes, dasselbe Fehlen der Göttinnen (die so charakteristisch sind für den indisch-mediterranen Bereich), dieselbe Funktion der «Söhne» oder «Boten» (Açvins, Dioskuren usw.), dieselbe Betonung des Feuers. Noch deutlicher zeigt sich diese Nachbarschaft zwischen frühen Indogermanen und alten Turktataren auf dem Gebiet der Soziologie und der Wirtschaft: beides Gesellschaften von patriarchalischer Struktur mit besonderem Ansehen des Familienoberhauptes, die im Großen und Ganzen die Wirtschaft von Jägern oder Hirten und Viehzüchtern betreiben. Auf die religiöse Bedeutung des Pferdes bei den Turktataren und den Indogermanen wurde schon früh hingewiesen, und in jüngster Zeit hat man, wie wir noch zeigen werden, im ältesten griechischen Opfer, dem olympischen, Spuren des bezeichnendsten Opfers der Turktataren, der Ugrier und anderer arktischer Völker nachgewiesen - eines Opfers, das gerade die primitiven Jäger oder Hirten und Viehzüchter kennzeichnet. Dies ist nicht ohne Belang für unser Problem: Eine solche Symmetrie in Wirtschaft, Soziologie und Religion der frühen Indogermanen und der frühen Turktataren (oder besser Urtürken)4 führt zu der Frage, ob es nicht auch bei den indogermanischen Völkern der geschichtlichen Zeit «schama-nische» Spuren gibt, die sich mit dem turktatarischen Schamanismus vergleichen lassen.

Aber man kann es nicht oft genug wiederholen: Nirgendwo auf der Welt oder in der Geschichte läßt sich ein religiöses Phänomen finden, das wirklich «rein» und vollkommen «ursprünglich» wäre. Was wir an palethnologischen und prähistorischen Zeugnissen besitzen, reicht nicht über das Paläolithikum zurück, und nichts erlaubt uns zu glauben, die Menschheit habe in den Hunderttausenden von Jahren vor der ältesten Steinzeit ein weniger intensives und weniger reich abgewandeltes religiöses Leben geführt als später. Es ist so gut wie sicher, daß mindestens ein Teil der vorsteinzeitlichen magisch-religiösen Glaubensvorstellungen sich in den späteren religiösen Vorstellungen und My-thologien erhalten hat; doch es ist nicht weniger wahrscheinlich, daß dieses geistige Erbe der Vor-Steinzeit im Lauf der vielen kulturellen Berührungen zwischen den vor- und frühgeschichtlichen Völkern unaufhörlichen Veränderungen unterworfen war. Nirgends in der Religionsgeschichte also hat man es mit «ursprünglichen» Phänomenen zu tun, denn die «Geschichte» ist überall hingekommen und hat unter den religiösen Vorstellungen, den Schöpfungen der Mythologie, den Riten, den Ekstasetechniken verändernd, umschmelzend, bereichernd und verarmend gewirkt. Sicher hat jede Religion, wenn sie nach langen inneren Umbildungsprozessen endlich zu ihrer autonomen Struktur gefunden hat, eine nur ihr eigene «Gestalt», die als solche in der Geschichte weiterdauert, aber keine Religion ist gänzlich «neu», keine religiöse Botschaft vermag ganz die Vergangenheit abzuschaffen: es handelt sich viel eher um Einschmelzung, um Erneuerung, um Wiedereinsetzung und Integration von Elementen - und zwar den wesentlichsten! - aus unvordenklicher religiöser Überlieferung.

Diese wenigen Bemerkungen mögen genügen, um provisorisch den geschichtlichen Horizont des Schamanismus abzustecken; einige von seinen Elementen, die wir nun genauer zu bestimmen haben, sind eindeutig archaisch, aber auch damit nicht «rein» und «ursprünglich». Der turko-mongolische Schamanismus, wie er sich uns darstellt, ist sogar reich an orientalischen Einflüssen, und wenn es auch andere Schamanismen ohne so deutlich bestimmte und so junge Einflüsse gibt, so sind sie deswegen um nichts «ursprünglicher».

Die arktischen, sibirischen und zentralasiatischen Religionen, in welchen der Schamanismus die höchste Stufe seiner Integration erreicht hat, sind, wie wir gesehen haben, auf der einen Seite durch das - kaum spürbare - Vorhandensein eines Großen Himmelsgottes charakterisiert, auf der anderen durch Jagdriten und Ahnenkulte, die eine ganz andere religiöse Orientierung voraussetzen. Wie wir weiter unten sehen werden, ist der Schamane in jeden dieser religiösen Sektoren mehr oder weniger unmittelbar einbezogen, doch hat man immer den Eindruck, daß er in einem Sektor mehr «zuhause» ist als in einem anderen. Durch Ekstaseerlebnis und Magie konstituiert, paßt sich der Schamanismus mehr oder weniger schlecht den verschiedenen religiösen Strukturen an, auf die er trifft. Manchmal ist man geradezu frappiert, wenn man die Beschreibung einer schamanischen Sitzung sich im Ganzen des religiösen Lebens des betreffenden Volkes vorstellt, etwa zusammen mit dem Großen Himmelsgott und seinen Mythen; man hat den Eindruck zweier völlig verschiedener religiöser Welten. Und doch ist dieser Eindruck falsch: Der Unterschied beruht nicht in der Struktur der religiösen Welten, sondern in der Intensität des religiösen Erlebnisses, das durch die schamanische Sitzung ausgelöst wird. Eine solche Sitzung verzichtet selten auf die Ekstase, und aus der Religionsgeschichte wissen wir, daß kein religiöses Erlebnis mehr Entstellungen und Verirrungen ausgesetzt ist als das ekstatische.

Beschließen wir damit diese vorläufigen Bemerkungen. Beim Studium des Schamanismus hat man sich immer daran zu erinnern, daß er eine bestimmte Anzahl eigentümlicher, ja «privater» religiöser Elemente festhält und deshalb das religiöse Leben der übrigen Gemeinschaft bei weitem nicht erschöpft. Der Schamane beginnt sein neues, eigentliches Leben durch eine «Absonderung», das heißt, wie sich sogleich zeigen wird, durch eine geistige Krise, welche weder der tragischen Größe noch der Schönheit entbehrt.

Verleihung der Schamanenkraft

ln Sibirien und Nordostasien gibt es vor allem folgende Arten, junge Schamanen auszuwählen: 1. erbliche Übertragung des Schamanenberufs und 2. spontane Berufung (der «Ruf» oder die «Auserwählung»). Man kennt auch den Fall des Individuums, das aus eigenem Willen (so z. B. bei den Altaiern) oder durch den Willen des Clans (Tungusen usw.) Schamane wird. Doch gelten die «self-made»-Schamanen für schwächer als die, welche diesen Beruf geerbt haben oder dem «Ruf» von Göttern und Geistern gefolgt sind5. Was die Wahl durch den Clan betrifft, so ist sie dem Ekstase-Erlebnis untergeordnet; hat ein solches nicht statt, so wird der zum Nachfolger des verstorbenen Schamanen ausersehene Jüngling wieder fallen gelassen (s. u. S. 27).

