DIE ERLANGUNG DER SCHAMANENKRAFT

Eine der geläufigsten Formen der Auserwählung des künftigen Schamanen ist, wie wir gesehen haben, die Begegnung mit einem göttlichen oder halbgöttlichen Wesen, das ihm durch einen Traum, eine Krankheit oder etwas anderes erscheint, ihm die Tatsache seiner «Erwählung» entdeckt und ihn veranlaßt, fortan einer neuen Lebensordnung zu folgen. Meistens sind es die Seelen schamanischer Ahnen, welche ihm die Neuigkeit mitteilen. Man hat sogar angenommen, daß die schamanische Erwählung in Beziehung zum Ahnenkult stehe. Doch wie L. Sternberg (Divine Election, S. 474 ff.) richtig gezeigt hat, müssen auch die Ahnen am Morgen der Zeiten durch ein göttliches Wesen «erwählt» worden sein. Nach buriätischer Tradition (Sternberg, S. 475) hatten in alter Zeit die Schamanen ihr utcha (das göttliche Recht der Schamanen) unmittelbar von den himmlischen Geistern; erst heutzutage empfangen sie es bloß von ihren Ahnen. Dieser Glaube fügt sich in die allgemeine Vorstellung von dem Niedergang der Schamanen ein, der in den arktischen Gegenden ebenso wie in Zentralasien belegt ist; nach dieser Vorstellung flogen die «ersten Schamanen» wirklich auf ihren Pferden durch die Wolken und wirkten Wunder, die ihre heutigen Nachkommen nicht zu wiederholen im Stande sind 1.

Sibirische Mythen vom Ursprung der Schamanen

Gewisse Legenden erklären den gegenwärtigen Tiefstand der Schamanen aus dem «Hochmut» des «ersten Schamanen», der mit Gott in Wettstreit getreten sei. Als nach der burjatischen Version der erste 

Schamane, Khara-Gyrgän, seine Macht für unbegrenzt erklärt hatte, wollte Gott ihn auf die Probe stellen; er nahm die Seele eines jungen Mädchens und schloß sie in eine Flasche. Um sicher zu sein, daß die Seele nicht entkommen konnte, verstopfte Gott die Flasche mit dem Finger. Der Schamane flog auf seinem Tamburin sitzend in die Himmel, bemerkte die Seele des jungen Mädchens, verwandelte sich, um sie zu befreien, in eine Spinne und stach Gott ins Gesicht. Dieser zog seinen Finger heraus und die Seele des jungen Mädchens entkam. Gott wurde wütend und begrenzte die Macht Khara-Gyrgäns, und in der Folge ging die Zauberkraft der Schamanen bedeutend zurück2.

Nach der jakutischen Überlieferung besaß der «erste Schamane» außerordentliche Macht und weigerte sich in seinem Stolz, den obersten Gott der Jakuten anzuerkennen. Der Körper dieses Schamanen bestand aus einer Menge Schlangen. Gott schickte Feuer, um ihn zu verbrennen, aber aus den Flammen ging eine Kröte hervor; aus diesem Tier wurden die «Dämonen», welche den Jakuten hervorragende Schamanen und Schamaninnen lieferten3. Die Turukan-Tungusen haben eine andere Legende: Der «erste Schamane» hat sich selbst gemacht, aus eigener Kraft und mit Hilfe des Teufels. Er entflog durch das Loch der Jurte und kam nach einiger Zeit in Begleitung von Schwänen wieder4.

Wir haben es hier mit einer dualistischen Vorstellung zu tun, die wahrscheinlich iranische Einflüsse zeigt. Es ist auch durchaus möglich, daß diese Art von Legenden sich mehr auf den Ursprung der «schwarzen Schamanen» bezieht, die nur mit der Unterwelt und dem «Teufel» in Beziehung stehen. Aber die meisten von diesen Ursprungsmythen lassen das Höchste Wesen selber oder als seinen Vertreter den Adler, den Sonnenvogel, auftreten.

So erzählen die Buriäten: Im Anfang gab es nur die Götter (lengri) im Westen und die Bösen Geister im Osten. Die Götter erschufen den Menschen und dieser lebte glücklich bis zu dem Augenblick, wo die bösen Geister die Krankheit und den Tod auf der Erde ausbreiteten. Die Götter beschlossen, den Menschen einen Schamanen zu geben, der gegen die Krankheit und den Tod kämpfen sollte, und sie schickten den Adler. Aber die Menschen verstanden seine Sprache nicht; außerdem hatten sie kein Zutrauen zu einem gewöhnlichen Vogel. Der Adler kehrte zu den Göttern zurück und bat sie, ihm die Gabe des Wortes zu verleihen oder aber einen buriätischen Schamanen zu den Menschen zu schicken. Die Götter schickten ihn wieder herunter mit dem Befehl, der ersten Person, der er auf Erden begegne, die Gabe des Schamanisierens zu verleihen. Wieder auf der Erde angekommen, bemerkte der Adler eine Frau, die neben einem Baum eingeschlafen war, und vereinigte sich mit ihr. Nach einiger Zeit brachte die Frau einen Sohn zur Welt und dieser wurde der «erste Schamane». Nach einer anderen Variante konnte die Frau infolge ihrer Beziehungen zu dem Adler die Geister sehen und wurde selbst Schamanin 5.

Aus diesem Grund wird in anderen Legenden das Erscheinen eines Adlers als ein Zeichen schamanischer Berufung gedeutet. Ein buriäti-sches Mädchen sah eines Tages einen Adler, der Lämmer stahl, verstand das Zeichen und war gezwungen Schamanin zu werden. Seine Initiation dauerte sieben Jahre; nach seinem Tode wurde es sajan («Geist», «Idol») und fuhr fort, die Kinder vor bösen Geistern zu beschützen *.

Auch bei den Turushansker Jakuten gilt der Adler als der Schöpfer des ersten Schamanen. Doch der Adler trägt auch den Namen des höchsten Wesens, Ajy (der «Schöpfer») oder Ajy tojen (der «Schöpfer des Lichtes»). Die Kinder Ajy tojens werden als Vogelgeister dargestellt, die auf den Zweigen des Weltenbaumes sitzen; im Wipfel befindet sich der Adler mit zwei Köpfen, Tojon Kötör («der Herr der Vögel»), welcher wahrscheinlich Ajy tojen selbst verkörpert ’. Die Jakuten wie 5 Agapitov und Changalov, Materialy, S. 41 f.; Mikhailowski, S. 64; Harva, Die religiösen Vorstellungen der allai sehen Völker, S. 465 f. Eine ähnliche Mythe ist bei den Pondo in Südafrika bezeugt; s. W. J. Petty, The primordial Ocean (London 1955),

S. 143 f.

6 Garma Sandschejew, IVellanscbauung und Schamanismus der Alaren-Burjäten, S. 605.

7 Leo Sternberg, Der Adlerkuli bei den Völkern Sibiriens. Vergleichende Folklore-Studie (Archiv für Religionswissenschaft 28, 1930, S. 125-153). Vgl. die analogen Vorstellungen bei den Ket oder Jenissei-«Ostjaken», s. B. D. Shimkin, A sketch of the Ket, or Yenttsei Ostyak (Ethnos IV, 1939, S. 147-176), S. 160 ff.

übrigens eine Anzahl anderer sibirischer Völker setzen eine Beziehung zwischen dem Adler und den heiligen Bäumen, besonders der Birke. Als Ajy tojen den Schamanen erschuf, pflanzte er gleichzeitig in seiner himmlischen Wohnung eine Birke mit acht Ästen und auf diesen Ästen Nestern, in denen die Kinder des Schöpfers waren. Außerdem pflanzte er drei Bäume auf der Erde; zur Erinnerung an sie besitzt auch der Schamane einen Baum, von dessen Leben er in gewisser Weise abhängt1. Es wurde schon erwähnt, daß in den schamanischen Initiationsträumen der Kandidat zum Weltenbaum gebracht wird, in dessen Wipfel sich der Herr der Welt befindet. Zuweilen wird das Höchste Wesen in Gestalt eines Adlers vorgestellt und zwischen den Zweigen des Baumes befinden sich die Seelen der künftigen Schamanen (vgl. Emshei-mer, Schamanentrommel und Trommelbaum, S. 174). Wahrscheinlich hat dieses mythische Bild einen altorientalischen Prototyp.

Bei den Jakuten wird der Adler immer auch in Beziehung zu den Schmieden gebracht, denen ja derselbe Ursprung zugeschrieben wird wie den Schamanen (Sternberg, Adlerkult, S. 141). Nach den Jennissej-Ostjaken, den Teleuten, Orotschen und noch anderen sibirischen Völkern wurde der erste Schamane von einem Adler gezeugt oder zum mindesten durch einen Adler in seiner Kunst unterrichtet9.

