Initiation durch Krankheit
Krankheiten, mehr oder weniger pathogene Träume und Ekstasen sind Mittel, zum Schamanentum zu gelangen. Manchmal bedeuten diese außerordentlichen Erlebnisse einfach die «Erwählung», die von oben kommt, und sind für den Kandidaten nur eine Vorbereitung auf neue Offenbarungen. Meistens jedoch bilden Krankheiten, Träume und Ekstasen schon selbst eine Initiation, haben also den Zweck, den profanen Menschen von vor der «Erwählung» in einen Handhaber des Sakralen zu verwandeln. Freilich folgt diesem Erlebnis ekstatischer Ordnung immer und überall eine theoretische und praktische Unterweisung durch die alten Meister, aber deshalb ist es nicht weniger entscheidend, denn in ihm ist die radikale Änderung des religiösen Status der «erwählten» Person erfolgt.
Wie wir sogleich sehen werden, weisen alle ekstatischen Erlebnisse, welche die Berufung des künftigen Schamanen bestimmen, das traditionelle Schema einer Initiationszeremonie auf: Leiden, Tod und Auferstehung. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet erfüllt eine jede «Krankheitsberufung» die Rolle einer Initiation, denn ihre Leiden entsprechen den Initiationsfolterungen; ebenso bildet die psychische Isolierung eines «erwählten Kranken» das Gegenstück zu der rituellen Isolierung und Einsamkeit der Initiationszeremonien, und die Todesgefahr, welche der Kranke erlebt hat (Agonie, Bewußtlosigkeit), die Analogie zu dem symbolischen Tod, der in allen Initiationszeremonien dargestellt wird. Die folgenden Beispiele werden zeigen, wie weit die Annäherung zwischen Krankheit und Initiation gehen kann. Bestimmte körperliche Leiden erfahren eine genaue Übersetzung in die Terminologie eines (symbolischen) Initiationstodes, so zum Beispiel die Zerstückelung des Körpers des Kandidaten (= Kranken), ein ekstatisches Erlebnis, das sich in den Leiden der «Krankheitsberufung» ebenso ereignen kann wie in gewissen rituellen Zeremonien und Träumen.
Fast immer umfaßt der - ziemlich reiche - Inhalt dieser Initiationserlebnisse eines oder mehrere von den folgenden Themen: Zerstük-kelung des Körpers, darnach Erneuerung der inneren Organe und der Eingeweide; Auffahrt zum Himmel und Unterredung mit den Göttern oder Geistern; Abstieg in die Unterwelt und Unterhaltungen mit den Geistern und den Seelen der verstorbenen Schamanen; verschiedenerlei Offenbarungen religiöser und schamanischer Art (Berufsgeheimnisse) - offensichtlich alles Themen aus der Initiation. In gewissen Zeugnissen sind sie alle belegt, während anderswo nur eines oder zwei erwähnt sind (Zerstückelung des Körpers, Auffahrt zum Himmel). Freilich kann das Fehlen gewisser Initiationsthemen wenigstens da und dort auch auf mangelhaften Nachrichten beruhen, zumal die frühesten Ethnologen sich im allgemeinen mit summarischen Auskünften zufrieden gaben.
Doch abgesehen davon kann das Vorhandensein oder Fehlen solcher Themen auch eine bestimmte religiöse Orientierung der betreffenden schamanischen Praktiken anzeigen. Ohne Zweifel gibt es den Unterschied zwischen einer «himmlischen» Schamaneninitiation und einer anderen, die man mit gewissem Vorbehalt «unterweltlich» nennen könnte. Einerseits die wichtige Rolle eines Höchsten Wesens bei der Verleihung der Ekstasefähigkeit, andererseits die Bedeutung von Schamanenseelen und Dämonen - darin zeigen sich zwei auseinandergehende Richtungen. Wahrscheinlich rühren diese Unterschiede von verschiedenen oder gar entgegengesetzten religiösen Vorstellungen; auf jeden Fall aber setzen sie eine lange Entwicklung, eine Geschichte voraus, welche sich im gegenwärtigen Stadium der Forschung nur hypothetisch und provisorisch skizzieren läßt. Mit dieser Geschichte der beiden Typen haben wir uns im Augenblick nicht zu befassen. Um die Darstellung nicht unnötig zum komplizieren, soll jedes von den großen mythischrituellen Themen einzeln dargestellt werden: Zerstückelung des Körpers des Kandidaten, Auffahrt in den Himmel, Abstieg in die Unterwelt. Doch ist dabei nie zu vergessen, daß eine solche Trennung nur in seltenen Fällen der Wirklichkeit entspricht; daß, wie wir sogleich an den sibirischen Schamanen sehen werden, die drei Hauptthemen der Initiation manchmal nebeneinander im Erlebnis ein und desselben Individuums Vorkommen, auf jeden Fall aber innerhalb des Ganzen einer einzigen Religion Zusammentreffen. Und schließlich ist zu berücksichtigen, daß diese ekstatischen Erlebnisse, obwohl Elemente der eigentlichen Initiation, doch zugleich immer einem komplexen System traditioneller Unterweisung angehören.
Daß wir die Beschreibung der schamanischen Initiation mit der Darstellung des ekstatischen Typus beginnen, hat zwei Gründe: einmal, daß dieser Typus der älteste zu sein scheint und weiter, daß er der vollständigste ist, insofern er alle die oben aufgezählten mythisch-rituellen Themen umfaßt. Anschließend sollen Beispiele des nämlichen Initiationstypus aus anderen Gegenden folgen.
Initiationsekstasen und -Visionen der jakutischen Schamanen
Das vorhergehende Kapitel brachte mehrere Beispiele von Berufung zum Schamanentum durch eine Krankheit. Mitunter handelt es sich eigentlich nicht um eine Krankheit im strengen Sinn, sondern mehr um eine zunehmende Veränderung der Lebensweise. Der Kandidat beginnt viel zu meditieren, sucht die Einsamkeit, schläft viel, zeigt sich geistesabwesend, hat prophetische Träume, manchmal auch Anfälle1. All diese Symptome sind nichts anderes als das Vorspiel des neuen Lebens, das den Kandidaten erwartet, ohne daß er davon weiß. Sein Benehmen erinnert übrigens an die ersten Zeichen der mystischen Be-rufung, die in allen Religionen dieselben sind und zu bekannt, um dabei zu verweilen.
Aber es gibt auch «Krankheiten», Anfälle, Träume und Halluzinationen, welche in kurzer Zeit einen Menschen zum Schamanen bestimmen. Es ist hier gleichgültig, ob diese pathogenen Ekstasen wirklich erlebt oder eingebildet sind oder wenigstens nachträglich mit Erinnerungen aus der Volksüberlieferung angereichert wurden, um schließlich in das Schema der traditionellen schamanischen Mythologie hineinzupassen, Als das Wesentliche erscheint uns die Anerkennung dieser Erlebnisse, der Umstand, daß sie die Berufung und die religiös-magische Kraft eines Schamanen beweisen als die einzig mögliche Sanktionierung eines solchen radikalen Umbruchs im religiösen Leben.
So sagt ein jakutischer Schamane, Sofron Zateev, daß für gewöhnlich 1 Mehrere tschuktschische und buriätische Beispiele bei M. A. Czaplicka, Aboriginal Siberia (Oxford 1914), S. 179, 185 usw.; vgl. das vorhergehende Kapitel.
der künftige Schamane stirbt und drei Tage ohne Essen und Trinken in der Jurte liegt. Früher habe man sich dreimal der Zeremonie der Zerstückelung unterzogen. Ein anderer Schamane, Petr Ivanov, unterrichtet uns ausführlicher über diese Zeremonie: Die Glieder des Kandidaten werden mit einem eisernen Haken abgeschnitten und zertrennt, die Knochen werden gesäubert, das Fleisch wird abgekratzt, das Flüssige weggeschüttet, die Augen werden aus ihren Höhlen gerissen. Nach dieser Prozedur werden alle Knochen gesammelt und mit Eisen wieder verbunden. Nach einem anderen Schamanen, Timofei Romanov, dauert die Zeremonie der Zerstückelung drei bis sieben Tage2; während dieser ganzen Zeit liegt der Kandidat, fast ohne zu atmen, an einem einsamen Ort.
Nach dem Jakuten Gavriil Alekseev hat ein jeder Schamane einen Mutterraubvogel, das ist eine Art grober Vogel mit einem eisernen Schnabel, hakenförmigen Krallen und langem Schwanz. Dieser mythische Vogel zeigt sich nur zweimal, bei der geistigen Geburt des Schamanen und bei seinem Tod. Er nimmt seine Seele, trägt sie in die Unterwelt und läßt sie dort auf dem Zweig einer Fichte reifen. Ist die Seele zur Reife gelangt, so kehrt der Vogel auf die Erde zurück und schneidet den Körper des Kandidaten in kleine Stücke, die er unter die bösen Krankheits- und Todesgeister verteilt. Jeder Geist verschlingt das Stück, das ihm paßt; dadurch erhält der künftige Schamane die Fähigkeit, die entsprechenden Krankheiten zu heilen. Wenn der ganze Körper verzehrt ist, entfernen sich die Geister. Der Muttervogel bringt die Knochen wieder an ihren Platz und der Kandidat erwacht wie aus einem tiefen Schlaf.
Nach einer anderen jakutischen Nachricht tragen die bösen Geister die Seele des künftigen Schamanen in die Unterwelt und sperren sie dort drei Jahre lang in einem Haus ein (für niedrigere Schamanen nur ein Jahr). Hier erlebt der Schamane seine Initiation: die Geister schneiden ihm den Kopf ab und legen ihn auf die Seite (denn der Kandidat soll mit eigenen Augen bei seiner Zerstückelung Zusehen). Darauf zerschneiden sie ihn in winzige Stücke, welche sogleich unter die Geister 2 Diese mystischen Zahlen spielen in den zentralasiatischen Mythologien eine wichtige Rolle (s. unten S. 263). Es handelt sich dabei um einen traditionellen theoretischen Rahmen, in welchen das ekstatische Erlebnis des Schamanen gebracht wird, um daraus seine Gültigkeit zu empfangen.
der verschiedenen Krankheiten verteilt werden. Nur unter dieser Bedingung erlangt der künftige Schamane die Macht zu heilen. Darauf werden seine Gebeine mit frischem Fleisch bedeckt und in gewissen Fällen gibt man ihm auch neues Blut1.