Welches nun die Art der Erwählung gewesen sei, anerkannt ist ein Schamane erst nach einer doppelten Unterweisung, die 1. durch Ekstase  5 Für die Altaier siehe G. N. Potanm. Otcherki severo-zapadnoj Mongolii IV (Sankt Petersburg 1883), S. 57; M. Mikhailowski, Shamanism in Siberia and European Russia (Journal of the Royal Anthropological Institute, 24. Bd., 1894, S. 62-100' 126-158) S. 90.

(Träume, Trance), 2. durch Überlieferung (schamanische Techniken, Namen und Funktionen der Geister, Mythologie und Genealogie des Clans, Geheimsprache usw.) geschieht. Diese doppelte Unterweisung durch Geister und durch alte Schamanenmeister kommt einer Initiation gleich. Zuweilen ist die Initiation öffentlich und bildet schon für sich ein eigenständiges Ritual, doch bedeutet das Fehlen eines solchen Rituals keineswegs das Fehlen der Initiation; diese kann sich sehr wohl im Traum oder im Ekstaseerlebnis des Neophyten vollzogen haben. Die wenigen Zeugnisse von schamanischen Träumen zeigen durchgehends, daß es sich hier um Initiation handelt, wie sie in ihrer Struktur aus der Religionsgeschichte hinlänglich bekannt ist, in keinem Fall aber um sinnlose Halluzinationen und wirklich individuelle Erdichtung. Diese Halluzinationen und Erdichtungen halten sich an überlieferte, zusammenhängende Muster, welche deutlich artikuliert und von erstaunlich reichem theoretischem Gehalt sind.

Diese Feststellungen schaffen vielleicht eine festere Unterlage für die Frage der Psychopathie der Schamanen, die wir im folgenden zu behandeln haben. Ob Psychopathen oder nicht, auf jeden Fall müssen die künftigen Schamanen bestimmte Initiationsproben bestehen und eine - zuweilen sehr komplexe - Unterweisung empfangen. Nur diese doppelte Initiation durch Ekstase und Überlieferung verwandelt den Kandidaten aus einem etwaigen Neurotiker in einen von der Gesellschaft anerkannten Schamanen. Dieselbe Beobachtung gilt für den Ursprung der Schamanenkräfte: Nicht auf den Ausgangspunkt dieser Kräfte kommt es an (ob Erbschaft, Verleihung durch Geister, selbstgewollte Wahl), sondern auf die Technik und die dieser Technik zugrundeliegende Theorie, was beides durch die Initiation vermittelt wird.

Diese Feststellung scheint bedeutungsvoll, denn mehr als einmal wollte man aus der Verschiedenheit eines erblichen und eines spontanen Schamanismus, anders ausgedrückt aus der Abhängigkeit oder Unabhängigkeit des für die Schamanenlaufbahn entscheidenden «Rufes» von der psychopathischen Konstitution des Schamanen, entscheidende Schlüsse auf die Struktur und sogar die Geschichte dieses religiösen Phänomens ziehen. Wir werden weiter unten auf diese methodischen Fragen zurückkommen. Für den Augenblick beschränken wir uns darauf, einige sibirische und nordasiatische Zeugnisse für die Erwählung von Schamanen zu betrachten ohne den Versuch einer 

Klassifizierung (erbliche Übertragung, Ruf, Ernennung durch den Clan, persönliche Entscheidung), denn wie wir sogleich sehen werden, kennen die meisten uns interessierenden Völker fast immer mehrere Wege der «Rekrutierung» 6.

Rekrutierung von Schamanen in West- und Mittelsibirien

Bei den Wogulen ist nach Gondattis Angaben der Schamanismus erblich und zwar auch in weiblicher Linie. Aber der künftige Schamane fällt von Jugend an auf: Schon früh wird er nervös und ist manchmal epileptischen Anfällen ausgesetzt, welche man als Begegnung mit den Göttern auslegt 7. Anders scheint es bei den östlichen Ostjaken zu sein. Dort kann nach Dunin-Gorkawitsch der Schamanismus nicht erlernt werden; er ist eine Gabe des Himmels, die man bei der Geburt empfängt. Am Irtysch ist er ein Geschenk Sänkes (des Himmelsgottes) und macht sich schon im zartesten Alter bemerkbar. Auch die Waß-juganen sind der Ansicht, daß man als Schamane geboren wird8. Aber, wie Karjalainen (S. 250 f.) bemerkt, der Schamanismus, ob erblich oder spontan, ist immer eine Gabe der Götter oder der Geister; unter einem bestimmten Gesichtspunkt ist die Erblichkeit überhaupt nur eine scheinbare.

Im Allgemeinen bestehen die beiden Formen nebeneinander. Bei den Wotjaken zum Beispiel ist der Schamanismus erblich, aber er wird auch direkt vom höchsten Gott verliehen, der selbst durch Träume und Visionen den künftigen Schamanen unterrichtet9.

Genau so ist es bei den Lappen, wo die Gabe in der Familie weitergeht, aber auch durch die Geister frei verliehen wird 10.

Bei den sibirischen Samojeden und den Ostjaken ist der Schamanismus erblich. Beim Tod des Vaters macht der Sohn aus Holz ein Abbild seiner Hand und bewirkt durch dieses Symbol, daß die Kraft des Vaters auf ihn übergeh11. Aber es genügt nicht, ein Schamanensohn zu sein; der Neophyt muß außerdem von den Geistern akzeptiert und sanktioniert werden12. Bei den Jurak-Samojeden ist der künftige Schamane von Geburt an bekannt: die Kinder nämlich, welche mit ihrem «Hemd» auf die Welt kommen, sind dazu bestimmt Schamanen zu werden (die ihr «Hemd» nur über dem Kopf haben, werden ganz kleine Schamanen). Gegen die Reifezeit zu beginnt der Kandidat Visionen zu haben, singt im Schlaf, wandelt gern in der Einsamkeit herum usw. Nach dieser Inkubationszeit schließt er sich einem alten Schamanen an, um seine Unterweisung zu empfangen13. Bei den Ostjaken wählt sich manchmal der Vater selbst seinen Nachfolger unter den Söhnen aus; er hält sich dabei nicht an das Erstgeburtsrecht, sondern an die Fähigkeiten des Kandidaten. Ihm gibt er dann das überlieferte Geheimwissen weiter. Wer keine Kinder hat, übergibt es einem Freund oder Schüler. In jedem Fall verbringen die zu Schamanen Bestimmten ihre Jugend damit, die Lehren und die Technik ihres Berufes handhaben zu lernen14.

Bei den Jakuten ist nach Sieroszewski1 die Gabe des Schamanen-tums nicht erblich. Indes verschwindet der ämägät (Zeichen, Schutzgeist) nach dem Tod des Schamanen nicht und sucht sich deshalb in einem Mitglied derselben Familie zu verkörpern. Pripuzov16 berichtet folgende Einzelheiten: Die zum Schamanen bestimmte Person beginnt zu toben, verliert dann auf einmal das Bewußtsein, zieht sich in die Wälder zurück, nährt sich von Baumrinden, stürzt sich ins Wasser und ins Feuer und bringt sich mit dem Messer Wunden bei. Die Familie wendet sich nun an einen alten Schamanen und dieser übernimmt die Aufgabe, den jungen Verwirrten über die verschiedenen Klassen von Geistern zu unterweisen und über die Art, wie man sie ruft und beherrscht. Dies ist aber erst der Anfang der Initiation im eigentlichen Sinn, über deren weitere Zeremonien wir noch zu sprechen haben.