Erinnern wir uns an die Rolle des Adlers in den Berichten über scha-manische Initiationen (S. 47 ff.) und die vogelgestaltigen Elemente der Schamanentracht, welche den Schamanen auf magische Weise in einen Adler verwandeln (S. 157). Diese Konstellation offenbart einen komplexen Symbolismus, der sich um ein himmlisches göttliches Wesen und um die Idee des magischen Flugs zum Zentrum der Welt (= Weltenbaum) kristallisiert und dem wir in der Folge noch öfter begegnen werden. Aber schon jetzt muß betont werden, daß die Rolle der Ahnen bei der Auserwählung eines Schamanen nicht so groß ist wie man glauben möchte. Die Ahnen sind nur die Abkommen jenes mythischen «ersten Schamanen», welcher unmittelbar von dem Höchsten Wesen geschaffen wurde, dessen Solarisierung sich in seiner Adlergestalt zeigt. Die scha-manische Berufung durch die Seelen der Ahnen ist manchmal nur die Weitergabe einer übernatürlichen Botschaft, des Erbes aus einem mythischen illud tempus.

Schamanische Berufung bei den Golden und Jakuten

Die Golden machen eine deutliche Unterscheidung zwischen dem Schutzgeist (äyami), der den Schamanen wählt, und den Hilfsgeistern (sywén), die ihm untergeordnet sind und die ihm die äyami selbst gegeben hat (Sternberg, The divine election, S. 475). Nach Sternberg erklärten die Golden die Beziehungen zwischen dem Schamanen und seiner äyami als einen sexuell-emotionalen Komplex. So berichtet ein goldischer Schamane (der Anfang seines Bekenntnisses wurde bereits im ersten Kapitel, S. 37f., wiedergegeben):

«Eines Tages schlief ich auf meinem Schmerzenslager, als sich mir ein Geist näherte. Es war eine sehr schöne Frau, winzig klein, nicht größer als ein halber arshin (71 cm). An Gesicht und Schmuck glich sie ganz und gar einer von unsern goldischen Frauen. Die Haare gingen in kleinen schwarzen Zöpfen auf die Schultern herab. Manche Schamanen sagen, sie hätten die Vision einer Frau mit halb schwarzem, halb rotem Gesicht gehabt. Sie sagte zu mir: ,Ich bin die äyami deiner Ahnen, der Schamanen. Ich habe sie das Schamanisieren gelehrt, jetzt werde ich es dich lehren. Die alten Schamanen sind einer nach dem andern gestorben und es gibt niemand mehr, der die Kranken heilt. Du wirst Schamane werden.’ Dann fuhr sie weiter: ,Ich liebe dich. Du wirst mein Mann sein, denn ich habe keinen jetzt, und ich werde deine Frau sein. Ich werde dir Geister geben, die dir in der Heilkunst helfen werden; ich werde dich heilen lehren und dir selber dabei helfen. Die Leute werden uns zu essen bringen.' Ich war bestürzt und wollte Widerstand leisten. .Wenn du mir nicht gehorchen willst', sagte sie, ,dann umso schlimmer für dich. Ich werde dich töten.'

Und nun kam sie immerfort zu mir; ich schlafe mit ihr wie mit meiner eigenen Frau, aber wir haben keine Kinder. Sie lebt ganz allein, ohne Eltern, in einer Hütte, die auf einem Berg liegt. Doch wechselt sie ihren Wohnort oft. Manchmal erscheint sie in Gestalt einer alten Frau oder eines Wolfs und man kann sie nicht ohne Schrecken anschauen. Andere Male wieder nimmt sie das Aussehen eines geflügelten Tigers an und trägt mich fort, um mir verschiedene Gegenden zu zeigen. Ich habe Berge gesehen, wo nur alte Männer und Frauen wohnen, und Dörfer, wo es nur ganz junge Männer und Frauen gibt. Sie gleichen den Golden und sprechen ihre Sprache; manchmal werden sie in Tiger verwandelt2. Zur Zeit kommt meine äyami weniger oft zu mir als früher. In der Zeit, wo sie mich unterwies, kam sie jede Nacht. Sie hat mir drei Helfer gegeben, den jarga (Panther), den doonto (Bär) und den amba (Tiger). Sie besuchen mich im Traum und erscheinen mir, sooft ich sie beim Schamanisieren herbeirufe. Wenn einer von ihnen nicht kommen will, zwingt die äyami sie dazu, aber es soll welche geben, die sogar ihren Befehlen Widerstand leisten. Wenn ich schamanisiere, bin ich von der äyami und den Hilfsgeistern besessen; sie durchdringc-n mich wie Rauch oder Feuchtigkeit. Wenn die äyami in mir ist, spricht sie durch meinen Mund und lenkt alles. Ebenso wenn ich die sukdu (Opfergaben) esse oder Schweineblut trinke (nur der Schamane hat das Recht davon zu trinken, die Profanen dürfen es nicht einmal berühren), bin nicht ich es, der ißt und trinkt, sondern meine äyami allein...» (Sternberg, a. a. O., S. 476 ff.).

Ohne Zweifel spielen in dieser schamanischen Autobiographie die sexuellen Elemente eine wichtige Rolle. Aber es ist zu beachten, daß die äyami ihren «Gatten» nicht einfach dadurch zum Schamanisieren fähig macht, daß sie geschlechtliche Beziehungen mit ihm unterhält; erst die geheime Unterweisung, die sie ihm in langen Jahren und auf den ekstatischen Reisen ins Jenseits erteilt, ändert das religiöse Leben des «Gatten» und bereitet ihn nach und nach auf seine Funktion als Schamane vor. Wie wir sogleich sehen werden, kann jeder Mensch Beziehungen zu den Geisterfrauen haben, ohne deswegen die religiösmagischen Kräfte der Schamanen zu erlangen.

Sternberg dagegen sieht das primäre Element des Schamanismus in der geschlechtlichen Erregung, zu der dann der Gedanke der erblichen Weitergabe der Geister hinzugekommen sei (a.a.O., S. 480). Er erwähnt noch mehrere andere Züge, die alle seine Interpretation stützen sollen: Eine Sdiamanin, welche Shirokogorov beobachtete, verspürte bei den Initiationsproben sexuelle Erregungen; der rituelle Tanz des goldischen Schamanen, wenn er seine äyami nährt (die währenddem in ihn eindringt), habe sexuellen Sinn; in der jakutischen Folklore, die Trostschansky erforscht hat, ist immer von jungen Himmelsgeistern die Rede (Kinder der Sonne, des Mondes, der Plejaden usw,), welche auf die Erde herabsteigen und sterbliche Frauen heiraten usw. Keiner von diesen Zügen scheint uns entscheidend; im Fall der von Shirokogorov bobachteten Schamanen und des goldischen Schamanen sind die sexuellen Erregungen deutlich sekundär, wenn nicht Abirrungen, denn zahlreiche andere Beobachtungen wissen von diesen erotischen Trancen gar nichts, und die jakutische Folklore bringt einen allgemeinen Volksglauben, welcher in keiner Weise unser Problem löst, das da lautet: Warum sind unter so vielen von Himmelsgeistern «Besessenen» nur einige zu Schamanen berufen? Es hat nicht den Anschein, als ob die geschlechtlichen Beziehungen zu den Geistern das wesentliche und entscheidende Element der schamanischen Berufung bildeten. Doch Sternberg bringt auch unveröffentlichte Informationen über die Jakuten, Bu-riäten und Teleuten, die schon an sich von großem Interesse sind, so daß wir uns kurz bei ihnen aufhalten müssen.

Nach seiner Quelle, der Jakutin N. M. Sliepzova, dringen die abassy, junge Männer und Mädchen, in den Körper junger Leute des anderen Geschlechts ein, versetzen sie in Schlaf und sie lieben sich. Die jungen 

Leute, die von den abassy besucht werden, nähern sich nicht mehr den jungen Mädchen und mehrere von ihnen bleiben Junggesellen für den Rest ihres Lebens. Liebt eine abassy einen verheirateten Mann, so wird er impotent mit seiner Frau. All dies, schließt die Sliepzova, geschieht allgemein bei den Jakuten; also müßte dasselbe sich auch bei den Schamanen ereignen.

Doch bei diesen handelt es sich noch um Geister anderer Ordnung. «Die Herren und Herrinnen der abassy in der Ober- oder Unterwelt», schreibt die Sliepzova, «erscheinen dem Schamanen im Traum, treten aber nicht selber mit ihm in geschlechtliche Beziehungen; das bleibt ihren Söhnen und Töchtern Vorbehalten» (ebd., S. 482). Dieses Detail ist wichtig und zwar spricht es gegen Sternbergs Hypothese vom erotischen Ursprung des Schamanismus, denn eben nach dem Zeugnis der Sliepzova wird die Berufung des Schamanen durch die Erscheinung himmlischer oder unterweltlicher Geister und nicht durch die von den abassy hervorgerufene sexuelle Erregung entschieden. Die geschlechtlichen Beziehungen mit ihnen folgen erst auf die Weihe des Schamanen, die durch das ekstatische Sehen der Geister geschieht.