Nach einer anderen jakutischen Legende, ebenfalls von Ksenofontov aufgenommen (Legendy i raskazy, S. 60 ff.), entstehen die Schamanen im Norden. Dort wächst eine riesige Tanne, die auf ihren Ästen Nester trägt. Die großen Schamanen sind auf den höchsten Zweigen, die mittleren in der Mitte und die kleinsten unten am Baum4. Der Mutterraubvogel, der einen Adlerkopf und eiserne Federn hat, setzt sich auf den Baum, legt Eier und bebrütet sie; bis zum Ausschlüpfen der großen Schamanen dauert es drei Jahre, die mittleren brauchen zwei Jahre und die kleinen Schamanen eines. Wenn die Seele aus dem Ei gekommen ist, vertraut der Muttervogel sie zur Unterweisung einer Schamanenteufelin an, die nur ein Auge, einen Arm und einen Knochen hat. Diese wiegt die Seele des künftigen Schamanen in einer eisernen Wiege und nährt sie mit geronnenem Blut. Nun kommen drei schwarze «Teufel», die ihm den Körper in Stücke schneiden, eine Lanze in seinen Kopf stoßen und Fleischstücke als Opfergaben in verschiedene Richtungen werfen. Drei weitere «Teufel» schneiden ihm den Kinnbacken ab - ein Stück für jede Krankheit, die er zu heilen berufen sein wird. Wenn beim Zählen der Gebeine eines fehlt, muß jemand aus seiner Familie sterben, um es zu ersetzen. Dabei kommt es vor, daß bis zu neun Verwandte sterben.
Nach einer anderen Mitteilung bewachen die «Teufel» die Seele des Kandidaten, bis er sich ihr Wissen angeeignet hat. Während dieser ganzen Zeit liegt der Kandidat krank. Seine Seele wird in einen Vogel oder ein anderes Tier, auch in einen Menschen verwandelt. Die «Kraft» des Kandidaten wird in einem Nest aufbewahrt, das unter dem Laub eines Baumes verborgen ist, und wenn die Schamanen kämpfen (in Tiergestalt), bemühen sie sich das Nest ihres Gegners zu zerstören (Leh-tisalo, a. a. O., S. 29 f. ).
In allen diesen Beispielen begegnen wir dem zentralen Thema einer Initiationszeremonie: Zerlegung des Körpers des Neophyten und Erneuerung seiner Organe; ritueller Tod, dem Auferstehung und mystische Erfüllung folgt. Festzuhalten wäre auch das Motiv vom Riesenvogel, welcher auf den Ästen des Weltenbaumes die Schamanen ausbrütet; es hat in den nordasiatischen, speziell den schamanischen Mythologien eine große Tragweite.
lnitiationsträume der samojedischen Schamanen
Nach den jurak-samojedischen Gewährsmännern Lehtisalos beginnt die Initiation im eigentlichen Sinne mit der Lehre im Trommeln; bei dieser Gelegenheit sieht man zum ersten Mal die Geister. Der Schamane Ganykka erzählte ihm, daß, als er einmal beim Trommeln war, die Geister herabstiegen und ihn in Stücke schnitten, wobei sie ihm auch die Hände abschlugen. Sieben Tage und sieben Nächte blieb er bewußtlos auf dem Boden ausgestreckt. Während dieser Zeit weilte seine Seele im Himmel, ging dort mit dem Donnergeist spazieren und machte dem Gott Mikkulei einen Besuch2.
A. A. Popov erzählte das Folgende von einem avam-samojedischen Schamanen6. Dieser bekam die Pocken und war drei Tage bewußtlos, fast tot, so daß man ihn beinahe am dritten Tag begraben hätte. Während dieser Zeit fand seine Initiation statt. Er erinnerte sich, daß er mitten auf einen See getragen wurde. Dort hörte er die Stimme der Kran-heit (also der Pocken) zu ihm sprechen: «Du erhältst von den Herren des Wassers die Gabe zu schamanisieren. Dein Schamanen-name ist huottarie (Taucher).» Darauf wühlte die Krankheit das Wasser des Sees auf. Er stieg aus dem Wasser und kletterte einen Berg hinan. Dort begegnete er einer nackten Frau und begann ihre Brust zu saugen. Die Frau, wahrscheinlich die Herrin des Wassers, sagte zu ihm: «Du bist mein Kind, darum lasse ich dich meine Brust saugen. Du wirst vielen Schwierigkeiten begegnen und es sehr schwer haben.» Der Gatte der Herrin des Wassers, der Herr der Unterwelt, gab ihm nun zwei Führer, ein Hermelin und eine Maus, die ihn in die Unterwelt führten. Als sie auf einem hochgelegenen Ort angekommen waren, zeigten seine Führer ihm sieben Zelte mit zerrissenen Dächern. Er trat in das erste ein und traf dort die Bewohner der Unterwelt und die Männer der Großen Krankheit (der Pocken). Diese rissen ihm das Herz heraus und warfen es in einen Kochtopf. In den andern Zelten lernte er den Herrn des Wahnsinns kennen und die Herren aller Nervenkrankheiten, auch derjenigen der bösen Schamanen. Auf diese Weise lernte er die verschiedenen Krankheiten, welche die Menschen quälen
Darauf kam der Kandidat, immer hinter seinen Führern, in das Land der Schamaninnen, welche ihm Kehle und Stimme kräftigten8. Von dort wurde er zu den Ufern der Neun Seen getragen. In der Mitte eines dieser Seen fand er eine Insel, und in der Mitte der Insel erhob sich eine junge Birke bis zum Himmel. Das war der Baum des Herrn der Erde. In seiner Nähe wuchsen neun Kräuter, die Ahnen von allen Pflanzen der Erde. Der Baum war von Seen umgeben und in jedem See schwamm eine Vogelart mit den zugehörigen Jungen; da gab es verschiedene Arten von Enten, einen Schwan, einen Sperber. Der Kandidat besuchte alle diese Seen; einige davon waren salzig, andere wieder so heiß, daß er sich ihrem Ufer nicht nähern konnte. Als er damit fertig war, hob der Kandidat den Kopf und gewahrte im Wipfel des Baumes Menschen9 aus mehreren Nationen: Tavgy-Samojeden, Russen, Dol-ganen, Jakuten und Tungusen. Er hörte Stimmen: «Es ist beschlossen worden, daß du ein Tamburin (das heißt einen Trommelstock) aus den Ästen dieses Baumes bekommen sollst»10, worauf der Kandidat mit den 7 Gemeint ist: er lernte sie kennen und heilen.
8 Wahrscheinlich: sie lehrten ihn singen.
9 Es handelt sich um die Stammväter der Völker, welche sich zwischen den Asten des Weltenbaumes befinden - eine Mythe, der wir auch anderwärts begegnen (s. S. 26l).
10 Über die symbolische Gleichsetzung Trommel - Weltenbaum und ihre Konsequenzen für die schamanische Praktik s. unten S. 168 ff.
Seevögeln fortflog. Als er sich vom Ufer entfernte, rief ihm der Herr des Baumes zu: «Mein Ast ist eben heruntergefallen, nimm ihn und mach dir daraus eine Trommel, sie soll dir dein Leben lang dienen.» Der Zweig hatte drei Gabelungen und der Herr des Baumes befahl ihm, sich drei Trommeln zu machen, die von drei Frauen bewacht werden müßten, jede Trommel für eine spezielle Zeremonie: eine zum Scha-manisieren bei den Wöchnerinnen, die zweite für die Heilung der Kranken und die letzte zur Auffindung der im Schnee Verirrten.
Ebenso gab der Herr des Baumes auch allen anderen Männern im Baumwipfel einen Ast. Dann aber stieg er in Menschengestalt bis zur Brust aus dem Baum hervor und rief: «Einen einzigen Ast gebe ich den Schamanen nicht, sondern behalte ihn für die übrigen Menschen. Sie dürfen sich aus diesem Ast Wohnungen machen und ihn auch sonst verwenden. Ich bin der Baum, der allen Menschen das Leben gibt.» Der Kandidat drückte den Ast an sich und wollte eben seinen Flug wieder aufnehmen, als er von neuem eine menschliche Stimme hörte, die ihm die medizinischen Kräfte der sieben Pflanzen kundtat und Anweisungen für die Kunst des Schamanisierens gab. Doch müsse er drei Frauen heiraten (was er übrigens auch tat; er heiratete drei Waisen, die er von den Pocken geheilt hatte).
Darauf kam er an einen unendlich großen See und fand dort Bäume und sieben Steine. Diese Steine sprachen der Reihe nach mit ihm. Der erste hatte Zähne wie ein Bär und eine Höhlung in Form eines Korbes und eröffnete ihm, daß er der Stein der Erdpressung sei; er beschwere mit seinem Gewicht die Felder, damit sie nicht vom Wind davongetragen würden. Der zweite diente zum Schmelzen des Eisens. Er blieb sieben Tage bei diesen Steinen und lernte so, wozu sie den Menschen dienen konnten.
Die beiden Führer, die Maus und das Hermelin, führten ihn nun auf ein hohes, rundes Gebirge. Er sah eine Öffnung vor sich und drang in eine leuchtende Höhle ein; sie war mit Spiegelglas ausgekleidet und in der Mitte war etwas, das wie ein Feuer aussah. Er bemerkt zwei nackte, aber mit Haaren bedeckte Frauen wie Renntiere11 und er sieht, daß keines von den Feuern brennt, sondern daß das Licht von oben durch eine Öffnung hereinkommt. Eine von den beiden Frauen teilt 11 Personifikationen der Mutter der Tiere, eines mythischen Wesens, das in den arktischen und sibirischen Religionen eine große Rolle spielt.
ihm mit, daß sie schwanger ist und zwei Renntiere zur Welt bringen wird; das eine werde das Opfertier12 der Dolganen und Evenken, das andere der Tavgy sein. Sie gibt ihm noch ein Haar, das ihm von Wert sein werde, wenn er für die Renntiere zu schamanisieren habe. Die andere Frau bringt ebenfalls zwei Renntiere zur Welt, Symbole der Tiere, die dem Menschen bei der Arbeit helfen und ihm auch zur Nahrung dienen sollen. Die Höhle hatte zwei Öffnungen, eine nach Norden, eine nach Süden; zu jeder schickten die Frauen ein junges Renntier hinaus, das den Waldleuten (den Dolganen und Evenken) helfen sollte. Auch die zweite Frau gab ihm ein Haar; wenn er schamanisiert, wendet er sich im Geist nach dieser Höhle.
Nun kommt der Kandidat in eine Wüste und sieht in weiter Ferne ein Gebirge. Nach dreitägigem Marsch ist er dort angelangt, dringt durch eine Öffnung ein und begegnet einem nackten Mann, der mit einem Blasebalg arbeitet. Über dem Feuer befindet sich ein Kessel «so groß wie die halbe Erde». Der Nackte erblickt den Novizen und ergreift ihn mit einer riesigen Zange; der kann gerade noch denken: «Ich bin tot!» Der Mann schneidet ihm den Kopf ab, teilt seinen Körper in kleine Stücke, wirft alles in den Kessel und kocht den Körper darin drei Jahre lang. Dort waren auch drei Ambosse und der Nackte schmiedete seinen Kopf auf dem dritten, auf dem die besten Schamanen geschmiedet wurden. Dann warf er den Kopf in einen von den drei Töpfen, die dort standen, in dem das Wasser am kältesten war. Bei dieser Gelegenheit entdeckte er ihm folgendes: Wenn er zu jemandem gerufen werde um ihn zu heilen und das Wasser sei sehr heiß, dann sei es nutzlos zu schamanisieren, denn der Mensch sei schon verloren; bei lauwarmem Wasser sei er krank, werde aber gesunden, und das kalte Wasser sei das Kennzeichen für einen gesunden Menschen.