Bei den transbaikalischen Tungusen erklärt ein Mensch, der Schamane werden will, daß ihm der Geist eines verstorbenen Schamanen im Traum erschienen ist und befohlen hat, seine Nachfolge zu übernehmen. Es ist Sitte, daß eine solche Erklärung, um glaubwürdig zu sein, von einer ziemlich weitgehenden Geistesverwirrung begleitet sein muß”. Nach dem Glauben der Turuschansker Tungusen sieht der zum Schamanen Bestimmte im Traum den «Teufel» Khargi schama-nische Riten vollziehen. Bei dieser Gelegenheit erfährt er die Geheimnisse seines Berufes 18. Auf diese «Geheimnisse» haben wir noch zurückzukommen, denn sie bilden eigentlich das Herz der schamanischen Initiation, welche sich zuweilen in Träumen und Trancen von scheinbar krankhaftem Charakter vollzieht.

Rekrutierung bei den Tungusen

Bei den Mandschus und den Tungusen der Mandschurei gibt es zwei Klassen von «großen» Schamanen (amba saman): die des Clans, und die vom Clan unabhängigen Im ersten Fall erfolgt die Weitergabe der Schamanenkräfte im allgemeinen vom Großvater zum Enkel, denn der Sohn muß für die Bedürfnisse seines Vaters sorgen und kann deshalb nicht Schamane werden. Bei den Mandschus ist es auch dem Sohn möglich, aber wenn kein Sohn da ist, erbt der Enkel die Schamanengabe, das heißt die «Geister», welche nach dem Tod des Scha-manen zur Verfügung stehen. Ein Problem entsteht dann, wenn in der Familie des Schamanen niemand da ist, der diese Geister in Besitz nehmen könnte; in diesem Fall wendet man sich an einen Fremden. Für den unabhängigen Schamanen gibt es hierin keine Regel (Shiroko-gorov, a.a. O., S. 346), er folgt seiner eigenen Berufung.

Shirokogorov beschreibt mehrere Fälle schamanischer Berufungen. Es scheint sich immer um eine hysterische oder hysteroide Krise zu handeln, der eine Lehrzeit folgt, während welcher der Neophyt durch seinen Schamanen eingeweiht wird (Shirokogorov, S. 346 f.). In der Mehrzahl der Fälle treten diese Krisen während der Reifezeit ein, doch man kann erst einige Jahre nach dem ersten derartigen Erlebnis Schamane werden (ebd., S. 349), und als Schamane anerkannt wird man nur von der ganzen Gemeinschaft und nach Bestehen der Initiationsprobe20. Fehlt etwas davon, so darf kein Schamane seine Funktion ausüben. Viele verzichten auf den Beruf, wenn sie nicht vom Clan als würdig zum Schamanentum befunden werden (ebd., S. 350).

Die Unterweisung spielt eine bedeutende Rolle, aber sie findet erst nach dem ersten Ekstaseerlebnis statt. Bei den Tungusen der Mandschurei zum Beispiel wird das Kind ausgewählt und als künftiger Schamane erzogen, aber entscheidend ist die erste Ekstase; findet sie nicht statt, so läßt der Clan seinen Kandidaten fallen (ebd., S. 350). Manchmal kann das Betragen des jungen Kandidaten die Weihe entscheiden und beschleunigen. So kommt es vor, daß er sich ins Gebirge flüchtet und dort eine Woche und länger bleibt, um sich von Tieren zu nähren, «die von ihm selber mit den Zähnen gefangen sind»21, und schmutzig, blutig, mit zerrissenen Kleidern und zerrauften Haaren «wie ein Wilder»22 ins Dorf zurückzukehren. Erst nach etwa zehn Tagen beginnt der Kandidat unzusammenhängende Worte zu stammeln23. Ein alter Schamane stellt ihm nun vorsichtig einige Fragen; der Kandidat (genauer der «Geist», welcher ihn besessen hält), wird rasend und bezeichnet 20 Shirokogorov, S. 350 f.-, über diese Initiation s. u. S. 113 f.

21 Dies zeigt Verwandlung in ein wildes Tier an, also in gewisser Weise eine Reintegration in den Ahnen.

22 All diese Einzelheiten haben Initiationsbedeutung, wie sich weiter unten zeigen wird.

23 In dieser Schweigezeit vollendet sich seine Initiation durch die Geister, worüber die tungusisthen und buriätischen Schamanen wertvolle Einzelheiten berichten-, s. auch S. 81 ff.

schließlich denjenigen unter den Schamanen, der den Göttern die Opfer darbringen und die Initiations- und Weihezeremonie vorbereiten soll (Shirokogorov, S. 351; über die Abfolge der eigentlichen Zeremonie s. u. S. 116 f.).

Rekrutierung bei den Buriäten und den Altaiern

Bei den Alaren-Buriäten, welche Sandschejew erforscht hat, pflanzt sich das Schamanentum in väterlicher wie mütterlicher Linie fort, kann aber auch spontan sein. In beiden Fällen gibt sich die Berufung durch Träume und Krämpfe kund; das eine wie das andere bewirken die Geister der Ahnen (utcha). Die Berufung zum Schamanen ist verpflichtend; man kann sich ihr nicht entziehen. Gibt es keinen passenden Kandidaten, dann quälen die Ahnengeister die Kinder; diese weinen im Schlaf, werden nervös und verträumt, und wenn sie 13 Jahre alt sind, weiht man sie zu Schamanen. Die Vorbereitungszeit bringt eine lange Reihe ekstatischer Erlebnisse; die Ahnengeister erscheinen dem Neo-phyten im Traum und tragen ihn manchmal bis in die Unterwelt. Der junge Mann bildet sich nebeneinander bei den Schamanen und bei den Ahnen aus; er erlernt Genealogie und Überlieferungen des Clans, die Mythologie und den Wortschatz der Schamanen. Der Lehrer nennt sich Schamanenvater. In seiner Ekstase singt der Kandidat schamanische Hymnen24 - das Zeichen dafür, daß der Kontakt mit dem Jenseits bereits hergestellt ist.

Bei den südsibirischen Buriäten ist das Schamanentum im allgemeinen erblich, doch man kann auch durch göttliche Erwählung oder infolge eines Unglücksfalls Schamane werden; so wählen sich die Götter einen zum Schamanen, indem sie ihn mit dem Blitz treffen, oder sie zeigen ihm ihren Willen an durch Steine, die vom Himmel gefallen sind25; einer hat zufällig vom tarasun getrunken, in dem sich ein solcher Stein befand, und ist zum Schamanen geworden. Aber auch diese von den Göttern gewählten Schamanen müssen von alten Schamanen ge-24 Garma Sandschejew, Weltanschauung und Schamanismus der Alaren-Butjaten (aus dem Russischen übers, von R. Augustin, Anthropos, Bd. 22, 1927, S. 576-613, 933-955; Bd. 23, 1928, S. 538-560, 967-986), 1928, S.977f.

25 Über die vom Himmel gefallenen «Blitzsteine, s. M. Bliade, Die Religionen und das Heilige, S. 80.

führt und unterwiesen werden (Mikhailowski, S. 86). Die Rolle des Blitzes bei der Bezeichnung des künftigen Schamanen ist bedeutsam, sie zeigt den himmlischen Ursprung der Schamanenkräfte an. Der Fall ist nicht isoliert; auch bei den Sojoten wird man Schamane, wenn man vom Blitz getroffen worden ist26, und der Blitz ist auch manchmal auf der Schamanentracht bezeugt.