Im übrigen sind, wie die Sliepzova selbst bemerkt, geschlechtliche Beziehungen junger Leute zu den Geistern bei den Jakuten ziemlich häufig; sie sind es ebenso bei vielen anderen Völkern, ohne daß man deshalb sagen dürfte, daß sie in einem so komplexen religiösen Phänomen wie dem Schamanismus das primäre Erlebnis bilden. In Wirklichkeit spielen die abassy im jakutischen Schamanismus eine sekundäre Rolle; wenn - nach den Angaben der Sliepzova - ein Schamane von einer abassy und Beziehungen zu ihr träumt, so erwacht er gut gestimmt, sicher, daß er an diesem Tag zur Konsultation gerufen wird und auch sicher, daß er Erfolg hat; sieht er dagegen im Traum die abassy voll Blut und die Seele des Kranken verschlingend, so weiß er, daß der Kranke nicht davonkommen wird, und wird er am nächsten Tag zu ihm gerufen, so tut er was er kann um sich zu verbergen. Wird er aber gerufen ohne einen Traum gehabt zu haben, so ist er ratlos und weiß nicht was tun (ebd., S. 483).

Die Auserwählung hei den Buriälen und Teleulen

Bezüglich des buriätischen Schamanismus ist Sternberg von den Informationen eines seiner Schüler, A. N. Mikhailof, abhängig, der selber Buriät ist und früher an schamanischen Zeremonien teilgenommen hat (S. 485 ff.). Nach ihm beginnt die Laufbahn des Schamanen mit der Botschaft eines schamanischen Ahnen, der dann die Seele des Kandidaten in den Himmel bringt, um ihn zu unterrichten. Unterwegs verweilen sie bei den Göttern der Mitte der Welt, nämlich Tekha Shara Matzkala, dem Gott des Tanzes, der Fruchtbarkeit und des Reichtums, und den neun Töchtern Solbonis, des Gottes der Morgenröte, mit welchen er lebt. Das sind spezifisch schamanische Gottheiten und nur die Schamanen bringen ihnen Opfer dar. Die Seele des jungen Kandidaten tritt in Liebesbeziehungen mit den neun Gattinnen Tekhas. Wenn die schamanische Unterweisung beendet ist, begegnet die Seele des Schamanen im Himmel seiner künftigen himmlischen Gattin und tritt auch mit ihr in Beziehungen. Zwei oder drei Jahre nach diesem ekstatischen Erlebnis findet die eigentliche Initiationszeremonie statt, die einen Aufstieg zum Himmel enthält und der ein dreitägiges ziemlich ausgelassenes Fest folgt. Vor dieser Zeremonie besucht der Kandidat alle benachbarten Dörfer und erhält Geschenke von hochzeitlicher Bedeutung. Der Baum, der zur Initiation dient und dem Baum im Haus von Neuvermählten gleicht, repräsentiert nach Mikhailof das Leben der himmlischen Gattin, und der Strick, der diesen in der Jurte gepflanzten Baum mit dem Baum des Schamanen auf dem Hof verbindet, wäre das Sinnbild der hochzeitlichen Vereinigung des Schamanen mit seiner Geisterfrau. Der schamanische Initiationsritus der Buriäten bedeutet - immer nach Mikhailof - die Hochzeit des Schamanen mit seiner himmlischen Braut. Und Sternberg erinnert daran, daß bei der Initiation getrunken, getanzt und gesungen wird ganz wie bei einer Hochzeit (S. 487).

Das alles mag wahr sein, doch es erklärt nicht den buriätischen Schamanismus. Wie wir gesehen haben, enthält die Auserwählung des Schamanen bei den Buriäten wie überall sonst ein ziemlich komplexes ekstatisches Erlebnis, bei dem der Kandidat gefoltert, in Stücke geschnitten, getötet und zum Schluß wieder auferweckt wird. Einzig und allein dieser Initiationstod und diese Auferstehung vermögen einen Schamanen zu weihen. Die Unterweisung durch die Geister und die alten Schamanen vervollständigt dann diese erste Weihe. Die Initiation im eigentlichen Sinn, auf welche wir im folgenden Kapitel zurückkommen werden, besteht in der triumphalen Himmelsreise. Daß die Volksbelustigungen bei dieser Gelegenheit denen bei der Hochzeit gleichen, ist natürlich, denn die Möglichkeiten kollektiver Belustigungen sind bekanntlich nicht zahlreich. Doch die Rolle der Himmlischen Gattin scheint sekundär zu sein; sie geht nicht über die Rolle einer Inspirierenden und einer Helferin hinaus. Wir werden sehen, daß diese Rolle auch noch durch andere Tatsachen verständlich gemacht werden kann.

Auf Grund des Materials V. A. Anochins über den teleutischen Schamanismus sagt Anochin (S. 487), daß jeder teleutische Schamane eine himmlische Gattin hat, die im Siebten Himmel wohnt. Auf seiner ekstatischen Reise zu Olgän begegnet der Schamane seiner Frau und sie ladet ihn ein, bei ihr zu bleiben; sie hat dafür auserlesene Gerichte vorbereitet: «Mein Gatte, junger kam (sagt sie zu ihm), wir setzen uns an den blauen Tisch... Komm! wir verbergen uns im Schatten des Vorhangs -und wir lieben uns und unterhalten uns!...» Sie versichert ihm, daß der Weg zum Himmel abgeschnitten ist. Doch der Schamane will ihr nicht glauben und beharrt darauf, daß er seine Auffahrt fortsetzen will: «Wir werden auf den tapty (den Sprossen des Schamanenbaumes) aufsteigen und dem Mond unsere Huldigung erweisen!...» (Anspielung darauf, daß der Schamane auf seiner Reise Station macht, um den Mond und die Sonne zu verehren). Er wird kein Gericht anrühren, bevor er wieder auf die Erde kommt. Er nennt sie «seine geliebte Gattin», und die irdische Gattin «ist nicht wert Wasser auf ihre Hände zu gießen». Der Schamane wird bei seiner Arbeit nicht nur von seiner himmlischen Gattin, sondern noch von anderen Geisterfrauen unterstützt. Im Vierzehnten Himmel befinden sich die neun Töchter Ulgäns; sie verleihen dem Schamanen seine magischen Kräfte (glühende Kohlen zu verschlingen usw. ). Wenn ein Mensch stirbt, steigen sie auf die Erde herab, nehmen seine Seele und tragen sie in die Himmel.

An diesen teleutischen Auskünften sind mehrere Einzelheiten bemerkenswert. Die Episode von der himmlischen Gattin, welche ihren Mann zum Essen einladet, erinnert an das wohlbekannte mythische Thema von der Mahlzeit, die die Geisterfrauen des Jenseits einem jeden Sterblichen anbieten, der durch ihr Gebiet kommt, um ihn das irdische 

Leben vergessen zu machen und ihn für immer in ihre Gewalt zu bekommen; das gilt für die Halbgöttinnen wie für die Feen des Jenseits. Der Dialog des Schamanen mit seiner Gattin bildet einen Teil eines langen und komplexen dramatischen Szenarios, auf das wir noch zurückkommen, und ist in keinem Fall für wesentlich zu halten. Das wesentliche Element einer jeden schamanischen Auffahrt ist, wie wir später sehen werden, der Schlußdialog mit Ülgan. Der Dialog mit der Gattin ist eben ein recht lebendiges dramatisches Element, geeignet, die Anwesenden bei der manchmal eher monotonen Sitzung zu interessieren. Nichtsdestoweniger behält er seine ganze Tragweite für die Initiation. Daß der Schamane eine himmlische Gattin besitzt, die ihm im Siebten Himmel Mahlzeiten bereitet und mit ihm schläft, ist wiederum ein Beweis dafür, daß er in gewisser Weise an der Natur der halbgöttlichen Wesen teilhat, daß er ein Heros ist, der Tod und Auferstehung erfahren hat und sich deshalb einer zweiten Existenz in den Himmeln erfreut.

Sternberg (S. 488) zitiert noch eine Urankhai-Legende über den ersten Schamanen, Bo-Khan. Dieser liebte ein himmlisches Mädchen. Als die Fee entdeckte, daß er verheiratet war, ließ sie ihn und seine Frau von der Erde verschlungen werden. Darauf brachte sie einen Knaben zur Welt, den sie unter einer Birke aussetzte, die ihn mit ihrem Saft ernähren sollte. Von diesem Kind stammt die Rasse der Schamanen (Bö-Khâ-näkn).