Der Schmied fischte nun seine Gebeine auf, die in einem Fluß schwammen, setzte sie zusammen und bedeckte sie mit Fleisch. Er zählte sie und teilte ihm mit, er habe drei Stück zuviel, er müsse sich also drei Schamanenkostüme verschaffen. Er schmiedete seinen Kopf und zeigte ihm, wie man die Buchstaben darin lesen kann. Er wechselte ihm die Augen aus, deshalb sieht er, wenn er schamanisiert, nicht mit seinen fleischlichen Augen, sondern mit diesen mystischen. Er durchstach ihm die Ohren und setzte ihn damit in den Stand, die Sprache der Pflanzen 12 Gemeint ist, es wird durch den Kranken freigelassen.
zu verstehen. Darauf fand sich der Kandidat auf dem Gipfel eines Berges und erwachte endlich in seiner Jurte bei den Seinen. Jetzt kann er singen und schamanisieren ohne Ende, ohne jemals müde zu werden13.
Wir haben diesen Bericht wegen seines erstaunlichen mythologischen und religiösen Reichtums wiedergegeben. Wenn man die Bekenntnisse der übrigen sibirischen Schamanen mit ebensolcher Sorgfalt gesammelt hätte, wäre es wohl nie zu der üblichen Formel gekommen: Der Kandidat blieb eine gewisse Anzahl von Tagen bewußtlos, träumte, daß er durch die Geister in Stücke geschnitten und in den Himmel gebracht wurde usw. Diese Initiationsekstase hält sich offenbar sehr genau an drei Musterthemen: Der Novize begegnet einigen göttlichen Gestalten (Herrin des Wassers, Herr der Unterwelt, Herrin der Tiere), bevor er von den Tieren, die ihn führen, zum Zentrum der Welt auf dem Gipfel des kosmischen Gebirges gebracht wird, wo der Weltenbaum und der Herr aller Welt ist; halbdämonische Wesen entdecken ihm Natur und Behandlung aller Krankheiten; zuletzt schneiden andre dämonische Wesen seinen Körper in Stücke, kochen diese und tauschen sie gegen bessere Organe aus.
Alle Elemente dieses Initiationsberichtes hängen zusammen und fügen sich in den Rahmen eines in der Religionsgeschichte wohlbekannten symbolisch-rituellen Systems. Auf jedes dieser Elemente haben wir noch zurückzukommen. Das Ganze ist eine wohlausgeprägte Variante des weltumfassenden Themas von Tod und mystischer Auferstehung des Kandidaten, ausgedrückt durch einen Abstieg in die Unterwelt und eine Auffahrt in den Himmel.
Die Initiation bei den Tunguten, Burjaten usw.
Dasselbe Initiationschema begegnet auch bei anderen sibirischen Völkern. Nach der Angabe des tungusischen Schamanen Ivan Colko muß der zukünftige Schamane krank sein, sein Körper muß in Stücke 13 Lehtisalo glaubt, daß die Rolle des Schmiedes in den samojedischen Legenden sekundär ist und speziell in Ausgestaltungen wie der vorliegenden Einfluß von außen verrät (Tod und Wiedergeburt, S 15). Tatsächlich sind die Beziehungen zwischen Metallurgie und Schamanismus in Mythologie und Glauben der Buriäten aber weit bedeutender. S. unten S. 434 ff.
geschnitten und sein Blut von den bösen Geistern (saargi) getrunken werden. Diese Geister - in Wirklichkeit die Seelen der toten Schamanen - werfen seinen Kopf in einen Kessel; dort schmiedet man ihn zugleich mit anderen Metallstücken, die dann Bestandteile seines rituellen Kostüms bilden14. Ein anderer tungusischer Schamane erzählt, daß er ein ganzes Jahr lang krank war. Während dieser Zeit sang er, um sich Erleichterung zu schaffen. Seine schamanischen Ahnen kamen und weihten ihn ein; sie durchbohrten ihn mit Pfeilen, bis er das Bewußtsein verlor und zu Boden fiel; sie schnitten ihm das Fleisch ab, rissen ihm die Knochen aus und zählten sie; hätte einer gefehlt, so hätte er nicht Schamane werden können. Während dieser Prozedur blieb er ein ganzes Jahr ohne Speise und Trank (Ksenofontov, S. 103).
Obwohl die Buriäten sehr komplexe öffentliche Zeremonien der Schamanenweihe habe, kennen sie auch «Traumkrankheiten» als Initiation. Ksenofontov berichtet die Erfahrungen Michail Stepanovs: Bevor der Kandidat Schamane wird, muß er lange Zeit krank sein; die Seelen der schamanischen Ahnen umgeben den Kandidaten, sie martern und schlagen ihn und zerschneiden seinen Körper mit einem Messer usw. Während dieser Prozedur liegt der künftige Schamane leblos da; Gesicht und Hände sind blau, das Herz schlägt kaum (Ksenofontov, Legendy i raskazy, S. 101). Nach einem anderen buriäti-schen Schamanen, Bulagat Buchatcheev, bringen die Geister der Ahnen die Seele des Kandidaten vor die «Versammlung der Saaitans» im Himmel und dort wird er unterwiesen. Nach der Initiation kocht man sein Fleisch, um ihn die Kunst des Schamanisierens zu lehren. Während dieser Initiationsfolter bleibt der Schamane sieben Tage und sieben Nächte wie tot. Dabei kommen die Verwandten (außer den Frauen) und singen: «Unser Schamane ersteht wieder auf und wird uns helfen!» Während sein Körper von den Ahnen zerstückelt und gekocht wird, kann kein Fremder ihn berühren (ebd., S. 101).
Dieselben Erlebnisse finden sich auch sonst. Eine Teleutenfrau wurde Schamanin, nachdem sie in einer Vision unbekannte Männer ihren Körper in Stücke schneiden und in einem Topf kochen sah15. Nach der Überlieferung der Altai-Schamanen essen die Ahnengeister ihr Fleisch, 14 G. W. Ksenofontov, Legendy i raskazy, S. 103.
15 Dyrenkowa, zitiert bei V. Ja. Propp, Le radici storithe dei racconti di fate (Turin 1949; die russische Ausgabe 1946 erschienen), S. 154.
trinken ihr Blut und öffnen ihnen den Bauch usw.16. Der kasak-kirgi-sisrhe baqça gibt an: «Ich habe im Himmel fünf Geister, die mich mit vierzig Messern zerschneiden, mit vierzig Nägeln zwicken» usw.17.
Das ekstatische Erlebnis der Zerstückelung des Körpers und der Erneuerung der Organe kennen auch die Eskimos. Sie sprechen von einem Tier (Bär, Walroß, Robbe), das den Kandidaten verwundet, zerteilt und verschlingt; darauf wächst neues Fleisch um seine Knochen (Leh-tisalo, S. 20 ff.). Zuweilen wird das Tier, das ihn foltert, der Hilfsgeist des künftigen Schamanen (ebdS. 21 f.). Gewöhnlich manifestieren sich solche Fälle spontaner Berufung durch eine Krankheit oder wenigstens durch ein besonderes Unglück (Kampf mit einem Meertier, Einbrechen im Eis usw.), das den künftigen Schamanen ernstlich angreift. Doch die meisten Eskimoschamanen suchen selbst die ekstatische Initiation und unterziehen sich in ihrem Verlauf vielen Prüfungen, die manchmal an die Zerstückelung der sibirischen und zentralasiatischen Schamanen nahe herankommen. Gelegentlich handelt es sich um ein mystisches Erlebnis von Tod und Auferstehung, das durch die Betrachtung des eigenen Skeletts hervorgerufen wird. Darauf werden wir sogleich zurückkommen; zuvor seien noch einige andere Initiationserlebnisse angeführt, die mit den eben vorgeführten Zeugnissen parallel laufen.
Die Initiation der australischen Zauberer
Die ältesten Beobachter haben seit langem bezeugt, daß gewisse Initiationszeremoniale australischer Medizinmänner den rituellen Tod des Kandidaten und die Erneuerung seiner Organe enthalten, und zwar werde das bald durch Geister, bald durch die Seelen der Toten vollzogen. So berichtet Colonel Collins (1798), daß bei den Stämmen von Port Jackson derjenige Medizinmann wurde, der auf einem Grabe schlief. «Der Geist des Toten kam, packte ihn an der Gurgel, riß
16 A.v. Anochin, Material)' po shamanslvu u allajcev, S. 131; Lehtisalo. Tod und Wiedergeburt, S. 18.
17 W. Radlov, Proben der Volksliteratur der türkischen Stumme Süd-Sibiriens, 4. Bd. (St. Petersburg 1870); ders., Aus Sibirien. Lose Blätter aus dem Tagebuch eines reisenden Linquisten, II (Leipzig 1884), S. 65; Lehtisalo, a.a.O., S. 18.
ihn auf, nahm ihm die Eingeweide heraus, ersetzte sie durch andere und die Wunde schloß sich von selbst18.»
Durch die neueren Forschungen wurden diese Nachrichten genugsam bestätigt und ergänzt. Den Nachrichten Howitts zufolge glauben die Wotjoballuk, daß ein übernatürliches Wesen, Ngatje, den Medizinmann weiht; es öffnet ihm den Bauch und setzt ihm die Felskristalle ein, welche die magische Kraft bringen19. Wenn die Euahlayi jemanden zum Medizinmann machen wollen, gehen sie in der folgenden Weise vor: Sie bringen den dazu erwählten jungen Mann auf einen Friedhof und lassen ihn dort gebunden mehrere Nächte lang. Sobald er allein ist, erscheinen viele Tiere und berühren und lecken den Neo-phyten. Dann erscheint ein Mann mit einem Stock; er bohrt ihm den Stock in den Kopf und legt in die Wunde einen magischen Stein in der Größe einer Zitrone. Darauf kommen die Geister und stimmen Zauber-und Initiationslieder an, um ihn in der Heilkunst zu unterrichten20.
Bei den Ureinwohnern von Warburton Ranges (im westlichen Australien) spielt sich die Initiation in folgender Weise ab: Der Bewerber dringt in eine Höhle ein und zwei Totemheroen (die Wildkatze und der Emu) töten ihn, öffnen seinen Körper, nehmen die Organe heraus und ersetzen sie durch magische Substanzen. Sie entfernen auch das Schulterblatt und das Schienbein, trocknen sie, füllen sie mit denselben Substanzen und setzen sie wieder ein. Während dieser Probe wird der Aspirant von seinem Initiationsmeister überwacht, welcher die angezündeten Feuer unterhält und seine ekstatischen Erlebnisse kontrolliert*'.
Die Arunta kennen drei Methoden, Medizinmänner zu weihen:
1. durch die lruntarinia oder «Geister», 2. durch die Eruncha (d. h. die Geister der Eruncha-Leute aus der mythischen Alchera-Tie'it), 3. durch andere Medizinmänner. Im ersten Fall nähert sich der Kandidat dem
18 Coilins, zitiert bei A. W. Howitt, The Native Tribes of South-East Australia (London 1904), S. 405; s. auch M. Mauss, Vorigine des pouvoirs magiques dans les sociétés australiennes (1904; wieder veröffentlicht in H. Hubert et Mauss, Mélanges d'histoire des religions, 2. Auf]., Paris 1929, S. 151—187); vgl. Helmut Petri, Der australische Medizinmann (Annali Lateranensi, XVI. 1952, S. 159-317).