Beim erblichen Schamanismus wählen die Seelen der Schamanenahnen einen jungen Mann der Familie aus; dieser wird geistesabwesend und träumerisch, liebt die Einsamkeit, hat prophetische Gesichte und gelegentlich auch Anfälle, in denen er bewußtlos ist. Während dieser Zeit ist, nach dem Glauben der Buriäten, seine Seele durch die Geister entrückt - nach Westen, wenn er zum weißen, nach Osten, wenn er zum schwarzen Schamanen bestimmt ist. In den Palästen der Götter wird die Seele des Neophyten durch seine schamanischen Ahnen in den Geheimnissen seines Handwerks, den Gestalten und Namen der Götter, dem Kult und den Namen der Geister unterrichtet. Erst nach dieser ersten Initiation kehrt die Seele in den Körper zurück (Mikhailowski, S. 87). Wir werden sehen, daß die Initiation noch lange Zeit in Anspruch nimmt.

Für die Altaier ist die Gabe des Schamanentums im allgemeinen erblich. Schon als Kind zeigt sich der künftige kam kränklich, einzelgängerisch und kontemplativ. Aber er erfährt noch eine lange Vorbereitung durch seinen Vater, der ihn die Lieder und die Überlieferung des Stammes lehrt. Wenn in einer Familie ein junger Mann epileptische Anfälle hat, so sind die Altaier überzeugt, daß einer seiner Ahnen Schamane war. Doch kann man auch aus eigenem Willen ein kam werden, wenngleich ein solcher Schamane für geringer angesehen wird als die anderen

Bei den Kasak-Kirgisen geht der Beruf des baqça in der Regel vom Vater auf den Sohn über; in Ausnahmefällen gibt ihn der Vater auch an seine beiden Söhne weiter. Doch man erinnert sich noch an eine alte Zeit, wo der Neophyt unmittelbar von den alten Schamanen gewählt 26 Potanin, Otcherki severo-zapadnoj Mongolii IV, S. 289.

27 Potanin, Otcherki IV. S. 56 f.; Mikhailowski, S. 90; Radlov, Aus Sibirien (Leipzig 1884) II, S. 16; A. V. Anochin, Malerialy po shamanstvu u altaicev, S. 29 ff .; H. von Lankenau, Die Schamanen und das Schamanenwesen (Globus XXII, 1872), S. 278 ff., W. Schmidt. Der Ursprung der Goiiestdee IX (Freiburg 1949), S. 245-248 (für die Altai-Tataren), S. 687 f. (für die Abakan-Tataren).

wurde. «Früher nahmen die baqças manchmal ganz junge Kasak-Kir-gisen in Dienst, meistens Waisenkinder, und weihten sie in den Beruf des baqça ein; doch war für den Erfolg darin eine Disposition zu nervösen Krankheiten nötig. Wer sich dem baqçylyk widmete, zeichnete sich durch plötzlichen Wechsel seines Zustandes aus, durch blitzschnellen Übergang von Erregung zum normalen Zustand, von Melancholie zu Heftigkeit28

Ererbtes und erwähltes Schamanentum

Zwei Folgerungen ergeben sich schon aus diesem kurzen Überblick über den sibirischen und zentralasiatischen Bestand: 1. das Nebeneinander eines erblichen und eines unmittelbar von den Göttern und Geistern verliehenen Schamanismus, 2. die Häufigkeit krankhafter Erscheinungen bei der spontanen Kundgabe bzw. erblichen Weitergabe der Berufung zum Schamanen. Betrachten wir nun die Situation außerhalb Sibiriens, Zentralasiens und der arktischen Zone.

Es hat keinen Sinn, sich bei der Frage «Erblichkeit oder spontane Berufung des Zauberers und Medizinmanns» allzulang aufzuhalten. Im Großen und Ganzen ist die Lage überall gleich: beide Wege zu den magisch-religiösen Kräften bestehen nebeneinander. Einige Beispiele mögen genügen.

Der Beruf des Medizinmanns ist erblich bei den Zulus und den Bet-schuana in Südafrika 29, bei den Nyima im südlichen Sudan 30, den Negrito und Jakun auf der malaiischen Halbinsel31, den Batak und anderen Völkern auf Sumatra32, den Dajak33, bei den Zauberern auf 

28 J. Castagné, Magie et exorcisme chez les Kazak-Ktrghizes es ausres peuples sures orientaux (Revue des Etudes islamiques, 1930, S. 53-151), S. 60.

29 Max Bartels, Die Medizin der Naturvölker (Leipzig 1893), S. 25.

30    S. F. Nadel, A study of shamanism in the Nuba Mountains (Journal of the Royal Anthropological Institute, Bd. 76, 1946, S. 25-37), S. 27.

31    Ivor H. N. Evans, Studies in Religion, Folklore and Customs in British North Borneo and the Malay Peninsula (Cambridge 1923), S. 159. 264.

32 E. M. Loeb und Robert Heine-Geldern, Sumatra (Wien 1935), S. 81 (über die nördlichen Batak), 125 (die Minangkabau), 155 (die Nias).

33 H. Ling Roth, Natives of Sarawak and British North Borneo (2 Bdc., London 1896), I, S. 260; auch bei den Ngadju Dajak, vgl. H. Scharer, Die Gottesidee der Ngadju Dajak in Süd-Borneo (Leiden 1946), S. 58.

den Neuen Hebriden 34 und bei mehreren Stämmen in Guayana und am Amazonas (den Shipibo, Cobeno, Macushi usw.)35. «Nach Ansicht der Cobeno hat ein Schamane mit ererbtem Recht mehr Macht als einer, der sein Amt der eigenen Initiative verdankt» (A. Métraux, a.a.O., S. 201). Bei den Stämmen der Rocky Mountains in Nordamerika kann die Schamanenkraft ebenfalls erblich sein, doch geschieht die Weitergabe immer durch ein ekstatisches Erlebnis (Traum)36. Wie Park (S. 29) bemerkt, scheint die Beerbung mehr darin zu bestehen, daß nach dem Tod des Schamanen eines seiner Kinder oder ein anderes Familienmitglied eine Neigung zeigt, seine Kraft zu erlangen, indem es aus der nämlichen Quelle schöpft. Bei den Puyallup hat, wie Marian Smith mitteilt, «die Kraft die Neigung, in der Familie zu bleiben»37. Man kennt auch Fälle, wo der Schamane noch zu Lebzeiten die Kraft an sein Kind weitergibt (Park, S. 30). Erblichkeit der Schamanenkraft scheint die Regel zu sein bei den Stämmen des Plateaus (den Thompson, Shu-shwap, den südlichen Okanagon, den Klallam, Nez Percé, Klamath, Tenino) und in Nordkarolina und findet sich auch bei den Hupa, Chimariko, Wintu und westlichen Mono2. Die Weitergabe der «Geister» bleibt immer die Grundlage dieser schamanischen Beerbung, im Gegensatz zu der fast überall bei den nordamerikanischen Stämmen gebräuchlicheren Methode, die «Geister» durch ein spontanes Erlebnis (Traum usw.) oder freiwilliges Aufsuchen in Besitz zu nehmen. Bei den Eskimo ist der Schamanismus ziemlich selten erblich. Ein Iglulik wird Schamane, nachdem er durch ein Walroß verwundet worden ist; doch in gewisser Hinsicht hat er die Befähigung von seiner Mutter geerbt, welche durch eine Feuerkugel, die in ihren Körper eindrang, Schamanin geworden war39.