Das Motiv der Feengattin, die ihren Mann verläßt, nachdem sie ihm einen Sohn geschenkt hat, ist allgemein verbreitet. Manchmal sind diese Peripetien in der Suche des Gatten nach der Fee Reflexe von Initiationsszenarios (Aufstieg zum Himmel, Abstieg in die Unterwelt usw.) Die Eifersucht der Feen auf die irdischen Frauen ist ebenfalls ein ziemlich häufiges Thema in Mythen und Folklore: Die Nymphen, Feen und Halbgöttinnen sind auf das Glück der irdischen Gattinnen neidisch und 

stehlen oder töten ihre Kinder12. Auf der anderen Seite gelten sie als die Mütter, Gattinnen oder Erzieherinnen der Heroen, das heißt derjenigen unter den Menschen, denen es gelingt das menschliche Los zu übersteigen und wenn auch nicht göttliche Unsterblichkeit, so doch ein privilegiertes Schicksal nach dem Tod zu erreichen. Eine große Anzahl von Mythen und Legenden zeugen für die wesentliche Rolle, welche eine Fee, eine Nymphe oder eine halbgöttliche Frau in den Abenteuern der Heroen spielt; sie unterweist sie, hilft ihnen bei ihren Proben (die oft Initiationsproben sind) und entdeckt ihnen die Mittel, sich des Symbols der Unsterblichkeit oder des langen Lebens (des wunderbaren Krauts, der Wunderäpfel, des Jungbrunnens) zu bemächtigen. Es ist das Thema eines wichtigen Sektors der «Mythologie der Frau», daß es immer ein weibliches Wesen ist, welches dem Heros hilft die Unsterblichkeit zu erlangen und als Sieger aus seinen Initiationsproben hervorzugehen.

Es ist hier für eine Diskussion dieses mythischen Motivs nicht der Ort, aber sicherlich haben sich in ihm die Spuren einer späten matriarchalischen Mythologie erhalten, der schon die Zeichen der «maskulinen» (heroischen) Reaktion gegen die Allmacht der Frau (= Mutter) anzumerken sind. In gewissen Varianten ist die Rolle der Fee bei der Suche des Helden nach der Unsterblichkeit kaum der Rede wert; so bleibt die Nymphe Siduri, von der in den archaischen Versionen der Gilgamesch-Legende der Heros die Unsterblichkeit verlangt hat, im klassischen Text unerwähnt. Manchmal nimmt der Held, obwohl eingeladen den seligmachenden Zustand der halbgöttlichen Frau und damit ihre Unsterblichkeit zu teilen, nur widerwillig diese Seligkeit an und sucht sich so schnell als möglich zu befreien, um wieder zu seiner irdischen Frau und seinen Gefährten zu kommen (Odysseus und die Nymphe Kalypso). Die Liebe einer solchen Halbgöttin wird für den Helden oft mehr ein Hindernis als eine Hilfe.

Die weiblichen Schulzgeister des Schamanen

In einen ähnlichen mythischen Horizont gilt es die Beziehungen der Schamanen zu ihren «himmlischen Gattinnen» zu stellen: Nicht sie weihen eigentlich den Schamanen, aber sie helfen ihm bei seiner Unterweisung oder seinem ekstatischen Erleben. Natürlich ist manches Mal das Auftreten der «himmlischen Gattin» in dem mystischen Erlebnis des Schamanen von geschlechtlichen Erregungen begleitet; ein jedes ekstatische Erlebnis unterliegt solchen Abirrungsmöglichkeiten, und wir kennen die engen Beziehungen zwischen der mystischen und der fleischlichen Liebe zu gut, um uns über den Mechanismus dieses Niveauwechsels zu täuschen. Auf der anderen Seite darf man nicht vergessen, daß die in den schamanischen Riten vorhandenen erotischen Elemente über die Beziehungen Schamane - «himmlische Gattin» hinausgehen. Bei den Kumandinen der Gegend von Tomsk gehört zum Pferdeopfer auch das Zeigen von Masken und Holzphallen, die drei junge Leute tragen; sie galoppieren mit dem Phallus zwischen den Beinen «wie ein Hengst» und berühren die Anwesenden. Das Lied, das dabei angestimmt wird, ist unverkennbar erotisch13. Wenn bei den Teleuten der Schamane bei der Ersteigung des Baums auf die dritte tapty kommt, verlassen Frauen, junge Mädchen und Kinder den Platz und der Schamane beginnt ein obszönes Lied, das dem der Kumandinen gleicht: Zweck ist die sexuelle Stärkung der Männer (Zelenin, a. a. O., S. 91). Dieser Ritus hat Parallele^ Kaukasus, Altchina, Amerika usw.; vgl. Zelenin, S. 94 ff.) und sein Sinn ist umso ausdrücklicher, als er zum Pferdeopfer gehört, dessen kosmologische Funktion (Erneuerung von Welt und Leben) bekannt ist14..

13 D. Zelenin, Ein erotischer Ritus in Jen Opferungen der altaischen Türken (Intern. Archiv für Ethnologie. Bd. 29, 1928, S. 83-98), S. 88 f.

14 Über die sexuellen Elemente des a(camedha und anderer ähnlicher Riten s. P. Dumont, L’alramedha (Paris 1927), S. 276 if.; W. Köppers, Pferdeopfer und Pferde-huit der Indogermanen (Wiener Beiträge zur Kulturgeschichte und Linguistik, 4. Bd., Satzburg-Leipzig 1936, S. 279-411), S. 344 ff., 401 ff. Hier wäre noch auf einen anderen schamanischen Fruchtbarkeitsritus hinzuweisen, welcher sich auf einem ganz anderen religiösen Niveau vollzieht. Die Jakuten verehren eine Fruchtbarkeits- und Fortpnan-Zungsgöttin Aisyt. die im Osten wohnt, in dem Teil des Himmels, wo die Sonne im Sommer auf geht. Ihre Feste finden im Frühling und Sommer statt und gehören in den Bereich spezieller «Sommerschamanen» (saingy) oder «weißer Schamanen». Aisyt wird 

Um auf die Rolle der «himmlischen Gattin» zurückzukommen: Es ist bemerkenswert, daß wie der Held bei den erwähnten späten Mythenvarianten, so auch der Schamane durch seine áyami ebenso belästigt wie gefördert wird. Sie beschützt ihn zwar, will ihn aber für sich allein im Siebten Himmel behalten und stellt sich der Fortsetzung seiner Himmelfahrt in den Weg. Sie versucht ihn außerdem mit einer himmlischen Mahlzeit, was den Schamanen seiner irdischen Frau und der menschlichen Gesellschaft entreißen könnte.

So spielt der Schutzgeist (áyami usw.), auch in Gestalt einer himmlischen Gattin (oder eines Gatten) vorgestellt, im sibirischen Schamanismus eine wichtige, aber nicht die entscheidende Rolle. Das entscheidende Element ist, wie wir gesehen haben, das Initiationsdrama von rituellem Tod und Auferstehung (Krankheit, Zerstückelung, Abstieg in die Unterwelt, Aufstieg in die Himmel usw.). Die geschlechtlichen Beziehungen zu seiner áyami, die man dem Schamanen zuschreibt, sind nicht konstitutiv für seine ekstatische Berufung, denn einerseits ist die sexuelle Traumbesessenheit durch «Geister» nicht auf die Schamanen beschränkt, andererseits gehen die sexuellen Elemente gewisser scha-manischer Zeremonien über die Beziehungen zwischen Schamane und áyami hinaus und gehören in den Zusammenhang der bekannten Rituale, die der Vermehrung der geschlechtlichen Kraft in der Gemeinschaft dienen.

Das Schutzverhältnis zwischen dem sibirischen Schamanen und seiner äyami entspricht, wie wir gesehen haben, der Rolle der Feen und Halbgöttinnen bei der Unterrichtung und Initiation der Heroen. Diese «Protektion» spiegelt zweifellos matriarchalische Vorstellungen wieder. Die «Große Mutter der Tiere», zu welcher der sibirische und arktische Schamane die besten Beziehungen hat, ist ein noch deutlicheres Bild archaischen Matriarchats. Es besteht Grund zu der Annahme, daß diese Große Mutter der Tiere sich in einem bestimmten Moment an die Stelle eines Höchsten Himmelswesens gesetzt hat, doch diese Frage über-angerufen um Kinder, besonders um Knaben. Der Schamane eröffnet singend und trommelnd die Prozession von neun jungen Männern und neun Jungfrauen, die sich an den Händen halten und im Chor singen. -Der Schamane zeigt so den Weg zum Himmel und führt dorthin die jungen Paare, doch die Diener Aisyts sind an den Toren, mit silbernen Peitschen bewaffnet; alle Verdorbenen, Bösen, Gefährlichen stoßen sie zurück; auch die läßt man nicht ein, die zu früh ihre Unschuld verloren haben» (Siero-szewski, Du chamanisme d'après les croyances des Yakoutes, S. 536 f.).

schreitet unser Thema Hier genüge ein Hinweis: Ganz wie die Große Mutter der Tiere den Menschen - und speziell den Schamanen - das Recht verleiht, die Tiere zu jagen und sich von ihrem Fleisch zu nähren, geben die «weiblichen Schutzgeister» den Schamanen die Hilfsgeister, die ihnen für ihre ekstatischen Reisen in gewisser Beziehung unentbehrlich sind.