19 A. W. Howitt. On Australian medicine men (Journal of the Royal Anthropological Institute XVI, 1887, S. 23—58), S. 48; ders., The Native Tribes of South-East Australia. S. 404.
20 K. Langloh Parker. The Euahlayi Tribe (London 1905). S. 25 f,
21 A. P. Elkin, The Australian Aborigines (Sydney-London 1938). S. 223.
Eingang einer Höhle und schläft ein. Ein Iruntarinia kommt, «wirft eine unsichtbare Lanze nach ihm, die ihm den Nacken durchschneidet, die Zunge durchbohrt, so daß es eine große Wunde gibt, und durch den Mund herauskommt». Die Zunge des Kandidaten bleibt weiterhin durchlöchert; man kann mit Leichtigkeit den kleinen Finger hineinstecken. Die zweite Lanze durchschneidet ihm den Kopf und das Opfer erliegt. Der Iruntarinia trägt es ins Innere der Höhle, die sehr tief und die Wohnung der Iruntarinia sein soll, wo sie immer im Licht und an frischen Quellen leben (dies ist nämlich das Paradies der Arunta). In der Höhle reißt ihm der Geist die inneren Organe heraus und setzt ihm andere, ganz neue, ein. Der Kandidat kehrt zum Leben zurück, beträgt sich aber einige Zeit wie ein Irrer. Die Iruntarinia-Geister - unsichtbar für die übrigen Menschen außer den Medizinmännern - bringen ihn nun in sein Dorf. Die Etikette verbietet ihm, vor Ablauf eines Jahres zu praktizieren. Wenn sich in der Zwischenzeit das Loch in seiner Zunge schließt, tritt der Kandidat zurück, denn seine magischen Kräfte gelten für verschwunden. Während dieser Zeit lernt er von anderen Medizinmännern die Geheimnisse seines Handwerks, besonders wie die Quarzstücke (atnongara) zu benützen sind22, die ihm die Iruntarinia in den Körper gesenkt haben23.
Die zweite Methode gleicht merklich der ersten, mit dem einen Unterschied, daß die Eruncha den Kandidaten nicht in eine Höhle tragen, sondern mit sich unter die Erde ziehen. Die dritte schließlich enthält ein langes Rituell an einem einsamen Ort, wobei der Kandidat schweigend die Operation erleiden muß, die zwei alte Medizinmänner an ihm vornehmen: Sie reiben ihm den Körper mit Felskristallen, bis die Haut aufreißt, drücken ihm Kristalle auf den Haarboden, bohren ihm ein Loch unter den Nagel der rechten Hand und machen ihm einen Einschnitt in die Zunge. Schließlich bringt man auf seiner Stirne eine Zeichnung mit Namen erunchilda (wörtlich «Die Hand des Teufels» ) an; Eruncha ist der böse Geist bei den Arunta. Auf den Körper macht man ihm eine andere Zeichnung, in der Mitte eine schwarze Linie, die den Eruncha darstellt, und darum herum andere Linien, anscheinend 22 Über diese magischen Steine s. unten Anm. 23.
23 B. Spencer und F. J. Gillen, The Native Tribes of Central Australia (London 1899), S. 522 ff.; ders., The Arunta. A study of a Slone Age Poeple (London 1927), 2. Bd., S. 391 ff.
Symbole der magischen Kristalle, welche er in seinem Körper trägt. Nach dieser Initiation muß sich der Kandidat einer besonderen Lebensweise unterziehen und zahllose Tabus berücksichtigen24.
Ilpailurkna, ein berühmter Zauberer des Unmatjera-Stammes, erzählte Spencer und Gillen: «Als er Medizinmann wurde, kam eines Tages ein sehr alter Doktor und warf mit einem Wurfspießwerfer einige atnongara-Steine25 nach ihm. Einige von den Steinen trafen ihn an der Brust, andere fuhren durch seinen Kopf von einem Ohr zum anderen und töteten ihn. Darauf nahm ihm der Greis alle seine inneren Organe heraus - Darm, Leber, Herz und Lunge - und ließ ihn die ganze Nacht ausgestreckt auf dem Erdboden liegen. Am nächsten Tag kam er wieder, betrachtete ihn, legte weitere atnongara-Steine in das Innere seines Körpers, seine Arme und Beine und bedeckte ihn mit Blättern; dann sang er über seinem Körper, bis dieser aufschwoll. Nun versah er ihn mit neuen Organen, deponierte noch viele atnongara-Steine in ihm und klopfte ihm den Kopf; das belebte ihn und er sprang auf die Füße. Darauf ließ ihn der alte Medizinmann Wasser trinken und Fleisch essen, das atnongara-Steine enthielt. Als er aufwachte, wußte er nicht, wo er war. ,Ich glaube, ich bin verloren!’ sagte er. Dann aber schaute er sich um und sah den Greis an seiner Seite, der zu ihm sprach: ,Nein, du bist nicht verloren; ich habe dich vor langer Zeit getötet.’ Ilpailurkna hatte alles vergessen, was ihn und sein früheres Leben betraf. Der Greis führte ihn nun zum Lager zurück und zeigte ihm seine Frau, seine lubra: er hatte sie ganz vergessen. Aus dieser sonderbaren Rückkehr und aus seinem fremdartigen Benehmen konnten die Eingeborenen sofort entnehmen, daß er ein Medizinmann geworden war26.»
Bei den Warramunga geschieht die Initiation durch die puntidir-Geister, die den Iruntarinia der Arunta entsprechen. Ein Medizinmann erzählte Spencer und Gillen, daß er zwei Tage lang von zwei Geistern verfolgt wurde, die sich «seinen Vater und seinen Bruder» nannten. In der zweiten Nacht näherten sich ihm die Geister von Neuem und töteten ihn. «Während er tot da lag, öffneten sie ihm den Körper und nahmen die Organe heraus, ersetzten sie aber durch neue; zum Schluß setzten sie eine kleine Schlange in seinen Körper, die ihm die Kraft zum Medizinmann verlieh» (Northern Tribes, S. 484).
Ein ähnliches Erlebnis gehört zu der zweiten Initiation der War-ramunga, die, nach Spencer und Gillen (ebd. S. 485), noch geheimnisvoller ist. Die Kandidaten müssen marschieren oder stehen bleiben, bis sie entkräftet und bewußtlos niedersinken. «Dann öffnet man ihnen die Seiten und entfernt wie gewöhnlich ihre inneren Organe, um sie durch neue zu ersetzen.» Man bringt eine Schlange in ihren Kopf und durchbohrt ihnen die Nase mit einem magischen Gegenstand (kupitja), der ihnen später zur Pflege der Kranken dienen wird. Diese Gegenstände sind in der mythischen Zeit Alcheringa von bestimmten sehr mächtigen Schlangen verfertigt worden (ebd., S. 486).
Bei den Binbinga gelten die Medizinmänner als von den Geistern Mundadji und Munkaninji (Vater und Sohn) geweiht. Der Zauberer Kurkutji erzählte, wie er eines Tages in eine Höhle eindrang und dort den alten Mundadji fand, der ihn am Hals packte und tötete, «Mundadji öffnete ihm den Körper in Höhe der Taille, nahm ihm die inneren Organe heraus und setzte seine eigenen in den Körper Kurkutjis, wobei er eine bestimmte Anzahl heiliger Steine beifügte. Als das vollzogen war, näherte sich ihm der jüngere Geist, Munkaninji, und gab ihm das Leben zurück; er bedeutete ihm, daß er jetzt ein Medizinmann sei und zeigte ihm, wie man Knochen ausreißt und die Menschen von bösem Geschick befreit. Dann ließ er ihn zum Himmel aufsteigen und brachte ihn wieder auf die Erde zurück und in sein Lager, wo man ihn beweinte, weil die Eingeborenen glaubten, er sei tot. Er blieb noch lange in einem Zustand der Betäubung, kam aber nach und nach wieder zu sich. Da begriffen die Eingeborenen, daß er ein Medizinmann geworden war. Wenn er eine magische Operation ausführt, soll der Geist Munkaninji neben ihm sein und ihn beaufsichtigen, ohne natürlich vom Volk gesehen zu werden. Wenn Kurkutji einen Knochen ausreißt - welche Operation für gewöhnlich unter dem Deckmantel der Nacht vollführt wird -, saugt er zuerst heftig in der Magengend des Patienten und zieht eine bestimmte Menge Blut heraus. Dann streicht er einigemale über den Körper hin, gibt ihm Faustschläge, hämmert auf ihm herum und saugt, bis der Knochen herauskommt, wirft ihn dann ganz plötzlich, bevor die Umstehenden noch schauen können, dahin, wo Munkaninji sitzt und ganz ruhig das Ganze beaufsichtigt. Dann sagt Kurkutji zu den Eingeborenen, daß er Munkaninji um die Erlaubnis bitten muß, den Knochen sehen zu lassen, und wenn er sie erhalten hat, geht er dorthin, wo er vermutlich vorher einen hingelegt hat, und kehrt damit zurück» (ebd., S. 487 f.).
Im Stamm der Mara ist die Praktik fast dieselbe. Wer Medizinmann werden will, zündet ein Feuer an und verbrennt Fett, um damit zwei Geister, die Minungarra, herbeizuziehen. Diese nähern sich und machen dem Kandidaten Mut mit der Versicherung, daß sie ihn nicht ganz töten werden. «Zuerst machen sie ihn gefühllos, dann schneiden sie wie gewöhnlich seinen Körper auf und nehmen die Organe heraus, die sie durch die Organe eines der Geister ersetzen. Dann gibt man ihm das Leben zurück, sagt ihm, daß er jetzt Medizinmann ist, zeigt ihm, wie er den Patienten Knochen ausziehen und die Menschen von bösem Zauber befreien muß, und bringt ihn zuletzt in den Himmel. Zum Schluß läßt man ihn wieder heruntersteigen und bringt ihn ganz nah zu dem Feld, wo ihn seine Freunde finden, die ihn beweint haben... Zu den Kräften eines Medizinmannes des Mara-Stammes gehört es, während der Nacht mit Hilfe eines für die gewöhnlichen Sterblichen unsichtbaren Seiles bis in den Himmel klettern zu können, wo er sich mit den Geistern der Sterne unterhalten darf» (ebd., S. 488).
Parallelen zwischen Australien und Südamerika
Wie wir gesehen haben, ist die Analogie zwischen den Initiationen der sibirischen Schamanen und der australischen Medizinmänner ziemlich stark. Im einen wie im andern Fall erleidet der Kandidat von halbgöttlichen Wesen oder Ahnen eine Operation, die aus der Zerteilung des Körpers und der Erneuerung der inneren Organe und der Knochen besteht. Im einen wie im andern Fall findet diese Operation in einer «Unterwelt» statt oder bringt einen Abstieg in die Unterwelt mit sich. Dagegen hat die Praktik der Quarzstücke oder anderen magischen Gegenstände, welche die Geister in den Körper des australischen Kandidaten einsetzen sollen, in Sibirien nur eine sehr geringe Bedeutung.