Nicht erblich ist das Amt des Medizinmanns bei einer beträchtlichen Anzahl primitiver Völker, deren Aufzählung hier nicht von Interesse sein kann40, Überall auf der Welt gilt ja auch die Möglichkeit, religiösmagische Kräfte ebensowohl spontan (durch Krankheit, Traum, zufällige Begegnung mit einer Quelle der «Macht» usw.) als willentlich (durch eigene Wahl) zu erlangen. Dabei ist zu beobachten, daß die nicht erbmäßige Aneignung religiös-magischer Fähigkeiten in nahezu zahllosen Formen und Varianten auftritt, welche jedoch mehr in das Gebiet einer allgemeinen Religionsgeschichte als einer systematischen Untersuchung des Schamanismus gehören, umfaßt sie doch ebenso die Möglichkeit, daß man sich auf spontane, willentliche Weise religiös-magische Fähigkeiten verschafft, um ein Schamane, Medizinmann oder Zauberer zu werden, wie die andere, daß man mit ihnen seine eigene Sicherheit und seinen eigenen Vorteil fördern will - beiden begegnen wir so gut wie überall in der archaischen Welt. Dieses zweite Motiv, sich religiös-magische Fähigkeiten zu verschaffen, bedeutet keine Absonderung von dem religiösen oder sozialen Leben der übrigen Gemeinschaft. Wer durch bestimmte elementare, jedoch überlieferte Praktiken ein Anwachsen seiner religiös-magischen Reserven erreicht - etwa um den Reichtum seiner Ernten zu sichern oder sich vor dem Bösen Blick zu schützen -, denkt nicht daran, deswegen seinen religionssoziologischen Stand zu wechseln und Medizinmann zu werden. Er möchte einfach seine vitalen und religiösen Kräfte vermehren. Damit stellt sich diese bescheidene und eng begrenzte Suche nach religiös-magischen Fähigkeiten zu den typischsten und elementarsten Verhaltensweisen, die der Mensch vor dem Heiligen einnehmen kann. Denn wie wir an anderem Ort gezeigt haben, wird beim primitiven wie bei jedem anderen Menschen der Wunsch nach Kontakt mit dem Heiligen durchkreuzt durch die Furcht, damit seinen Zustand als gewöhnlicher Mensch aufzugeben und zu einem mehr oder weniger wehrlosen Instrument für 39 Knud Rasmussen, Intellectual Culture of the Iglulik Eskimos (Kopenhagen 1929), S. 120 ff. Bei den Eskimos auf den Diomedes-Inseln gibt zuweilen der Schamane seine Kraft direkt an einen von seinen Söhnen weiter, s. E. M. Weyer jr., Eskimos (New Haven 1952), S. 429-

40 Vgl. Hutton Webster, Magic. A sociological study (Stanford, California 1948), S. 185 ff.

irgendeine Manifestation des Heiligen (Götter, Geister, Ahnen usw.) verwandelt zu werden.

Im folgenden wird uns die Frage: freiwillige Suche nach religiösmagischen Fähigkeiten oder Verleihung durch Götter und Geister nur dort beschäftigen, wo von einer ganz handfesten Aneignung des Sakralen die Rede ist, welche die religionssoziologische Stellung des Betreffenden von Grund auf ändert und ihn zu einem spezialisierten Techniker macht. Doch auch in solchen Fällen werden wir einen gewissen Widerstand gegen die «göttliche Erwählung» entdecken können.

Schamanismus und Psychopathologie

Hier wären die Beziehungen zu untersuchen, welche man zwischen dem arktischen und sibirischen Schamanismus und den Nervenkrankheiten, vor allem den verschiedenen Formen der arktischen Hysterie zu entdecken geglaubt hat. Seit Krivoshapkin (1861, 1865), Bogoraz (1910), Vitashevskij (1911) und Czaplicka (1914) hat man nicht aufgehört, die psychopathologische Phänomenologie des sibirischen Schamanismus ins Licht zu rücken41. Der letzte Vertreter dieser Erklärung des Schamanismus aus der arktischen Hysterie, A. Ohlmarks, geht so weit, zwischen einem arktischen und einem subarktischen Schamanismus zu unterscheiden, je nach dem Grad der Neuropathie seiner Vertreter. Nach diesem Autor war der Schamanismus ursprünglich eine rein arktische Erscheinung, welche in erster Linie von dem Einfluß der Umwelt auf die labilen Nerven der Polarmenschen herrührte. Die außerordentliche Kälte, die langen Nächte, die Wüsteneinsamkeit, der Vitaminmangel usw. hätten ihren Einfluß auf die nervliche Konstitution der arktischen Völker geübt und Geisteskrankheiten (die arktische Hysterie, das meryak, das menerik usw.) oder auch die schamanische Trance verursacht. Der einzige Unterschied zwischen einem Schamanen und einem Epileptiker sei, daß der Epileptiker die Trance nicht mit dem Willen hervorbringen kann42. In der arktischen Zone ist die schamanische Ekstase eine spontane und organische Erscheinung, und nur in dieser Zone kann man vom «großen Schamanismus» sprechen, das heißt von der Zeremonie, die mit einer wirklichen kataleptischen Trance endigt, während welcher die Seele den Körper verlassen und in den Himmel oder in die Unterwelt reisen soll43. In den subarktischen Gebieten dagegen, wo der Schamane keiner solchen kosmischen Beklemmung ausgesetzt ist, gelangt er nicht auf spontane Weise zu einer wirklichen Trance und sieht sich gezwungen, durch Narkotika eine Halbtrance hervorzurufen oder die Seelen«reise» dramatisch zu spielen44.

Die These von der Gleichung Schamanismus-Geisteskrankheit wurde auch für andere, nichtarktische Formen des Schamanismus geltend gemacht. G. A. Wilken hat schon vor sechzig Jahren behauptet, der indonesische Schamanismus sei ursprünglich eine wirkliche Krankheit gewesen und man habe erst später angefangen, die echte Trance dramatisch nachzuahmen45. Man hat auch nicht versäumt auf die frappanten Beziehungen hinzuweisen, welche zwischen der Geistesverwirrung und den verschiedenen Formen des südasiatischen und ozeanischen Schamanismus bestehen. Nach Loeb ist der Niue-Schamane Epileptiker oder außerordentlich nervös und kommt aus bestimmten Familien, wo Instabilität der Nerven erblich ist46. Auf den Beschreibungen M. A. Czaplickas fußend glaubte J. Layard eine starke Ähnlichkeit zwischen dem sibirischen Schamanen und dem bwili in Malekula zu entdecken4742 Ake Ohlmarks, Studien zum Problem dei Schamanismus, S. 11. Siehe unsern Artikel Le problème du chamanisme (Revue de l'Histoire des Religions, Bd. 131, 1946, S. 5-52), S. 9 ff. Vgl. Harva, Die religiösen Vorstellungen der altaischen Völker, S. 452 ff.

43 über diese Reisen siehe in den folgenden Kapiteln.