Die Rolle der Seelen der Toten

Wir haben gesehen, daß die Berufung des künftigen Schamanen - im Traum, in der Ekstase oder während einer Krankheit - durch die zufällige Begegnung mit einem halbgöttlichen Wesen, der Seele eines Ahnen, einem Tier oder auch durch ein ungewöhnliches Ereignis (Blitz, tödlicher Unfall usw.) ausgelöst sein kann. Im allgemeinen eröffnet diese Begegnung eine «Vertrautheit» zwischen dem künftigen Schamanen und dem «Geist,» der seine Laufbahn bestimmt hat; sie wird uns später noch beschäftigen. Zunächst wollen wir den Anteil der Seelen der Toten bei der Heranziehung der künftigen Schamanen näher ins Auge fassen. Wie wir gesehen haben, ergreifen häufig die Seelen der Ahnen von einem jungen Mann «Besitz» und schreiten zu seiner Initiation. Jeder Widerstand ist nutzlos. Dieses Phänomen der Vorauserwählung ist im nördlichen und arktischen Asien allgemein

Einmal durch diese erste «Besitzergreifung» und die darauf folgende Initiation geweiht, wird der Schamane ein Sammelplatz auch für unbeschränkt viele andere Geister; doch sind es immer die Seelen verstor-benet Schamanen oder von «Geistern», die früheren Schamanen gedient haben. Der berühmte jakutische Schamane Tüspüt erzählte Sieroszewski: «Eines Tages, als ich auf den Bergen herumirrte, dort unten gegen Norden, verhielt ich neben einem Holzhaufen, um mir mein Essen zu kochen. Ich setzte den Haufen in Brand, aber darunter war ein tungu-sischer Schamane begraben. Sein Geist hat sich meiner bemächtigt» (Du chamanisme, S. 314). Das war der Grund dafür, daß Tüspüt bei seinen Sitzungen tungusische Worte sprach. Aber er nahm auch andere Geister auf, Russen, Mongolen usw., und sprach ihre Sprache17.

Die Rolle der Seelen der Toten bei der Auserwählung des künftigen Schamanen ist auch außerhalb Sibiriens bedeutend. Ihre Funktion im nordamerikanischen Schamanismus werden wir sogleich untersuchen. Die Eskimos, die Australier, auch andere schlafen, wenn sie Medizinmänner werden wollen, in der Nähe von Gräbern, und dieser Brauch hat sich sogar bei historischen Völkern erhalten (z. B. den Kelten ). In Südamerika ist die Initiation durch die verstorbenen Schamanen wenn auch nicht allgemein, so doch ziemlich häufig. «Die Bororo-Schamanen werden, ob sie nun zur aroettawataare- oder zur bari-Klasse gehören, durch die Seele eines Toten oder einen Geist auserwählt. Bei den aroetta-waraare geht die Offenbarung so vor sich: Der Auserwählte geht im Wald spazieren und sieht auf einmal einen Vogel sich in Griffweite niedersetzen und sofort wieder verschwinden. Flüge von Papageien steigen vom Himmel zu ihm herab und verschwinden wie durch Zauber. Der künftige Schamane kehrt heim, zitternd und unverständliche Worte sprechend. Von seinem Körper geht ein Geruch von Fäulnis18 und Orlean aus. Auf einmal läßt ein Windstoß ihn stolpern und er sinkt hin wie tot. In diesem Augenblick ist er der Sitz eines Geistes geworden, der durch seinen Mund spricht. Von diesem Moment an ist er ein Schamane19.

Bei den Apinayé werden die Schamanen durch die Seele eines Verwandten ausersehen, der sie mit den Geistern in Verbindung bringt, doch übertragen ihm die Geister das schamanische Wissen und Können. 17 Derselbe Glaube bei den Tungusen und Golden, s. Harva, Rel. Vorstell., S. 463. Ein Haida-Schamane, der von einem Tlingit-Geist besessen ist, spricht tlingit, obwohl er es sonst nicht kann (Swanton, zitiert bei Webster, Magic, S. 213).

18 Er ist also rituell schon ein «Toter».

19 A. Métraux, Le shamanisme chez les Indiens Je l'Amérique du Sud troticale S. 203.

Bei anderen Stämmen wird man durch ein spontanes ekstatisches Erlebnis Schamane, zum Beispiel indem man in einer Vision den Planeten Mars sieht (Métraux, ebd., S. 203). Bei den Campa und den Amahuaca erhalten die Kandidaten ihren Unterricht von einem lebenden oder toten Schamanen (ebd.). «Der Schamanenlehrling bei den Conibo von Ucayali hat seine ärztliche Wissenschaft von einem Geist. Um mit ihm in Verbindung zu treten, trinkt der Schamane einen Tabaksud und raucht in einer hermetisch verschlossenen Hütte soviel als er kann» (ebd., S. 204). Der Cashinawa-Kandidat wird im Busch unterrichtet; die Seelen geben ihm die nötigen magischen Substanzen und impfen sie ihm in den Körper ein. Die Yaruro-Schamanen werden von ihren Göttern unterrichtet, wenn sie auch die eigentliche Technik von den anderen Schamanen erlernen. Doch halten sie sich nicht eher für ausübungsfähig, als sie im Traum einem Geist begegnet sind» (ebd. 204 f.). «Im Stamm der Apapocuvá-Guarani wird man einzig durch die Kenntnis von Zauberliedern Schamane, die einem im Traum von einem verstorbenen Verwandten gelehrt werden» (ebd., S. 205). Doch woher auch die Offenbarung gekommen ist, alle diese Schamanen praktizieren nach den traditionellen Vorschriften ihres Stammes. «Sie handeln also nach Regeln und Techniken, welche sie nur erwerben konnten, indem sie bei erfahrenen Männern in die Schule gingen», schließt Métraux (S. 205). Das bestätigt sich auch für jeden anderen Schamanismus. Wenn die Seele des verstorbenen Schamanen beim «Ausschlüpfen» der schamanischen Berufung überhaupt eine wichtige Rolle spielt, so nur, indem sie den Kandidaten auf spätere Offenbarungen vorbereitet. Die Seelen der verstorbenen Schamanen bringen ihn in Verbindung mit den Geistern oder tragen ihn in den Himmel (vgl. Sibirien, Altai, Australien usw.). Diesen ersten ekstatischen Erlebnissen folgt übrigens eine Unterweisung durch alte Schamanen20. Bei den Selk'nam zeigt sich die spontane Berufung durch das seltsame Benehmen des jungen Mannes: er singt im Schlaf usw. (Gusinde, Selk’nam, S. 779). Doch einen solchen Zustand kann man auch freiwillig erreichen; es handelt sich nur darum, die Geister zu sehen (ebd., S. 781 f.). «Die Geister sehen», im Traum oder wach, ist das entscheidende Zeichen für die schama-nische Berufung, ob sie nun spontan ist oder frei gewollt. Aus diesem 20 Vgl. M. Gusinde, Der Medizinmann bei den südamerikanischen Indianern, S 293; ders., Die Selk'nam, S. 782—786, usw.; Métraux, a. a. O., S. 206 ff.

Grund muß in ganz Südamerika21 der Schamane sterben, um die Seelen der Schamanen treffen und von ihnen unterrichtet werden zu können, denn die Toten wissen alles (Lublinski, S. 250); das ist ein allgemeiner Glaube, welcher die Mantik durch den Verkehr mit den Toten erklärt.

In ganz Südamerika bewahrt die schamanische Auserwählung oder Initiation das vollständige Schema von rituellem Tod und Auferstehen. Doch kann der Tod auch durch andere Mittel angedeutet sein, durch außerordentliche Ermüdung, Foltern, Fasten, Schläge usw. Wenn sich ein junger Jivaro Schamane zu werden entschließt, sucht er einen Meister, zahlt ihm das Honorar und verpflichtet sich zu einer außerordentlich strengen Lebensweise. Tagelang berührt er keine Nahrung und nimmt narkotische Getränke zu sich, besonders Tabaksaft (der bekanntlich bei der Initiation der südamerikanischen Schamanen eine wesentliche Rolle spielt). Zuletzt erscheint ein Geist Pasuka in Gestalt eines Kriegers vor dem Kandidaten, und unverzüglich beginnt der Meister den Lehrling zu schlagen, bis er bewußtlos zu Boden fällt. Beim Erwachen tut ihm der ganze Körper weh; die Schmerzen, die Vergiftung und die Schläge, welche die Ohnmacht hervorgerufen haben, kommen auch in etwa einem rituellen Tode gleich22.