Nur selten wurden Eisenstücke oder andere Gegenstände erwähnt, die zum Schmelzen in denselben Kessel geworfen werden, in den man Knochen und Fleisch des künftigen Schamanen geworfen hat27. Und noch ein Unterschied trennt Australien von Sibirien: in Sibirien wird der größte Teil der Schamanen von den Geistern und Göttern «erwählt», während in Australien die Laufbahn des Medizinmanns anscheinend ebensowohl auf selbstgewollter Wahl des Kandidaten beruhen kann als auf der spontanen «Auserwählung» durch die Geister und göttlichen Wesen.
Andererseits ist noch zu bemerken, daß die Initiationsmethoden der australischen Zauberer sich nicht auf die erwähnten Typen beschränken lassen. Zwar scheint das wichtigste Element einer Initiation in der Zerstückelung des Körpers und dem Ersatz innerer Organe zu bestehen, doch gibt es noch andere Mittel um einen Medizinmann zu weihen und zwar an erster Stelle das ekstatische Erlebnis einer Auffahrt in den Himmel samt Unterweisung durch himmlische Wesen. Zuweilen enthält die Initiation sowohl die Zerteilung des Kandidaten als seinen Aufstieg zum Himmel (wie wir soeben für die Binbinga und die Mara gesehen haben). Andernorts vollzieht sich die Initiation im Verlauf eines mystischen Abstiegs zur Unterwelt. Allen diesen Initiationstypen begegnen wir ebenso bei den sibirischen und zentralasiatischen Schamanen. Derartige Symmetrie zwischen zwei Gruppen mystischer Praktik bei so weit voneinander entfernten archaischen Völkern muß für die Rolle des Schamanismus in der allgemeinen Religionsgeschichte sehr ins Gewicht fallen.
Auf jeden Fall geht aus dieser Analogie zwischen Australien und Sibirien Echtheit und Altertümlichkeit der schamanischen Initiationsriten genugsam hervor. Die Bedeutung der Höhle in der Initiation des
27 Die große Bedeutung der Felskristalle bei den australischen Mediainmännern ist wahrscheinlich das Ergebnis einer Konvergenz zweier gleich bedeutender religiösmagischer Vorstellungen: 1. Einerseits gelten diese Kristalle, wie wir eben sahen, als von den Höchsten Wesen aus dem Himmel herabgeworfen oder von den himmlischen Thronen dieser Gottheiten abgebrochen und haben deshalb an der religiös-magischen Kraft des Himmels teil; 2. andererseits erklären die Australier wie viele andere archaische Völker die Krankheiten damit, daß bestimmte magische Gegenstände in den Körper eingeführt worden sind, und zwar tun dies die Zauberer und bösen Geister aus der Ferne. (Die Heilung besteht dann im Herausziehen dieser magischen Gegenstände.) Demgemäß sind die Felskristalle mit einer polaren religiös-magischen Kraft geladen, mit positiver und negativer zugleich.
australischen Medizinmanns verstärkt noch diesen Eindruck der Altertümlichkeit. In den paläolithischen Religionen scheint die Rolle der Höhle recht bedeutend gewesen zu sein28. Andererseits haben Höhle und Labyrinth auch in den Initiationsriten anderer archaischer Kulturen diese erstrangige Funktion (so z. B. in Malekula); beides konkrete Symbole eines Übergangs in die andere Welt, eines Abstiegs zur Unterwelt. Nach den ersten Auskünften über die araukanischen Schamanen in Chile vollziehen diese ihre Initiation in Höhlen, die häufig mit Tierköpfen geschmückt sind29.
Bei den Eskimo von Smith Sound muß der Aspirant sich in der Nacht an eine höhlenreiche Steilküste begeben und in der Dunkelheit immer geradeaus gehen. Ist er zum Schamanen prädestiniert, so gelangt er geradenwegs in eine Höhle, wenn nicht, rennt er gegen den Felsen. Sobald er eingetreten ist, schließt sich die Höhle hinter ihm und öffnet sich erst nach einiger Zeit wieder. Der Kandidat muß das benützen und schnell entkommen, sonst läuft er Gefahr für immer in der Felsküste eingeschlossen zu bleiben30. Die Höhlen spielen auch in der Initiation der nordamerikanischen Schamanen eine bedeutende Rolle; hier haben die Aspiranten ihre Träume, hier begegnen sie ihren Hilfsgeistern31.
Andererseits ist schon jetzt auf die Parallelen zu verweisen, die der Glaube an die Einsetzung von Felskristallen in den Körper des Kandidaten durch Geister und Einweihende bei anderen Völkern hat. Man begegnet ihm bei den Semang auf Malakka33, doch für den südameri- kanischen Schamanismus ist er eines der hervorstechendsten Kennzeichen. «Der Schamane Cobeno führt in den Kopf des Novizen Felskristalle ein, die ihm Gehirn und Augen zernagen und selbst an die Stelle dieser Organe treten als seine ,Kraft'33.» Anderswo wieder symbolisieren die Felskristalle die Hilfsgeister des Schamanen (Métraux, ebd., S. 210). Im allgemeinen ist bei den Schamanen des tropischen Südamerika die magische Kraft in einer unsichtbaren Substanz verkörpert, welche die Meister den Novizen zuweilen von Mund zu Mund weitergeben (ebd., S. 214). «Die magische Substanz, eine unsichtbare, doch berührbare Masse, und die Pfeile, Dornen und Kristalle, mit denen der Schamane gefüllt ist, sind gleicher Natur. In diesen Gegenständen materialisiert sich die Kraft des Schamanen, die bei zahlreichen Stämmen unter der vageren und nahezu abstrakten Gestalt einer magischen Substanz gedacht ist» (ebd., S. 215; vgl. Webster, Magic, S. 20 ff.).
Dieser archaische Zug, der den südamerikanischen Schamanismus mit der australischen Magie verbindet, ist bedeutsam und steht, wie wir gleich sehen werden, nicht allein34.
Zerstückelung bei der Initiation in Nord- und Südamerika, Afrika und Indonesien
Sowohl spontane Berufung als selbstgewolle Initiation bringen in Südamerika wie in Australien und Sibirien entweder eine mysteriöse Krankheit oder ein mehr oder weniger symbolisches Rituell des my-Diese Cenoi sind himmlische Geister; sie leben manchmal auch in den Kristallen und stehen in diesem Fall dem hala zu Diensten. Mit ihrer Hilfe sieht der hala in den Kristallen das Übel des Patienten und findet zugleich schon das Heilmittel. Beachten wir die himmlische Herkunft der Kristalle (Cenoi); sie zeigt schon, wo die Kraft des Medizinmannes ihre Quelle hat.
33 A. Métraux, Le shamanisme chez les Indiens de l’Amérique du Sud tropicale S. 216.
34 über das Problem der Beziehungen zwischen Australien und Südamerika siehe W. Köppers, Die Frage eventueller aller Kulturbeziehungen zwischen Südamerika und Südost-Australien (Proceedings XXIII Intern. Congress of Americanists, Neuyork 1928, ebd., Neuyork 1930, S. 678—686). Vgl. auch P. Rivet, Les Mélano-Polynésiens et les Australiens en Amérique (Anthropos XX. 1925, S. 51—54; sprachliche Annäherungen zwischen Patagoniern und Australiern S. 52) stischen Todes mit sich, welcher manchmal durch Zerstückelung des Körpers und Erneuerung der Organe ausgedrückt wird.
Bei den Araukanern zeigt sich die Erwählung im allgemeinen in einer plötzlichen Krankheit. Der junge Mensch fällt hin «wie tot», und wenn er wieder zu Kräften kommt, erklärt er, daß er macht wird35. Ein Fischermädchen erzählte dem Pater Housse: «Ich sammelte eben Muscheln zwischen den Klippen, als ich etwas wie einen Stoß gegen meine Brust fühlte und eine Stimme von innen sehr deutlich zu mir sagte: .Werde macht! Es ist mein Wille!' Zugleich befielen mich heftige Schmerzen in den Eingeweiden und nahmen mir das Bewußtsein. Das was ohne Zweifel der Ngenechen, der Herr der Menschen, der in mich herabstieg» (Métraux, Le shamanisme araucan, S. 316).
Der symbolische Tod wird, wie Métraux mit Recht bemerkt, im allgemeinen durch lange Ohnmächten und lethargischen Schlaf des Kandidaten angedeutet36. Bei den Yamana auf Feuerland reiben sich die Neophyten das Gesicht solange, bis eine zweite und sogar eine dritte Haut erscheint, «die neue Haut», die nur Eingeweihte sehen können37. Bei den Bakairi, denTupi-Imba und den Kariben werden Tod (durch Tabaksaft) und Auferstehung des Kandidaten formell beglaubigt“. Beim Konsekrationsfest des araukanischen Schamanen gehen die Meister und Neophyten barfuß über das Feuer ohne sich zu verbrennen oder ihre Kleider in Brand zu setzen. Man sah sie sich auch die Nase oder die Augen ausreißen. «Der Einweihende machte die Laien glauben, daß er sich Zunge und Augen ausriß, um sie gegen die des Eingeweihten auszutauschen. Er durchbohrte sich auch mit einer Gerte, die ihm beim
Bauch eindrang und durch das Rückgrat wieder herauskam ohne Blutverlust oder Schmerzen (Rosales, Historia general del Regno de Chile, Bd. I, S. 168). Die Toba-Schamanen empfangen mitten auf die Brust eine Gerte, die wie eine Gewehrkugel in sie eindringt39.»
Ähnliche Züge sind auch im nordamerikanischen Schamanismus bezeugt. Bei den Maidu legen die Einweihenden die Kandidaten in einen Graben voll «Medizin» und «töten» sie mit einer «Giftmedizin». Im Verlauf dieser Initiation werden die Neophyten in Stand gesetzt, glühende Steine in der Hand zu halten, ohne sich weh zu tun40. Die Initiation der Schamanengesellschaft «Ghost ceremony», bei den Pomo enthält Folter, Tod und Auferstehung der Neophyten; sie liegen wie Leichen auf der Erde und werden mit Stroh bedeckt. Dasselbe Ritual begegnet bei der. Yuki, den Huchnom und den Miwok an der Küste41. Die Initiationszeremonien der Schamanen der Küstenpomo haben als Ganzes den bezeichnenden Namen «Einschnitt»42. Bei den River-Patwin heißt es, daß dem Aspiranten der Kuksu-Geselischaft von Kuksu selbst der Nabel mit einer Lanze durchbohrt wird; er verscheidet und wird durch einen Schamanen wieder auf erweckt43. Die Luiseno-Schamanen «töten» sich gegenseitig mit Pfeilen. Bei den Tlingit zeigt sich das erste Besessensein eines Schamanenkandidaten in einer Trance, die ihn zu Boden wirft. Bei den Menomini wird der Neophyt vom Initianten mit magischen Gegenständen «gesteinigt» und dann wieder auferweckt44. Fast überall in Nordamerika enthalten die Initiationsriten der Geheimbünde (ob sie schamanisch sind oder nicht) das Todes- und Auferstehungsritual (Loeb, a. a. O., S. 266 ff.).