44 Ohlmarks, a.a. O., S. 100 ff., 122 ff. usw.

45 G. A. Wilken, Hel Shamanisme bij de volken van den Indischen Archipel ('s Gra-venhage 1887), passim.

46 E. M. Loeb, The Shaman of Niue (American Anthropologist, Bd. 26, 1924, S. 393-402), S. 395.

47 L.W. Layard, Shamanism. An analysis based on comparison with the flying trick-tiers of Malekula (Journal of the Royal Anthropological Institute, Bd. 60, 1930, S. 525-550), S. 544. Dieselbe Beobachtung bei Loeb, Shaman and Seer (American Anthropologist, Bd. 31, 1929, S. 60-84), S. 6l.

Der sikerei auf den Mentawei-Inseln48, der bomor auf Kelanta49 sind ebenfalls Neuropathen. Auf den Samoa-Inseln werden die Epileptiker Wahrsager. Die Batak auf Sumatra und andere indonesische Völker nehmen mit Vorliebe kränkliche und schwache Personen für das Amt des Zauberers. Bei den Subanum auf Mindanao ist der vollkommene Zauberer immer neurasthenisch oder zum mindesten exzentrisch. So auch andernorts: Bei den Sema Maga gleicht der Medizinmann zuweilen einem Epileptiker; auf dem Andamanen-Archipel gelten die Epileptiker als große Zauberer; bei den Lotuko in Uganda pflegen die Neuropathen Kandidaten der Magie zu sein (müssen sich aber trotzdem einer langen Initiation unterziehen, um ihren Beruf ausüben zu können)50.

Nach dem Pater Housse sind bei den Araukaniern in Chile die Scha-manen-Kandidaten «immer kränkliche oder empfindliche Leute mit schwachem Herzen, schlechtem Magen und Schwindelanfällen. Sie behaupten, daß für sie der Anruf der Gottheit unwiderstehlich ist und daß Widerstand oder Untreue mit einem unentrinnbaren, vorzeitigen Tod bestraft würde51.» Mitunter, wie bei den Jivaro51, ist der künftige Schamane nur ein zurückhaltender, schweigsamer Mensch oder wie bei den Selk’nam und den Yamana des Feuerlandes zu Meditation und Askese veranlagt11. Paul Radin zeigt die epileptoide bzw. hysteroide Struktur der meisten Medizinmänner, die er zur Stützung seiner These von der psychopathologischen Herkunft der Zauberer- und Priesterklasse anführt. Und ganz im Sinne von Wilken, Layard und Ohlmarks fügt er hinzu: «Was zuerst psychischen Notwendigkeiten entsprang, wird zu einer vorgeschriebenen mechanischen Formel für alle die, welche Priester werden und mit dem Übernatürlichen in Berührung kommen wollen54.» A. Ohlmarks (a.a.O., S. 5) behauptet, daß nirgends auf der Welt die Seelen- und Geisteskrankheiten so heftig und so allgemein sind wie im arktischen Bereich. Er zitiert dabei ein Wort des russischen Ethnologen Dim. Zelenin: «Im Norden waren diese Psychosen viel stärker verbreitet als anderswo.» Doch ähnliche Beobachtungen wurden auch bei vielen anderen primitiven Völkern gemacht und es ist schwer einzusehen, inwiefern sie uns das Verständnis eines religiösen Phänomens erleichtern sollen55.

Unter dem Aspekt des homo religiosus betrachtet - dem einzigen, der uns in der vorliegenden Arbeit maßgebend ist - erweist sich der Geisteskranke als mißglückter, besser noch als nachäffender Mystiker. Sein Erlebnis ist aus dem religiösen Zusammenhang gelöst, selbst wenn es scheinbar einem religiösen Erlebnis gleicht, so wie ein autoerotischer Akt zwar zu demselben physiologischen Ergebnis führt wie ein sexueller Akt im eigentlichen Sinn (der Ergießung des Samens), aber doch nur eine Nachäffung dieses Aktes darstellt, weil ohne die konkrete Anwesenheit des Partners erfolgt. Außerdem ist es leicht möglich, daß diese Ähnlichkeit der von Geistern «Besessenen» mit Nervenkranken, wie sie in der archaischen Welt häufig sein soll, in vielen Fällen nur aus den unvollkommenen Beobachtungen der ersten Ethnologen resultiert. Bei den Sudanvölkern, über welche unlängst Nadel gearbeitet hat, ist die Epilepsie ziemlich verbreitet, doch gelten weder Epilepsie noch eine andere Geisteskrankheit bei den Eingeborenen als echte Besessenheit56. Wie dem auch sei, auf keinen Fall geht der behauptete 

54 Paul Radin, La religion primitive (übers, v. A. Métraux, Paris 1941), S. 110. Dazu s. jetzt Gott und Mensch in der primitiven Welt (Zürich 1953), S. 83 ff. und passim.

55 Sogar Ohlmarks gibt zu (a.a. O,, S. 24, 35), daß der Schamanismus nicht ausschließlich als Geisteskrankheit betrachtet werden darf, sondern ein komplizierteres Phänomen ist. Richtiger hat A. Métraux das Problem durchschaut, wenn er anläßlich der südamerikanischen Schamanen schreibt, nervöse oder von Natur religiöse Individuen fühlten sich «zu einer Lebensweise hingezogen, welche ihnen intime Berührung mit der übernatürlichen Welt verschafft und ein freies Ausgeben ihrer Nervenkraft ermöglicht. Im Schoß des Schamanismus finden die Unruhigen, Unbeständigen oder einfach Meditativen eine Atmosphäre, die ihnen günstig ist* (Le Shamanisme chez les Indiens de l'Amérique du Sud tropicale, S. 200). Für Nadel ist die Frage der Stabilisierung von Psychoneurosen durch den Schamanismus noch offen (A study of shamanism in the Nuba Mountains, S. 36), doch siehe weiter unten seine Folgerungen bezüglich der geistigen Gesundheit der Nyima-Schamanen (s. S. 42).

56 Nadel, A study of shamanism, S. 36; s. auch weiter unten S. 42.

arktische Ursprung des Schamanismus notwendig aus der Nervenlabi-lität der Völker hervor, welche zu nah am Pol leben, noch aus spezifisch nördlichen Epidemien oberhalb eines bestimmten Breitengrades. Wie wir gesehen haben, finden sich ähnliche psychopathische Phänomene so ziemlich überall auf der Erdkugel.

Daß diese Krankheiten fast immer in einer Beziehung mit der Berufung zum Medizinmann erscheinen, hat nichts Überraschendes an sich. Wie der Kranke, so ist auch der religiöse Mensch auf eine Lebensebene geworfen, welche ihm die fundamentalen Gegebenheiten der menschlichen Existenz enthüllt, ihre Einsamkeit, ihre Unsicherheit und die Feindseligkeit der sie umgebenden Welt. Doch der primitive Zauberer, der Medizinmann und der Schamane ist nicht einfach ein Kranker; er ist vor allem ein Kranker, der sich selber geheilt hat. Oft, wenn die Berufung des Schamanen oder des Medizinmanns sich durch eine Krankheit, einen epileptoiden Anfall offenbart, kommt die Initiation des Kanddiaten einer Heilung gleich51. Der berühmte jakutische Schamane Tüsput («vom Himmel Gefallener») war zwanzig Jahre krank gewesen; er begann zu singen und fühlte sich besser. Als Sieroszewski ihm begegnete, war er sechzig Jahre alt und gab Proben einer unermüdlichen Energie. «Wenn nötig, kann er trommeln, tanzen und springen eine ganze Nacht lang.» Er war übrigens ein weitgereister Mann, er hatte sogar in den sibirischen Goldminen gearbeitet. Doch es war ihm ein Bedürfnis zu schamanisieren; unterließ er es längere Zeit, so fühlte er sich schlecht58.