Aus alldem geht hervor, daß die Seelen der Toten, welches auch ihre Rolle bei der Auslösung der Berufung oder Initiation des künftigen Schamanen gewesen ist, nicht durch ihre einfache Anwesenheit (Besitzergreifung oder nicht) diese Berufung schaffen, sondern dem Kandidaten den Kontakt mit den göttlichen und halbgöttlichen Wesen vermitteln (durch die ekstatischen Reisen zum Himmel und in die Unterwelt) oder den künftigen Schamanen in den Stand setzen, sich die heiligen Wirklichkeiten anzueignen, die nur den Abgeschiedenen zugänglich sind. Marcel Mauss hat das für die australischen Zauberer sehr gut ans Licht gerückt (vgl. L’origine des pouvoirs magiques, S. 144 ff.). Auch hier vermischen sich oft die Rollen der Toten und der «reinen Geister». Und mehr als das: Auch wenn der Geist des Toten selbst die Offenbarung gibt, enthält diese Offenbarung entweder den Initiationsritus der Tötung und Wiedergeburt des Kandidaten (s. das vorhergehende 

Kapitel) oder das so bezeichnend schamanische Thema der ekstatischen Himmelsreise, wo der Ahnengeist die Rolle des Seelengeleiters übernimmt, ein Thema, das schon in seiner Struktur die «Besessenheit» ausschließt. So scheint die wichtigste Funktion der Toten bei der Verleihung der Schamanenkräfte weniger darin zu liegen, daß sie von dem Menschen «Besitz ergreifen», als daß sie ihm helfen sich in einen «Toten» zu verwandeln - kurz: selbst ein «Geist» zu werden.

«Die Geister sehen»

Die außerordentliche Bedeutung der «Geisterschau» in allen Abarten schamanischer Initiationen erklärt sich aus folgendem: Einen Geist «sehen», im Traum oder wach, ist ein sicheres Zeichen dafür, daß man irgendwie einen «Geisterzustand» erreicht, also die Verfassung des profanen Menschen überstiegen hat. Deshalb verleiht bei den Men-tawei die «Vision» (der Geister), ob spontan oder durch Willensanstrengung erreicht, den Schamanen augenblicklich die magische Kraft (kerei) 23. Die Andamanen-Zauberer ziehen sich in den Dschungel zurück, um dieser «Vision» teilhaftig zu werden; die dabei nur Träume gehabt haben, erhalten nur geringere magische Kräfte24. Die dukun bei den Minangkabau auf Sumatra machen ihre Lehre in der Einsamkeit, auf einem Berge durch; hier lernen sie unsichtbar zu werden, hier glückt es ihnen, in der Nacht die Seelen der Toten zu sehen25; das bedeutet, daß sie Geister werden, daß sie Tote sind.

Ebenfalls bei den Mentawei «kann ein Mann oder eine Frau hellsehend werden, wenn sie von den Geistern körperlich emporgehoben werden. Nach der Geschichte vom jungen Sitakigagailau wurde dieser durch Himmelsgeister zum Himmel getragen, wo er einen wunderbaren Körper bekam, der dem ihren glich. Er kam auf die Erde zurück, wo er ein Hellseher war, und die Himmelsgeister halfen ihm bei seinen Kuren... Um Hellseher zu werden, müssen junge Männer und Mädchen eine Krankheit bekommen, Träume haben und eine Periode vor-23 E. M. Loeb, Shaman and Seer (American Anthropologist, 31. BtL, 1929, S. 60-89), S. 66.

24 A. R. Brown, The Andaman Islanders (Cambridge 1922), S. 177; vgl. einige andere Beispiele (Meerdajaks usw.) in dem Artikel von Loeb, Shaman and Seer, S. 64. 25 E. M. Loeb, Sumatra, S. 125.

übergehenden Wahnsinns durchmachen. Krankheit und Träume sind von den Himmels- oder Dschungelgeistern geschickt. Der Träumer bildet sich ein, daß er zum Himmel steigt oder durch die Wälder geht und Affen sucht...26.» Darauf schreitet der Hellsehermeister zur Initiation des jungen Mannes. Sie gehen mitsammen in den Wald, um Zauberpflanzen zu pflücken; der Meister singt: «Geister des Talismans, offenbaret euch. Macht die Augen dieses Knaben hell, damit er die Geister sehen kann.» Wenn sie in das Haus des Hellsehermeisters zurückgekehrt sind, ruft dieser die Geister an: «Laß deine Augen hell werden, laß deine Augen hell werden, damit wir unsere Väter und Mütter in den unteren Himmeln sehen können.» Nach dieser Anrufung «reibt der Meister die Augen seines Schülers mit den Kräutern. Drei Tage und drei Nächte bleiben die beiden einander gegenüber und singen und läuten mit ihren Glocken. Sie nehmen keine Mahlzeit zu sich, bis die Augen des Lehrlings hellsehend geworden sind. Am Ende des dritten Tages kehren sie in den Wald zurück, um neue Kräuter zu suchen... Wenn am siebten Tag der junge Mann die Waldgeister sieht, ist die Zeremonie beendet. Im andern Fall muß diese siebentägige Zeremonie wiederholt werden» (Loeb, Shaman and Seer, S. 67 ff.).

Diese ganze lange und anstrengende Zeremonie hat den Zweck, das erstmalige, vorübergehende ekstatische Erlebnis des Zauberlehrlings (das Erlebnis der «Auserwählung») in eine dauernde Verfassung zu verwandeln, in der man «die Geister sehen», das heißt an ihrer «geisterhaften» Natur teilnehmen kann.

Die Hilfsgeister

Noch deutlicher ergibt sich das aus einer Untersuchung der übrigen «Geister»kategorien, die ebenfalls bei der Initiation des Schamanen oder bei der Auslösung seiner ekstatischen Erlebnisse eine Rolle spielen. Wie wir oben sagten, stellt sich zwischen dem Schamanen und seinen «Geistern» ein «Vertrautheits»verhältnis ein. Man nennt sie übrigens in der ethnologischen Literatur spiritus jamiliaris, Hilfsgeister oder Schutzgeister. Doch ist gut zu unterscheiden zwischen eigentlichen spi-26 Loeb, Shaman and Seer, S. 67 ff. (hier nach der französischen Übersetzung von Alfred Métraux in: Paul Radin, La religion primitive, S. 101 ff.).

ritus familiaris und einer anderen, stärkeren Kategorie von Geistern, die man Schutzherren nennt, und diese wieder sind von den göttlichen und halbgöttlichen Wesen zu trennen, welche die Schamanen bei ihren Sitzungen anrufen. Ein Schamane ist ein Mensch, der konkrete, unmittelbare Beziehungen zu der Welt der Götter und Geister hat; er sieht sie von Angesicht zu Angesicht, er spricht mit ihnen, bittet sie, fleht sie an - aber er «kontrolliert» nur eine beschränkte Anzahl von ihnen. Nicht ein jeder Gott oder Geist, der in der schamanischen Sitzung angerufen wird, ist deswegen schon ein «Vertrauter» oder «Helfer» des Schamanen. Oft ruft man die großen Götter an, so etwa bei den Al-taiern. Bevor der Schamane seine ekstatische Reise unternimmt, ladet er Jajyk Khan (den Herrn des Meeres), Kaira Khan, Bai Ülgän mit seinen Töchtern und noch andere mythische Gestalten ein (Radlov, Aus Sibirien II, S. 30 ff.). Der Schamane ruft sie an, und die G./tter, Halbgötter und Geister kommen herbei, ganz wie die vedischen Gottheiten zu dem Priester herabsteigen, wenn er sie während des Opfers anruft. Die Schamanen haben übrigens Gottheiten, die ihnen speziell zugeordnet und der übrigen Bevölkerung unbekannt sind und denen nur sie Opfer darbringen. Doch dieses ganze Pantheon steht dem Schamanen nicht zur Verfügung wie seine Hausgeister, und die göttlichen oder halbgöttlichen Wesen, die ihm helfen, dürfen nicht unter diese Haus-, Hilfs- und Schutzgeister eingereiht werden.