39 A. Métraux, Le shamanisme at autan, S. 313 1. Bei der Initiation des Warrau-Schamanen verkündete man mit lauten Schreien seinen «Tod»; Métraux, Le shamanisme chez les Indiens de l'Amérique du Sud tropicale, S. 339.
40 E. W. Gifford, Southern Maidu religious ceremonies (American Anthropologist, Bd. 29. Nr. 3. 1927, S. 214-257), S. 244.
41 E. M. Loeb, Tribal initiation and secret societies (University of California Publications in American Archaeology and Ethnology, Bd. 25, 3, S. 249-288. Berkeley
1929), S. 267.
2 Loeb, a. a. O., S. 268.
43 Loeb, ebd., S. 269.
Cora du Bois, Religion of the Luiseßo Indian (Univ. of California Publ. in American Archaeology and Ethnology, Bd. 8, 1908), S. 81; Swanton, The Tlingit Indians (Annual Report, Bureau of American Ethnology, Bd. 26, 1908), S. 466; Loeb, a.a.O., S. 270-278.
Der nämliche mystische Tod- und Auferstehungssymbolismus in Gestalt geheimnisvoller Krankheiten oder schamanischer Initiationszeremonien findet sich auch anderweitig. Bei den Sudannegern der Nuba-berge heißt die erste Initiationsweihe «Kopf» und es wird erzählt, daß man dabei «den Kopf des Novizen öffnet, damit der Geist hinein kann»45. Doch kennt man auch Initiationen auf dem Wege schamanischer Träume und eigenartiger Unfälle. So hatte ein Schamane gegen die Dreißig eine Reihe bedeutsame Träume: Ihm träumte von einem roten Pferd mit weißem Bauch, von einem Leoparden, der ihm die Tatze auf die Schulter legte, von einer Schlange, die ihn biß - alle diese Tiere spielen in den schamanischen Träumen eine wichtige Rolle. Bald darauf begann er plötzlich zu zittern, verlor das Bewußtsein und begann zu prophezeihen. Das war das erste Zeichen der «Auserwählung», aber er mußte zwölf Jahre warten, bis er zum Kujur geweiht wurde. Ein anderer Schamane hatte keine Träume, doch wurde eines Nachts seine Hütte vom Blitz getroffen und er «blieb zwei Tage wie tot» (Nadel, a.a.O., S. 28 f.).
Ein Amazulu-Zauberer «erzählt seinen Freunden, er habe geträumt, daß ihn ein Fluß davontrage. Er träumt verschiedenerlei. Sein Körper ist schwach und er wird von Träumen verfolgt. Er träumt viele Dinge und sagt beim Erwachen zu seinen Freunden: .Mein Körper ist heute gebrochen. Ich habe geträumt, daß viele Leute im Begriff waren mich zu töten. Ich bin entkommen, ich weiß nicht recht wie. Beim Aufwachen verspürte ein Teil meines Körpers andere Gefühle als der andere. Mein Körper war nicht mehr überall derselbe46.»
Traum, Krankheit oder Initiationszeremonie - das zentrale Element bleibt immer dasselbe, nämlich symbolischer Tod und Auferstehung des Neophyten mit verschiedenen Arten der Zerstückelung (Zerteilung, Auf schneiden, öffnen des Bauchs usw.). An den folgenden Beispielen ist die Tötung des Kandidaten durch die Initiationsmeister noch deutlicher abzulesen.
So verläuft in Malekula die erste Phase der Initiation eines Medizinmanns47 «Ein Bwili in Lol-narong empfängt den Besuch des Sohns sei-ner Schwester. Dieser sagt zu ihm: ,Ich möchte, daß du mir etwas gibst.' Der Bwili sagt: ,Hast du die Bedingungen erfüllt?’ ,Ja, ich habe sie erfüllt.' Er sagt weiter: ,Du hast nicht mit einer Frau geschlafen?' .Nein.' Der Bwili sagt: ,Gut.’ Dann sagt er zu dem Neffen: .Komm hierher. Lege dich auf dieses Blatt.' Der junge Mann legte sich darauf. Der Bwili machte sich aus Bambus ein Messer. Er schnitt den Arm des jungen Mannes ab und legte ihn auf zwei Blätter. Er lachte über seinen Neffen und dieser antwortete mit einem Gelächter. Er schnitt den andern Arm ab und legte ihn auf die Blätter neben den ersten. Er kam zurück und beide lachten. Er schnitt ein Bein ab in Höhe des Oberschenkels und legte es neben die Arme. Er kam zurück und lachte, so auch der junge Mann. Er schnitt darauf das andere Bein ab und legte es neben das erste. Er kam zurück und lachte. Der Neffe lachte wieder. Zum Schluß schnitt er den Kopf ab und hielt ihn vor sich hin. Er lachte und der Kopf lachte ebenfalls. Er tat den Kopf wieder an seinen Platz. Er nahm die Arme und Beine, die er entfernt hatte, und brachte sie wieder an ihren Platz.» Der weitere Verlauf dieser Initiationszeremonie bringt die magische Verwandlung des Meisters und des Schülers in Hühner, ein bekanntes Symbol der «Flugkraft» der Schamanen und der Zauberer überhaupt, auf die wir noch zurückzukommen haben.
Bei den Dajak auf Borneo enthält die Initiation des manang drei verschiedene Zeremonien, welche den drei Graden des Dajak-Schama-nismus entsprechen. Der erste Grad, besudi (das Wort bedeutet anscheinend «betasten, berühren»), ist auch der unterste und mit ganz wenig Geld zu erlangen. Der Kandidat liegt wie ein Kranker auf der Veranda und die anderen manang streichen ihm die ganze Nacht den Körper. Vermutlich wird ihm auf diese Weise beigebracht, wie er künftig als Schamane durch die Palpation des Patienten die Krankheiten und die Heilmittel finden soll. (Es ist nicht ausgeschlossen, daß bei dieser Gelegenheit die alten Meister die magische «Kraft» in Form von kleinen Kieseln oder anderen Gegenständen in den Körper des Kandidaten einführen.)
Die zweite Zeremonie, beklili («Öffnung»), ist komplizierter und von eindeutig schamanischem Charakter. Nach einer Nacht der Beschwörungen führen die alten manang den Neophyten in ein Zimmer,
religion primitive,
S. 66 ff. Wir benützen die Übersetzung von Métraux (P. Radin, La S. 99 ff).
das durch Vorhänge abgetrennt ist. «Dort, sagen sie, schneiden sie ihm den Kopf ab und entfernen das Gehirn; dann waschen sie es und setzen es wieder ein; so geben sie dem Kandidaten einen hellen Verstand, mit dem er die Geheimnisse der bösen Geister und Krankheiten durchdringen kann; dann tun sie ihm Gold in die Augen, das gibt ihm einen durchdringenden Blick, mit dem er die Seele sehen kann, wo immer sie herumirrt oder herumschweift; dann befestigen sie gezähnte Haken an seinen Fingerspitzen, damit er die Seele fangen und sie festhalten kann; zuletzt durchbohren sie ihm das Herz mit einem Pfeil, um ihn mitleidig zu machen und voll Sympathie mit den Kranken und Leidenden48.» Natürlich ist die Zeremonie symbolisch; man setzt ihm eine Kokosnuß auf den Kopf und zerbricht sie, usw. Es gibt noch eine dritte Zeremonie, welche die schamanische Initiation abschließt und eine ekstatische Himmelsreise auf einer rituellen Leiter enthält. In einem späteren Kapitel werden wir auf diese letzte Zeremonie zurückkommen.
Wir haben es also mit einer Zeremonie zu tun, die den Tod und die Auferstehung des Kandidaten symbolisiert. Das Austauschen der Eingeweide geschieht auf rituelle Weise, die nicht notwendig das ekstatische Erlebnis des Traumes, der Krankheit oder des vorübergehenden Wahnsinns wie bei den australischen und sibirischen Kandidaten enthält. Die Rechtfertigung für das Erneuern der Organe (daß ein besseres Auge, ein zärtliches Herz verliehen wird) verrät, sofern sie überhaupt echt ist, daß man den ursprünglichen Sinn des Ritus vergessen hat.
Die Initiation der Eskimoschamanen
Bei den Ammasilik-Eskimos stellt sich nicht der Schüler dem alten angakkok (Plural angákut) vor, um sich einweihen zu lassen, sondern der Schamane selbst wählt ihn schon im zartesten Alter aus49. Er sucht 48 H. Ling Roth, Natives of Sarawak and British North Borneo (London 1896), I, S. 280 f.; er zitiert die durch Archdeacon J. Perham in Journal of the Straits Branch of Asiatic Society. Nr. 19, 1887 veröffentlichten Beobachtungen.
49 W. Thalbitzer, The heathen Priests of East Greenland tangakut), XVI. Internationaler Amerikanistenkongreß, 1908, Wien-Leipzig 1910, Bd. II, S.447-464), S. 452 ff.
sich unter den Knaben (im Alter von 6 bis 8 Jahren) die, welche nach seiner Meinung die besten Anlagen für die Initiation haben, «damit die Kenntnis der höchsten Kräfte, die es gibt, für die künftigen Generationen bewahrt bleiben möge» (Thalbitzer, The heathen Priests, S. 454). «Nur bestimmte Seelen von ganz besonderen Gaben, Träumer, hysterisch veranlagte Visionäre, kommen für die Wahl in Betracht. Ein alter angakkok findet einen Schüler und dann wird im tiefsten Geheimnis die Unterweisung vorgenommen, fern der Hütte, im Gebirge“.» Der angakkok lehrt ihn sich in der Einsamkeit abzusondern, bei einem alten Grab,, am Ufer eines Sees, und dort mit einem Stein auf einem anderen zu reiben und das Ereignis zu erwarten. «Dann wird der Bär des Sees oder des Eisberges darin hervorkommen, er wird dein ganzes Fleisch verschlingen und aus dir ein Skelett machen und du wirst sterben. Doch du wirst dein Fleisch wiederfinden, du wirst wieder erwachen und deine Kleider werden dir zufliegen51.» Bei den Labrador-Eskimos erscheint der Große Geist selbst in Gestalt eines riesigen weißen Bären und verschlingt den Aspiranten (Weyer, a.a.O., S. 429). Im westlichen Grönland bleibt der Kandidat nach dem Erscheinen des Geistes drei Tage «tot» (ebd.).