Ein goldischer Schamane erzählte Sternberg: «Die alten Leute sagen, daß vor einigen Generationen in meiner Familie drei große Schamanen waren. Unter meinen näheren Ahnen weiß man keine Schamanen. Meine Eltern erfreuten sich einer ausgezeichneten Gesundheit. Ich bin vierzig Jahre alt; ich bin verheiratet und habe keine Kinder. Bis zu zwanzig Jahren war ich sehr gesund, dann wurde ich krank, mein Körper tat mir weh, ich hatte furchtbare Kopfschmerzen, Schamanen versuchten mich zu heilen, aber ohne Erfolg. Als ich selbst zu schamanisieren anfing, besserte sich mein Zustand. Ich wurde vor zehn Jahren  57 Jeanne Cuisinier, Danses magiques de Kelantan, S. 5; Loeb, Shaman and Seer, S. 66 B. (diesen Fall siehe im nächsten Kapitel S. 66); Nadel, ehd. S. 36; Harva, Die religiösen Vorstellungen, S. 457.

58 Sieroszewski, Du chamanisme d'aprls les croyances des Yakoutes, S. 310.

Schamane, aber am Anfang übte ich mich nur an mir selbst; erst vor drei Jahren ging ich daran, andere zu kurieren. Der Schamanenberuf ist sehr, sehr anstrengend59

Sandschejew traf einen Burjaten, der in seiner Jugend «Antischama-nist» gewesen war. Aber er wurde krank, und nachdem er vergeblich Heilung gesucht hatte (auf der Suche nach einem guten Arzt kam er bis nach Irkutsk), versuchte er zu schamanisieren. Er genas sofort und wurde für den Rest seiner Tage Schamane60. Auch Sternberg bemerkt, daß die Auserwählung des Schamanen sich durch eine ziemlich schwere Krankheit kundgibt, welche im allgemeinen mit der geschlechtlichen Reife zusammenfällt. Doch zuletzt genest der künftige Schamane mit Hilfe eben der Geister, die in der Folge seine Schutz- und Hilfsgeister sein werden. Manchmal sind es Almen, welche ihm die frei gebliebenen Hilfsgeister weitergeben möchten. Es handelt sich also um eine Art erbliche Weitergabe; in solchen Fällen ist die Krankheit nur ein Zeichen der «Wahl» und vorübergehend61.

Immer ist die Rede von einer Heilung, einer Bemeisterung, einer Gleichgewichtsherstellung, welche eben durch die Ausübung des Schamanismus erreicht werden. Nicht dem Umstand, daß er epileptische Anfälle hat, verdankt zum Beispiel der Eskimo- oder der indonesische Schamane seine Kraft und sein Ansehen, sondern dem Umstand, daß er sie meistert. Von außen gesehen hat man leichtes Spiel, zwischen der Phänomenologie des meryak oder menerik und der Trance des sibirischen Schamanen eine Menge Ähnlichkeiten zu finden, aber der wesentliche Unterschied bleibt dabei die Fähigkeit des Schamanen, seine «epileptoide Trance» mit dem Willen hervorzurufen. Und mehr als dies: Die Schamanen, scheinbar so ähnlich den Epileptikern und Hysterikern, geben Proben einer übernormalen Nerven-konstitution. Sie vermögen sich mit einer Intensität zu konzentrieren, welche dem profanen Menschen unerreichbar bleibt; sie trotzen erschöpfenden Anstrengungen; sie beobachten ihre Bewegungen in der Ekstase.

59 L. Sternberg. Divine election in primitive religion. S. 476 ff. Die Fortsetzung dieser bedeutsamen Autobiographie des goldischen Schamanen siehe weiter unten S. 8! ff. 60 Garma Sandschejew, Weltanschauung und Schumanttmut der Aiaren-Burjaten, S. 977.

61 L. Sternberg, ebd., S. 474.

Nach den von Karjalainen gesammelten Auskünften Bjeljavskijs und anderer zeigt der wogulische Schamane lebhafte Intelligenz, einen Körper von vollendeter Geschmeidigkeit und eine Energie, die keine Grenzen kennt. Bei seiner Vorbereitung auf die künftige Arbeit bemüht sich der Neophyt seinen Körper zu kräftigen und seine geistigen Eigenschaften zu vervollkommnen62. Mytchyll, ein jakutischer Schamane, den Sieroszewski kannte, übertraf bei der Sitzung troz seines Alters die Jüngeren durch die Höhe seiner Sprünge und die Energie seiner Bewegungen. «Er wurde lebhaft, er schäumte über von Geist und Schwung. Er durchbohrte sich mit dem Messer, schlang Stöcke hinunter und verzehrte glühende Kohlen» (Du Chamanisme d'après les croyances des Yakouies, S. 317). Der vollkommene Schamane muß für die Jakuten «ernst sein, Takt haben, seine Umgebung zu überzeugen wissen; vor allem darf er sich nicht anmaßend, stolz und aufbrausend zeigen. Man muß in ihm eine innere Kraft spüren, die nicht erschreckt, gleichwohl sich ihrer Macht bewußt ist» (ebd., S. 318). Man hat Mühe in einem solchen Porträt den Epileptoiden zu erkennen, den man sich nach anderen Beschreibungen vorgestellt hat...

Die Schamanen halten ihren ekstatischen Tanz in einer Jurte voll Menschen, auf genau begrenztem Raum und in Kostümen mit mehr als 15 kg Eisen in Scheiben und anderer Form, und doch wird nie jemand getroffen63. Und der kasak-kirgisische baqça wirft sich in der Trance «nach allen Seiten, die Augen geschlossen, und findet doch alles, was er braucht»64. Diese erstaunliche Beherrschung selbst der ekstatischen Bewegungen verrät eine bewundernswerte Nervenkonstitution. Ganz allgemein zeigt der sibirische und nordasiatische Schamane keinerlei Zeichen geistiger Zerrüttung“. Gedächtnis und Selbstbeherrschung liegen klar über dem Durchschnitt. Nach Kai Donner (La Sibérie, S. 223) «darf man sagen, daß bei den Samojeden, Ostjaken und 62 Karjalainen, Die Religion der Jugra-Völker III, S. 247 f. 63 E. J. Lindgren. Notes on the Reindeer Tungus of Manchuria (Journal of the Royal Central Asian Society, Bd. 22, 1935, S. 218 ff., zitiert bei N. Kershaw Chadwick, Poetry and Prophecy (Cambridge 1942), S. 17. 64 Castagné, Magie et exorcisme, S. 99.