Diese Geister spielen jedoch für den Schamanismus eine beträchtliche Rolle; ihre Funktionen werden deutlicher erscheinen, wenn wir uns mit den schamanischen Sitzungen befassen. Für jetzt sei gesagt, daß die meisten von diesen Haus- und Hilfsgeistern Tiergestalt haben. So können sie bei den Sibiriern und den Altaiern in Bären-, Wolfs-, Hirsch-, Hasen- und in jeder Vogelgestalt erscheinen (besonders als Ente, Adler, Eule, Krähe usw.), als große Würmer, doch auch als Gespenster. Wald-, Erd-, Herdgeister usw. Wir brauchen die Liste nicht zu vervollständigen27. Gestalt, Namen und Zahl wechseln von einer Gegend zur anderen. Nach Karjalainen kann die Zahl der Hilfsgeister eines Waß-jugan-Schamanen wechseln, doch sind es im allgemeinen sieben. Neben 

î27 Siehe u.a. Nioradze. Schamanismus, S. 26 ff.; U. Harva, Die religiösen Vorstellungen der altaischen Völker, S. 334 ff.: Ohlmarks, Studien, S. 170 ff. (dort eine ziemlich eingehende, wenn auch weitschweifige Beschreibung der Hilfsgeister und ihrer Funktion bei den schamanischen Sitzungen).

diesen «Hausgeistern» genießt der Schamane noch die Protektion eines «Kopfgeistes», der ihn auf seinen ekstatischen Reisen verteidigt, eines «Geistes in Bärengestalt», der ihn auf seinen Unterweltsfahrten begleitet, eines grauen Pferdes, auf dem er in die Himmel aufsteigt usw. In anderen Gegenden entspricht diesem Hilfsgeisterapparat des Waß-jugan-Schamanen ein einziger Geist: bei den nördlichen Ostjaken ein Bär, bei den Tremjugan und noch anderen Völkern ein «Bote», der die Antwort der Geister bringt und an die «Boten» der Himmelsgeister (die Vögel usw.) erinnert. Der Schamane ruft sie von allen Enden der Welt und sie kommen einer nach dem andern herbei und sprechen mit ihm durch seine Stimme29.

Der Unterschied zwischen einem Hausgeist in Tiergestalt und dem eigentlichen schamanischen Schutzherrngeist zeigt sich ziemlich deutlich bei den Jakuten. Jeder Schamane hat ein ié-kyla («Muttertier»), etwa das mystische Abbild eines Hilfstieres, das er verborgen hält. Die Schwachen haben als ié-kyla einen Hund, die Mächtigsten erfreuen sich eines Stiers, eines Füllens, eines Adlers, Elentiers oder brauen Bären; die einen Wolf, einen Bären oder einen Hund besitzen, sind am schlechtesten gestellt. Ein völlig anderes Wesen ist der ämägäl. Im allgemeinen ist er die Seele eines verstorbenen Schamanen oder ein niederer himmlischer Geist. «Der Schamane sieht und hört nur durch seinen ämägäl, sagte mir Tüspüt; ich sehe und höre auf eine Entfernung von drei nosleg, aber es gibt andere, die viel weiter sehen und hören30

Wie wir gesehen haben, muß sich ein Eskimoschamane nach seiner Erleuchtung ganz allein seine Hilfsgeister besorgen. Im allgemeinen sind es Tiere in Menschengestalt; sie kommen aus freiem Willen, wenn der Lehrling sich würdig zeigt. Fuchs, Eule, Bär, Hund, Haifisch und alle Arten von Berggeistern sind mächtige und wirksame Helfer31. Bei den Alaskaeskimos ist der Schamane umso stärker, je mehr Hilfsgeister er hat. Im nördlichen Grönland hat ein angakok bis zu fünfzehn Hilfsgeister 32.

Rasmussen hat unmittelbar aus dem Munde von Schamanen die Geschichte ihrer Geistergewinnung gesammelt. Der Schamane Aua fühlte, als er seine «Erleuchtung» bekam, in seinem Körper und seinem Gehirn ein himmlisches Licht, das irgendwie aus seinem ganzen Wesen erfloß, und obwohl unsichtbar für die Menschen, war es doch sichtbar für alle Geister der Erde, des Himmels und des Meeres, und sie kamen zu ihm und wurden seine Hilfsgeister. «Mein erster Hilfsgeist war mein Namensvetter, eine kleine aua. Als sie zu mir kam, war es, als ob das Dach des Hauses sich plötzlich gehoben hätte, und ich fühlte eine solche Visionsgewalt, daß ich durch das Haus und die Erde sah und weit hinein in den Himmel; meine kleine aua hatte mir dieses innere Licht gebracht, indem sie über mir herumflog, während ich sang. Ich habe sie dann in einen Winkel des Hauses getan, wo sie unsichtbar war für die andern, aber immer bereit, wenn ich sie brauchte» (Intellectual Culture of the Iglulik Eskimo, S. 119). Ein zweiter Geist, ein Hai, kam eines Tages, als er auf dem Meer war, in sein Kajak; schwimmend näherte er sich ihm und rief ihn beim Namen. Aua ruft seine beiden Hilfsgeister mit einem monotonen Gesang an: «Freude, Freude - Freude, Freude - Ich sehe einen kleinen Geist vom Strand, - eine kleine aua -, ich bin selber eine aua, - der Namensvetter des Geistes -, Freude, Freude...» Diesen Gesang wiederholt er, bis er in Tränen ausbricht, und darauf spürt er in sich eine unendliche Freude (ebd., S. 119 f- ). In diesem Fall ist also das ekstatische Erlebnis der Erleuchtung irgendwie an die Erscheinung des Hilfsgeistes gebunden. Doch diese Ekstase entbehrt nicht des mystischen Schreckens: Rasmussen (a. a. O., S. 112) betont das Gefühl «unerklärlichen Schreckens», das man fühlt, wenn man «von einem Hilfsgeist angefallen» wird, er bringt diese schreckliche Angst mit der Todesgefahr der Initiation in Verbindung.

übrigens haben alle Kategorien von Schamanen ihre Hilfsgeister und Schutzherrn, doch kann ihre Natur und Wirksamkeit bei den ver-schiedenen Kategorien sehr verschieden sein. Der jakutische poyang besitzt einen spiritus familiaris, der im Traum zu ihm kommt oder sich von einem andern Schamanen auf ihn vererbt33. Im tropischen Südamerika erwirbt man die Schutzgeister zu Ende der Initiation; sie «dringen ein» in den Schamanen, «entweder unmittelbar oder in Gestalt von Felskristallen, die in seine Tasche fallen... Bei den Barama-Kariben sind die verschiedenen Klassen der Geister, mit denen der Schamane in Beziehungen tritt, durch kleine Kieselsteine von verschiedener Art vertreten. Der piai bringt sie an seiner Viehglocke an und kann sie so nach Belieben anrufen34.» In Südamerika und überall sonst können die Hilfsgeister von verschiedener Art sein: Seelen von schamanischen Ahnen, Pflanzen- oder Tiergeister. Bei den Bororo unterscheidet man die beiden Schamanenklassen nach den Geistern, von denen sie ihre Macht erhalten: Naturdämonen und Seelen verstorbener Schamanen oder Ahnenseelen (Métraux, a. a. O., S. 211). Doch haben wir es hier weniger mit Hilfsgeistern als mit Schutzherren zu tun, wenn auch die Grenze zwischen diesen beiden Kategorien nicht immer leicht zu ziehen ist.

Die Beziehungen zwischen dem Zauberer bzw. Hexer und seinen Geistern variieren von dem Verhältnis eines Wohltäters zu seinem Schützling bis zu dem Verhältnis eines Dieners zum Herrn, sind jedoch immer von intimer Art35. Selten werden den Geistern Opfer oder Gebete dargebracht, doch wenn sie verletzt sind, leidet der Zauberer mit (s. z. B. Webster, S. 232, Anm. 41). In Australien, in Nordamerika und auch sonst überwiegt die Tiergestalt der Hilfsgeister und Schutzherren; man könnte sie vielleicht mit der westafrikanischen «bush soul» oder dem nagual in Mittelamerika und Mexiko vergleichen36.

33 Ivor H. Evans. Studies in Religion, Folk-lore und Customs in British North Borneo and the Malay Peninsula (Cambridge 1923), S. 2(14.

34 A. Métraux, Le shamanisme chez les indiens de l'Amérique du Sud tropicale, S. 210 f. Man erinnere sich an den himmlischen Charakter der Felskristalle in der ozeanischen Magie; diese Bedeutung ist im gegenwärtigen südamerikanischen Schama-nismus natürlich verdunkelt, zeigt aber darum nicht weniger den Ursprung der Schamanenkraft.

35 H. Webster. Magic, S. 215; vgl. auch ehd., S. 39-44, 388-391. Über die Hilfsgeister in der europäischen mittelalterlichen Hexenkunst vgl. Margaret Alice Murray, The God of the Witches (London, ohne Datum), S. 80 ff.; G. L. Kittredge, Witchcraft in Old and New England (Cambridge, Mass. 1929), S. 613. bes. s. «familiars»; S. Thompson, 3. Bd., S. 60 (F 403), S. 215 (G 225).