Es handelt sich natürlich um ein ekstatisches Todes- und Auferstehungserlebnis, während welchem der Knabe für einige Zeit das Bewußtsein verliert. Daß der Schüler zum Skelett gemacht und dann mit neuem Fleisch bedeckt wird, ist eine spezifische Note der Eskimoinitiation, welcher wir bei einer anderen mystischen Praktik sogleich noch einmal begegnen werden. Der Neophyt reibt seine Steine den ganzen Sommer, ja mehrere Sommer hintereinander bis zu dem Augenblick, wo er seine Hilfsgeister erhält (Thalbitzer, The heathen Priests, S. 454; Weyer, a. a. O., S. 429), doch in jeder neuen Jahreszeit sucht er sich einen neuen Meister, um dadurch seine Erfahrung zu erweitern (jeder angakkok ist Spezialist in einer bestimmten Technik) und sich eine ganze Truppe von Hilfsgeistern zu schaffen (Thalbitzer, Les magiciens, S. 78). Während er die Steine reibt, ist er verschiedenen Tabus
50 W. Thalbitzer, Les magiciens esquimaux, leurs conceptions du monde, de l'âme es de ta vie (Journal de la Société des Américanistes, N. S., Bd. 22, 1930, S. 73-106), S. 77. Vgl. auch li. M. Weyer jr-, Eskimos, Their environment and Folkways (New Haven 1932), S. 428.
51 W. Thalbitzer, Les magiciens esquimaux, S. 78; decs., The heathen Priests, S. 454.
unterworfen52. Ein angakkok unterrichtet fünf oder sechs Schüler auf einmal (Thalbitzer, Les magiciens, S. 79) und wird dafür bezahlt (The heathen priests, S. 454; Weyer, S. 433 f.) 53.
Bei den Iglulik-Eskimos scheint es anders zu sein. Wenn ein junger Mann oder eine junge Frau Schamane werden wollen, stellen sie sich mit einem Geschenk bei dem Meister vor, den sie gewählt haben, und erklären: «Ich komme zu dir, weil ich sehen möchte.» Am selben Abend befragt der Schamane seine Geister, «um alle Hindernisse zu beseitigen». Darauf schreiten der Kandidat und seine Familie zur Beken-nung der Sünden (Übertretungen der Tabus usw.) und reinigen sich damit vor den Geistern. Die Unterrichtszeit dauert nicht lang, besonders wenn es sich um einen Mann handelt. Es können sogar fünf Tage genügen. Doch wird der Kandidat seine Vorbereitung in der Einsamkeit fortsetzen. Der Unterricht ist morgens, mittags, abends und in der Nacht. Während dieser Zeit ißt der Kandidat nur sehr wenig und seine Familie nimmt nicht an der Jagd teil54.
Die Initiation im eigentlichen Sinn beginnt mit einer Prozedur, über die wir nur ziemlich schlecht orientiert sind. Der alte angakkok zieht aus den Augen, dem Gehirn und den Eingeweiden des Schülers seine «Seele» heraus, damit die Geister das Beste an dem künftigen Schamanen erkennen können (Rasmussen, a.a.O., S. 112). Infolge dieses «Herausziehens der Seele» wird der Kandidat fähig, selbst seinen Geist aus dem Körper zu ziehen und große mystische Reisen durch den Raum und die Tiefen des Meeres zu unternehmen (ebd., S. 113). Vielleicht gleicht diese geheimnisvolle Operation in gewisser Hinsicht den Praktiken der australischen Schamanen, die wir oben kennengelernt haben. Auf jeden Fall ist «das Herausziehen der Seele» nur eine schwache Tarnung für eine «Erneuerung» der inneren Organe.
Darauf verschafft der Meister ihm den angákoq, auch qaumaneq genannt, das heißt seinen «Blitz», seine «Erleuchtung», denn Azt angákoq besteht «in einem geheimnisvollen Licht, welches der Schamane plötzlich in seinem Körper, im Innern seines Kopfes, im Herzen seines Hirns verspürt, ein unerklärlicher Leuchtturm, ein leuchtendes Feuer, das ihn in den Stand setzt im Dunkeln zu sehen, und zwar im wörtlichen und im übertragenen Sinn, denn fortan ist es ihm möglich sogar mit geschlossenen Augen durch die Finsternisse zu sehen und künftige Dinge und Ereignisse wahrzunehmen, die den anderen Menschen verborgen sind; so kann er ebensowohl die Zukunft erkennen wie die Geheimnisse der Mitmenschen» (Rasmussen, a. a. O., S. 112).
Der Kandidat erhält dieses mystische Licht nach langen Stunden des Wartens, wo er auf einer Bank in seiner Hütte sitzt und die Geister anruft. Wenn er es das erstemal ausprobiert, ist es «wie wenn das Haus, in dem er ist, sich auf einmal in die Höhe heben würde; er sieht sehr weit, durch die Berge hindurch, gerade wie wenn die Erde eine große Ebene wäre, und seine Augen berühren die Grenzen der Erde. Nichts ist mehr vor ihm verborgen. Er kann nicht nur sehr weit sehen, sondern sogar die entflogenen Seelen entdecken, ob sie in fremden, fernen Gegenden bewacht und verborgen sind oder nach oben oder nach unten ins Land der Toten entführt» (ebd., S. 113).
Wir treffen hier auch dieses Erlebnis der Erhebung und Auffahrt, ja sogar der Levitation, das den sibirischen Schamanismus kennzeichnet, aber auch andernorts zu finden und ganz allgemein als ein spezifischer Zug der schamanischen Praktiken zu betrachten ist. Wir werden noch mehr als einmal auf diese Auffahrtstechniken und ihren religiösen Gehalt zu kommen haben. Für jetzt halten wir nur fest, daß das Erlebnis des inneren Lichtes, welches die Laufbahn des Iglulikschamanen bestimmt, vielen höheren Mystikern vertraut ist. Nur einige Beispiele: Das «innere Licht» (antarjyotirmâyâ) bezeichnet in den Upanischaden sogar das Wesen des atman. In den Yogitechniken, besonders jenen der buddhistischen Schulen, zeigt das verschieden gefärbte Licht das Gelingen gewisser Meditationen an55. Ebenso mißt das Tibetanische Totenbuch dem Licht eine große Bedeutung zu, in welchem, wie es scheint, die Seele des Sterbenden während des Todeskampfes und unmittelbar nach dem Tode badet: Von der Festigkeit, mit der man das unbefleckte Licht wählt, hängt das Geschick des Menschen nach dem Tode (Befreiung oder Reinkarnation) ab56. Denken wir zum Schluß noch an die überaus große Rolle, welche das innere Licht in der christlichen Mystik und Theologie spielt57. All das läßt uns die Erlebnisse der Eskimoschamanen mit noch größerem Verständnis beurteilen, und manches spricht dafür, daß derartige mystische Erlebnisse irgendwie schon der archaischen Menschheit in ihrer fernsten Frühzeit zugänglich waren.
Die Betrachtung des eigenen Skeletts
Quamaneq ist eine mystische Fähigkeit, die zuweilen der Meister dem Schüler vom Mondgeist verschafft. Sie kann auch direkt vom Schüler erlangt werden und zwar mit Hilfe der Geister der Toten, des Karibischen Meeres oder der Bären (Rasmussen, a,a. O., S. 113). Aber es handelt sich immer um ein persönliches Erlebnis; die mythischen Wesen sind nur die Quelle, aus der der vorbereitete Neophyt die Offenbarung erwarten darf.
Schon bevor er darangeht, sich einen oder mehrere von den Hilfsgeistern zu erwerben, die gleichsam neue «mystische Organe» des Schamanen sind, muß der Eskimoneophyt eine große Initiationsprüfung be-55 Vgl. Mircea Eliade, Yoga. Essai sur les origines de la mystique indienne (Paris-Bukarest, 1936) S. 192 ff. und passim; G. Tucci, Some glosses upon the Guhyasamâja (Mélanges chinoises et bouddhiques. Bd. Ill, Brüssel 1935, S. 339-353), S. 348 ff.
56 Vgl. G. Tucci, Teoria e pratica del mandata (Rom 1949), S. 15 ff,
57 Vgl. zuletzt Max Pulver, Die Lichterfahrung im Johannesevangelium, im Corpus Hermelicum, in der Gnosis und in der Ostkirche (Eranos-Jahrbuch 1943, Bd. X, Zürich 1944, S. 253-296); «Abba Antonius, völlig erleuchtet durch die Erscheinung des geistigen Lichtes, wird hellsehend und sieht über eine Entfernung von zehn Stadien die Seele des seligen Ammon, wie sie zum Himmel getragen wird. Abba Joseph erklärt, man könne nicht Mönch werden, ohne ganz leuchtend zu werden wie ein Feuer». (C. M. Edsman, Le baptême de feu, Uppsala 1940, S. 156, nach Budge, The Book of Paradise, London 1904, S. 950 ff.) stehen. Zu diesem Erlebnis bedarf es einer langen Anstrengung in physischer Askese und geistiger Betrachtung mit dem Ziel, sich selbst als Skelett sehen zu können. Die von Rasmussen befragten Schamanen gaben über diese geistige Übung nur ziemlich unbestimmte Auskünfte, welche der berühmte Forscher so zusammenfaßt: «Kein Schamane kann das Wie und Warum erklären, doch er ist durch die Kraft, die seinem Denken aus dem Übernatürlichen kommt, imstande seinen Körper von Fleisch und Blut zu entkleiden, so daß nichts übrig bleibt als die Knochen. Darauf muß er alle Teile seines Körpers nennen und einen jeden Knochen mit Namen auf führen, und zwar darf er sich dazu nicht der gewöhnlichen menschlichen Sprache bedienen, sondern einzig der speziellen, heiligen Schamanensprache, die er von seinem Lehrer gelernt hat. Während er sich nun so nackt und von dem vergänglichen, ephemeren Fleisch und Blut völlig befreit erblickt, weiht er sich selbst - immer in der heiligen Sprache der Schamanen - durch diesen der Wirkung von Sonne, Wind und Zeit am längsten standhaltenden Teil seines Körpers seiner großen Aufgabe» (Rasmussen, a. a. O., S. 114).
Diese wichtige Meditationsübung, die einer Initiation gleichkommt (denn mit ihrem Gelingen ist in jedem Fall die Verleihung von Hilfsgeistern verbunden), erinnert außerordentlich an die Träume der sibirischen Schamanen, nur mit dem Unterschied, daß dort die Zurückführung auf den Skelettzustand eine Handlung ist, die von den scha-manischen Ahnen oder anderen mythischen Wesen durchgeführt wird, während es sich bei den Eskimo um eine durch Askese und persönliche Konzentrationsübung erreichte geistige Operation handelt. Hier wie dort sind die wesentlichen Elemente dieser mystischen Vision die Entäußerung vom Fleisch und die Aufzählung und Benennung der Knochen. Der Eskimoschamane erreicht diesen Zustand nach einer langen und harten Vorbereitung. Die sibirischen Schamanen werden in den meisten Fällen «erwählt» und wohnen ihrer Zerteilung durch mythische Wesen nur passiv bei. Aber in allen diesen Fällen bezeichnet die Zurückführung auf das Skelett ein Überschreiten der profanen menschlichen Verfassung und damit eine Befreiung aus ihr.