65 Vgl. H. Munro-Chadwick et N. Kershaw Chadwick, The Growth of Literature, Bd. Ill (Cambridge 1940), S. 214; N. K. Chadwick, Poetry and Prophecy, S. 17 ff. Der Lappenschamane muß vollkommen gesund sein: Itkonen, Heidnische Religion und späterer Aberglaube bei den finnischen Lappen, S. 116.

bestimmten anderen Stämmen der Schamane in der Regel gesund und in geistiger Beziehung oft seiner Umgebung überlegen ist». Bei den Buriäten sind die Schamanen die vorzüglichsten Bewahrer der reichen mündlichen Heldendichtung66. Der poetische Wortschatz eines jakutischen Schamanen umfaßt 12 000 Worte, während seine gewöhnliche Sprache - die Sprache der übrigen Gemeinschaft - nur 4000 Worte enthält (Chadwick, Growth of literature III, S. 199). Bei den Kasak-Kirgisen scheint der baqça «Sänger, Dichter, Musiker, Wahrsager, Priester und Arzt in einem, auch Träger der religiösen Volksüberlieferung und Bewahrer jahrhundertealter Legenden zu sein» (Castagné, Magie et exorcisme, S. 60).

Die nämlichen Beobachtungen hat man bei den Schamanen anderer Länder gemacht. Nach Koch-Sternberg «sind die Taulipang-Schama-nen ganz allgemein intelligente Individuen, manchmal verschlagen, immer aber von starkem Charakter, denn zu ihrer Ausbildung und der Ausübung ihres Amtes bedarf es starker Energie- und Selbstbeherrschungsproben»67. A. Métraux bemerkt über die Schamanen am Amazonas: «Es hat nicht den Anschein, als ob eine physische oder physiologische Anomalie oder Besonderheit als Symptom spezieller Veranlagung zum Schamanismus in Betracht käme68

Bei den Wintu liegt die Vermittlung und die Vervollkommnung des spekulativen Denkens in den Händen des Schamanen69. Die geistige Leistung des Schamanen und Propheten bei den Dajak ist enorm und bekundet eine Geisteskraft, die weit über der der Gesamtheit liegt70. Dasselbe gilt für die afrikanischen Schamanen ganz allgemein (Chadwick, Poetry and Prophecy, S. 30). Bei den von Nadel erforschten Sudanstämmen «gibt es keinen Schamanen, der im täglichen Leben ,anomal', ein Neurastheniker oder Paranoiker wäre; dann würde man ihn nämlich unter die Narren einreihen und nicht als Priester respektieren. In summa, es ist nicht möglich, den Schamanismus mit einer entstehenden oder latenten Anomalität in Verbindung zu bringen; 66 G. Sandschejew, a. a. O., S. 983.

67 Zilien bei A. Métraux, Le chamanisme chez les Indiens de l'Amérique du Sud tropicale, S. 201.

68 A. Métraux, a. a. O., 202.

69 Cora du Bois, Wintu Ethnography (University of California Publications AAE Bd. 36, Nr. I, 1935), S. 118.

70 Chadwick, Poetry and Prophecy, S. 28 ff.; Growth of Literature III, S. 476 ff.

ich erinnere mich an keinen einzigen Schamanen, bei dem die Hysterie seines Berufes zu ernstlicher Geistesstörung entartet wäre71

Weiter ist zu bedenken, daß die Initiation im eigentlichen Sinne nicht nur aus einem Ekstaseerlebnis besteht, sondern dazu noch, wie wir gleich sehen werden, aus einer theoretischen und praktischen Lehre, welche für einen Neurotiker viel zu schwierig ist. Mögen Schamanen, Zauberer, überhaupt Medizinmänner mm wirklichen epileptischen oder hysterischen Anfällen ausgesetzt sein oder nicht - auf keinen Fall sind sie einfach als Kranke zu betrachten, denn in ihrem psychopathischen Erlebnis steckt ein theoretischer Gehalt. Sich selbst und die anderen heilen können sie unter anderem gerade deshalb, weil sie den Mechanismus - oder besser: die Theorie - der Krankheit kennen.

All diese Beispiele vermögen jedenfalls die Vereinzelung des Medizinmannes innerhalb der Gesellschaft zu illustrieren. Ob er nun von den Göttern oder Geistern zu ihrem Sprecher gemacht, ob er durch körperlichen Makel zu seiner Funktion disponiert oder Träger einer Erbschaft ist, welche eine religiös-magische Berufung bedeutet, immer sondert sich der Medizinmann von der Welt der Profanen eben dadurch ab, daß er mit dem Sakralen in näherer Beziehung steht und wirksamer mit seinen Manifestationen umzugehen weiß. Gebrechen, Nervenkrankheit, spontane oder erbliche Berufung sind äußere Zeichen seiner «Wahl», einer «Erwählung». Manchmal sind diese Zeichen körperlich (angeborene oder erworbene Gebrechen), manchmal ist von einem Unfall die Rede, zuweilen von einem recht häufigen (z. B. Sturz von einem Baum, Schlangenbiß); gewöhnlich aber zeigt sich die Erwählung durch ein ganz besonderes Ereignis: Blitzschlag, Erscheinung, Traum. Das werden wir im nächsten Kapitel noch im Einzelnen sehen.

Diese Vereinzelung durch ein ungewöhnliches und anomales Erlebnis wäre einer näheren Betrachtung wert, ja sie vermag sogar etwas über die Dialektik des Sakralen selbst auszusagen. Auch die elementarsten Hierophanien sind eigentlich nichts anderes als eine radikale Sonderung, eine Sonderung von ontologischer Gültigkeit, zwischen 71 Nadel, A study of shamanism, S. 36. Man kann also nicht sagen, daß der «Schamanismus die in der Gemeinschaft verteilte geistige Anormalität absorbiert, oder daß er auf einer deutlich gekennzeichneten und weit verbreiteten psychopathischen Veranlagung gründet. Es ist zweifellos unmöglich, den Schamanismus einfach als eine Einrichtung zu erklären, durch welche die Anormalität gerechtfertigt und die psychopatholo-gische Erbanlage ausgenützt werden soll» (ebd., S. 36).

irgendeinem Objekt und der es umgebenden kosmischen Zone. Indem dieser Stein, dieser Baum, dieser Ort sich als heilig offenbar!, als irgendwie «auserwählt» zum Sitz einer Manifestation des Heiligen, sondert er sich ontologisch von den anderen Steinen, Bäumen und Orten und gelangt auf eine andere, übernatürliche Ebene. An anderer Stelle (s. Eliade, Die Religionen und das Heilige, passim) haben wir Strukturen und Dialektik der Hierophanien und Kratophanien, also der religiös-magischen Manifestationen des Heiligen analysiert. Hier nun gilt es auf die Symmetrie zu achten, welche zwischen der Vereinzelung der heiligen Dinge, Wesen und Zeichen und der Auserwählten-Ver-einzelung derer besteht, die sich an dem Heiligen mit größerer Intensität versuchen als die übrige Gemeinschaft - die in gewisser Weise dieses Heilige verkörpern, da sie es in vollem Maße leben oder vielmehr «gelebt werden» von der religiösen «Gestalt», die sie erwählt hat (Götter, Geister, Ahnen). Diese vorläufigen Aufstellungen werden ihre Tragweite erweisen, sobald wir die bei der Vorbereitung und Initiation der künftigen Schamanen angewendeten Praktiken kennengelernt haben.

1

15 W. Sieroszewski, Du chamanisme d'après les croyances des Yakoutes (Revue de l'Histoire des Religions. Bd. 46, 1902, S. 204-235, 299-338), S. 312.

2

W Z. Park, Shamanism. S. 121. Vgl. auch Marcelle Bouteiller. Don chamanistique et adaptation à la rie chez les Indiens de l'Amérique du Nord (Journal de la Société des Américanistes, N. S., 39. Bd., 1950. S. 1—14).