Es bleibt noch zu sagen, daß dieses Überschreiten nicht immer zu denselben mystischen Konsequenzen führt. Wie wir bei der Untersuchung des Symbolismus der Schamanentracht sehen werden, stellt unter dem geistigen Horizont der Hirtenvölker das Skelett die Quelle des Lebens dar, und zwar ebenso des menschlichen wie des großen animalischen Lebens. Sich selbst auf den Skelettzustand zurückführen bedeutet eine Reintegration im Schoß dieses «Großen Lebens», also eine vollständige Erneuerung, eine mystische Wiedergeburt. Im Rahmen gewisser zentralasiatischer Meditationen von mehr oder weniger buddhistischer und tantristischer Herkunft dagegen hat die Zurückführung auf den Skelettzustand eine mehr asketische und metaphysische Geltung, nämlich das Werk der Zeit vorwegzunehmen, das Leben durch das Denken auf das zurückzuführen, was es in Wahrheit ist: eine ephemere Illusion in dauerndem Wandel.
Beachten wir, daß solche Kontemplation mitten im Herzen der christlichen Mystik lebendig geblieben ist - wieder einmal ein Beweis für die Unveränderlichkeit der Grenzsituationen, welche der archaische Mensch bei dem ersten Erwachen seines Bewußtseins vorgefunden hat. Gewiß, ein Unterschied des Gehaltes trennt diese religiösen Erlebnisse, wie wir bei den zentralasiatischen Buddhistenmönchen sehen werden. Doch unter einem bestimmten Gesichtswinkel erscheinen alle diese kontemplativen Erlebnisse gleichwertig. Überall begegnet der Wille zur Überschreitung der profanen individuellen Verfassung und zur Gewinnung einer überzeitlichen Perspektive. Mag es ein Wiedereintauchen in das ursprüngliche Leben zur geistigen Erneuerung des ganzen Wesens sein oder (wie in der buddhistischen Mystik und im Eskimoschamanismus) eine Befreiung von der Illusion des Fleisches, das Ergebnis ist immer dasselbe, ein Zurückfinden zur Quelle des geistigen Lebens, das die «Wahrheit» und das «Leben» zugleich ist.
Stammesinitiationen und Geheimbünde
Wir haben mehr als einmal den Initiationscharakter des «Todes» und der «Auferstehung» des Kandidaten festgestellt, unter welcher Form diese auch auftreten: ekstatischer Traum, Krankheit, ungewöhnliche Ereignisse oder Rituell im eigentlichen Sinn. Die Zeremonien, welche den Übergang von einer Altersklasse zur anderen oder die Zulassung zu einem «Geheimbund» vermitteln, setzen immer eine Reihe von Riten voraus, die sich in der bequemen Formel «Tod und Auferstehung des
Kandidaten» zusammenfassen lassen. Nennen wir noch einmal die gebräuchlichsten58:
a) Zeit der Abschließung im Busch (Symbol des Jenseits) und larvenhafte Existenz nach Art der Toten (Australien, Melanesien); Verbote für die Kandidaten, die den Toten angeglichen sind (ein Toter kann gewisse Gerichte nicht essen, sich nicht seiner Finger bedienen usw. ) ;
b) Gesicht und Körper mit Asche oder bestimmten kalkigen Substanzen hergerichtet, um das bleiche Leuchten der Gespenster zu erreichen (Australien, Melanesien, Afrika); Totenkultmasken (Melanesien, Afrika);
c) symbolische Bestattung im Tempel oder im Haus der Fetische (Kongo, Molukken, Neu-Guinea);
d) symbolischer Abstieg in die Unterwelt (Ostafrika usw.);
e) hypnotischer Schlaf (Nordamerika, Melanesien usw.); Getränk, das die Kandidaten bewußtlos macht (Kongo, Indianer in Virginia);
f) schwierige Proben: Prügel (Melanesien), die Füße am Feuer geröstet (Australien: Yuin-Stamm), Aufhängen in der Luft (beim nordamerikanischen Sioux- und Dakotastamm); Amputation von Fingern und verschiedene andere Grausamkeiten (besonders bei den nordamerikanischen Stämmen).
Alle diese Rituale und Proben haben den Sinn, das vergangene Leben vergessen zu machen. Deshalb scheint an vielen Orten der Kandidat, wenn er nach der Initiation in sein Dorf zurückkommt, das Gedächtnis verloren zu haben und man muß ihn von neuem gehen, essen und sich anziehen lehren. Im allgemeinen lernen die Neophyten eine neue Sprache und tragen einen neuen Namen (so von Australien bis Brasilien). Während ihres Aufenthaltes im Busch gelten die Kandidaten bei der übrigen Gemeinschaft als tot und begraben oder von einem
58 Vgl. Heinrich Schurtz, Allersblassen und Männerbünde (Berlin 1902); H. Webster. Primitive Secret Societies: a study in early politics and religion (Neuyork 1908; italienische Übersetzung, Bologna 1920; 2. amerikanische Aufl. 1932); Van Gennep, Les rites de passage (Paris 1909); E. M. Loeb, Tribal initiation and secret Societies (Univ. of California Publications in American Archaeology and Ethnology, Bd. 23, 3, S. 249-288. Berkeley 1929). ln einem in Vorbereitung befindlichen Werk, Mort et Initiation, werden wir auf dieses Problem zurückkommen.
Untier oder einem Gott verschlungen59, und wenn sie ins Dorf zurückkehren, betrachtet man sie als Wiedergänger.
Morphologisch gehören die Initiationsproben des künftigen Schamanen zu der großen Klasse von Übergangsriten und Eintrittszeremonien in die Geheimbünde. Es ist manchmal schwierig, zwischen Stam-mesinitiations- und Geheimbundriten zu unterscheiden (so in Neu-Guinea, vgl. Loeb, Tribal initiation, S. 269 ff.), oder zwischen Zulassungsriten einer Geheimgesellschaft und schamanischen Initiationsriten (besonders in Nordamerika, Loeb, S. 269 ff ). Es handelt sich übrigens in allen diesen Fällen um ein «Suchen» von Kräften durch den Kandidaten.
In Sibirien und Zentralasien gibt es keine Initiationsriten für den Übergang von einer Altersklasse in die andere. Doch es wäre verkehrt, dieser Tatsache zuviel Bedeutung zuzumessen und aus ihr Schlüsse über den Ursprung der schamanischen Initiationsriten in Sibirien zu ziehen. Denn die beiden großen Gruppen von Ritualen (Stammesinitiation -schamanische Initiation) bestehen anderwärts nebeneinander, so in Australien, Ozeanien und den beiden Amerika. In Australien scheinen die Dinge sogar ziemlich klar zu liegen: Zwar sind alle Männer durch die Initiation Mitglieder des Clans geworden, doch gibt es eine weitere Initiation, die den Medizinmännern Vorbehalten ist. Diese Initiation verleiht dem Kandidaten andere Kräfte als die Stammesinitiation. Sie bedeutet schon eine hohe Spezialisierung in der Handhabung des Sakralen. Der große Unterschied zwischen den beiden Initiationstypen besteht in der überwiegenden Bedeutung des inneren, ekstatischen Erlebnisses für die künftigen Medizinmänner. Nicht jeder, der will, ist Medizinmann; die Berufung ist unentbehrlich. Und diese Berufung offenbart sich vor allem in einer einzigartigen Befähigung zum ekstatischen Erlebnis. Wir werden später noch von diesem Aspekt des Schamanismus handeln, der uns charakteristisch erscheint und der letzten Endes den Unterschied zwischen Stammesinitiation oder Zulassung zu Geheimbünden und schamanischer Initiation im eigentlichen Sinn ausmacht.
Denken wir zum Schluß noch daran, daß der Mythos von der Erneuerung durch Zerstückelung, Kochen oder Feuer die Menschheit 59 Ober diesen Aspekt der Initiationsriten s. Ewald Volhardt, Kannibalismus (Stuttgart 1959), S.454 ff.
auch über den geistigen Umkreis des Schamanismus hinaus verfolgt hat. Medea erreicht die Tötung des Pelias durch seine eigenen Töchter, indem sie sie überzeugt, daß sie ihn wieder auferwecken und verjüngen wird, wie sie es mit einem Widder gemacht hat (Appollodoros, Bibliothek, I, IX, 27). Und als Tantalos seinen Sohn Pelops tötete und den Göttern beim Gelage auftischte, weckten diese ihn wieder auf, indem sie ihn in einem Topf kochten (Pindar, Olymp. I, 26 (40) ff.); es fehlte nichts an ihm als die Schulter, die Demeter aus Versehen gegessen hatte (über dieses Motiv s. S. 161 ff.). Der Mythos von der Verjüngung durch Zergliederung ist auch in die Volksüberlieferung Sibiriens, Zentralasiens und Europas eingegangen, wobei die Rolle des Schmiedes von Jesus Christus oder von bestimmten Heiligen gespielt wird 60.
60 S. Oskar Dahnhardt, Nalunagen (Leipzig 1909-1912), 2. Bd., S. 154; J. Boite und G. Polivka. Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärcben der Brüder Grimm (Leipzig. 1913-1930), 3. Bd„ S. 198, Anrn. 3; Stith Thompson, Motif-Index of Folk-Literature, 2. Bd. (Helsinki 1933), S. 294; C. M. Edsman, Ignit divinus: le feu comme moyen de rajeunissement et d'immortalité: contes, légendes, mythes et rites (Lund 1949), S. 30 ff., 151 ff. Edsman benützt auch den reichhaltigen Artikel von C. Marstrander, Deux contes irlandais (Miscellany presented to Kuno Meyer, Halle 1912, S. 371-486), der Bolte-Polivka und S. Thompson entgangen ist.
Ill
G. W. Ksenofontov, Legendy i raskazy o skamanach u fakutov, burial i lungusov (2. Aufl., Moskau 1930), S. 44 ff.; T, Lehtisalo, Der Tod und die Wiedergeburt des künftigen Schamanen (Journal de la Société finno-ougrienne XLVIII, Helsinki 1937, Heft 3, S. 1-34), S. 13 ff.
4 Nach einer weiteren jakutischen Legende (Lehtisalo, Der Tod, S. 30) entstehen die Schamanenseelen auf einer Tanne auf dem Berg Dzokuo. Eine andere Vorstellung spricht vom Baum Yjyk-Mar, dessen Wipfel bis in den Neunten Himmel reicht. Dieser Baum hat keine Äste, sondern die Schamanenseelen befinden sich in seinen Knoten (ebd., S. 31). Offensichtlich haben wir es dabei mit dem Weltenbaum zu tun, der im Zentrum der Welt wächst und die drei kosmischen Zonen Unterwelt, Erde und Himmel verbindet. Dieses Symbol spielt in allen nord- und zentralasiatischen Mythologien eine große Rolle. S. unten S. 259.
T. Lehtisalo, Entwurf einer Mythologie der ] urak-Samo jeden (Mémoires de la Société Finno-Ougrienne, Bd. UH, Helsinki 1927), S. 146; ders., Der Tod und die Wiedergeburt des künftigen Schamanen, S. 3.
6 A. A. Popov, Tavgijcy. Malerialy po etnografii avamtkicb i vedeevsktch tavgicev (Trudy Instituta Antropologii i Etnografii. Bd. 1, S. 5, Moskau-Leningrad 1936) S. 84 ff.; s. auch Lehtisalo, Tod und Wiedergeburt, S. 3 ff.; E, Emsheimer, Schamanentrommel und Trommelbaum (Ethnos, Bd. IV, 1946, S. 166-181), S. 173 ff.