36 Vgl. Webster a-a. O-, S. 215. Über die Schutzgeister in Nordamerika vgl. Frazer, Totemism and Exogamy III (London 1910), S. 370-456; Ruth Benedict, The concept 

Eine wichtige Rolle spielen diese tiergestaltigen Hilfsgeister bei der Einleitung der schamanischen Sitzung, der Vorbereitung der ekstatischen Himmels- oder Unterweltsreise. Im allgemeinen zeigt sich ihre Anwesenheit dadurch, daß der Schamane Tierschreie ausstößt und das Verhalten von Tieren nachahmt. Der Tungusenschamane, der eine Schlange als Hilfsgeist hat, bemüht sich während der Sitzung die Bewegungen eines Reptils nachzuahmen; ein anderer, welcher den Wirbelwind als syvén hat, benimmt sich dementsprechend (Harva, Religiöse Vorstellungen, S. 462). Die Schamanen der Tschuktschen und Eskimos verwandeln sich in Wölfe37, die lappischen werden Wölfe, Bären, Renntiere, Fische38, und der Hala der Semang kann sich in einen Tiger verwandeln39 wie der halak der Sakai40 und der bomor bei den Kelantan41.

Es sieht so aus, als könnte diese Nachahmung von Tierbewegungen und Tierstimmen als «Besessenheit» gelten. Richtiger spräche man vielleicht von einem Besitzergreifen des Schamanen von seinen Hilfsgeistern; er selbst verwandelt sich in ein Tier, obwohl er ein ähnliches Resultat erreicht, wenn er eine Tiermaske anzieht. Man könnte auch von einer neuen Identität des Schamanen sprechen; er wird Geistertier und «spricht», singt oder fliegt wie ein Tier, ein Vogel. Die «Sprache der Tiere» ist nur eine Abart der «Geistersprache», der schamanischen Geheimsprache, auf die wir sogleich zu sprechen kommen.

Zuvor noch ein Hinweis auf folgenden Punkt: Die Anwesenheit eines Hilfsgeistes in der Gestalt eines Tieres, das Gespräch mit ihm in einer Geheimsprache oder die Einverleibung dieses Tiergeistes in den of the Guardian Spirit in North America (Memoirs of the American Anthropological Aisocialion, Nr. 29, 1923). S. auch unten S. 106 ff., 293 ff.

37 V, G. Bogoraz, The Chukchee, S. 437; K. Rasmussen, Intellectual Culture of the Copper Eskimos, S. 35.

38    Lehtisalo, Entwurf, S. 114, 59; Itkoncn. Heidnische Religion, S. 116, 120ff.

39    Ivor Evans, Schebesta on the sacerdo-therapy of the Semang (Journal of the Royal Anthropological Institute 1930, 60. Bd., S. 115-125), S. 120.

40 Ivor Evans, Studies in Religion, S. 210. Am 14. Tag nach dem Tod verwandelt sich die Seele in einen Tiger, ebd, S. 211,

41 J. Cuisinier, Danses magiques de Kelantan, S. 38 ff. Wir haben es hier mit einem allgemein verbreiteten Glauben zu tun. Für das alte und moderne Europa s. Kittredge, Witchcraft, S. 174-184; Thompson, 3. Bd., S. 212 f.; Lily Weiser-Aall, Hexe (in Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, 3. Bd.); Arne Runeberg, Witches, demons and fertility magic (Helsingfors 1947), S. 212 f.; vgl. auch das konfuse, doch überaus mate-rialreiche Buch von Montague Summers, The werewolf (London 1933).

Schamanen (Masken, Gesten, Tänze usw.), das alles zeigt wieder die Fähigkeit des Schamanen seine menschliche Verfassung aufzugeben, mit einem Wort «zu sterben». Fast alle Tiere wurden seit frühester Zeit entweder als Seelenführer aufgefaßt, welche die Seelen ins Jenseits begleiten, oder als die neue Gestalt des Abgeschiedenen. Ob das Tier als «Ahne» auftritt oder als «Initiationsmeister», immer symbolisiert es eine wirkliche und unmittelbare Verbindung mit dem Jenseits. In vielen Mythen und Legenden aus der ganzen Welt wird der Held durch ein Tier ins Jenseits gebracht42. Immer trägt ein Tier den Neophyten auf seinem Rücken zum Busch (= Unterwelt) oder hält ihn zwischen seinen Kiefern oder «verschlingt» ihn, um ihn zu «töten und wieder aufzuerwecken» usw.43.

Von diesem Gesichtspunkt aus darf man die Schutz- und Hilfsgeister, ohne die keine schamanische Sitzung möglich ist, als authentische Zeichen für die ekstatischen Jenseitsreisen des Schamanen betrachten. Und damit nähmen die Geistertiere die Rolle der Ahnenseelen auf, die ebenfalls den Schamanen ins Jenseits (Himmel, Unterwelt) bringen, ihm die Geheimnisse enthüllen, ihn unterrichten usw. Die Rolle des Geistertiers bei den Initiationsriten und den mythischen und legendären Jenseitsreisen entspricht der der Totenseele bei der (schamanischen) Ini-tiations-«Besitzergreifung». Aber man sieht deutlich, daß der Schamane selbst zum Toten (zum Geistertier, zum Gott) wird, um seine wirkliche Fähigkeit zu Himmelfahrt oder Untenveitsreise demonstrieren zu können. Daraus ergibt sich die Möglichkeit einer gemeinsamen Erklärung all dieser Tatsachen: es handelt sich gewissermaßen um die periodische (bei jeder neuen Sitzung neu begonnene) Wiederholung von Tod und Auferstehung des Schamanen. Die Ekstase ist nichts anderes als das konkrete Erlebnis des rituellen Todes, mit anderen Worten des Überschreitens der profanen menschlichen Verfassung. Und wie wir sehen werden, weiß der Schamane diesen «Tod» durch alle Arten von Mitteln zu erreichen, von den Narkotika und der Trommel bis zur «Besessenheit» durch die Geister. 

«Geheimsprache» - «Sprache der Tiere»

Im Verlauf der Initiation hat der künftige Schamane die Geheimsprache zu erlernen, die er bei den Sitzungen zum Verkehr mit den Geistern und Tiergeistern benützen wird. Diese Geheimsprache lernt er entweder von einem Meister oder aus Eigenem, also unmittelbar von den «Geistern»; die beiden Methoden bestehen auch nebeneinander, z. B. bei den Eskimos44. Bei den Lappen45, den Ostjaken, Tschuktschen, Jakuten und Tungusen46 ließ sich das Vorhandensein einer spezifischen Geheimsprache feststellen. Der tungusische Schamane versteht während seiner Trance die Sprache der ganzen Natur47. Sehr ausgearbeitet ist die Geheimsprache bei den Eskimos; sie wird zur Verständigung zwischen den angákut und ihren Geistern verwendet48. Jeder Schamane hat sein besonderes Lied, das er anstimmt, um die Geister anzurufen49. Auch wo es keine eigentliche Geheimsprache gibt, erscheinen doch noch ihre Spuren in unverständlichen Kehrreimen, die man während der Sitzung wiederholt, so etwa bei den Altaiern50.

Dieses Phänomen ist nicht ausschließlich nordasiatisch und arktisch; man begegnet ihm fast überall. Der hala der Semang-Pygmäen spricht während der Sitzung mit den Cenoi (himmlischen Geistern) in ihrer Sprache; wenn er dann aus der Zeremonienhütte kommt, will er alles vergessen haben51. Bei den Mentawei bläst der Initiationsmeister durch ein Bambusrohr dem Lehrling ins Ohr, damit er fähig wird die Stimmen der Geister zu hören52. Der Batak-Schamane bedient sich bei den Sitzungen der «Geistersprache» (Loeb, Sumatra, S. 81) und die Scha-44    Vgl. Rasmussen, Intellectual culture of the Iglulik Eskimo, S. 114.

45    Vgl. Eliel Lagercrantz, Die Geheimsprachen der Lappen (Journal de la Soc. Finno-Ougrienne 42, 2, 1928, S. 1-13).

48 T. Lehtisalo, Beobachtungen über die Jodler (Journal de la Soc. Finno-Ougrienne, 48, 1936-1937, 2, S. 1-34), S. 12 ff.

47    Lehtisalo, ebd., S. 13.

48    Thalbitzer, The heathen Priests of East Greenland, S. 448, 454 ff.; ders., Les magiciens esquimaux, S. 75; Weyer, Eskimos, S. 435 f.

49    Rasmussen, Intellectual Culture, S. 111, 122. S. die Texte in der «Geheimsprache», ebd., S. 125, 131 usw.

50 Lehtisalo, Beobachtungen, S. 22.

51 P. Schebesta. l es Pygmées, S. 153; I. Evans. Schebesta on the sacerdotherapy of the Semang, S. 118 ff.; dies., Studies, S. 156 ff., 160 usw.

52 Loeb, Shaman and Seer. S. 71.

manenlieder der Dusun (Nordborneo) sind in Geheimsprache gehalten (Evans, Studies, S. 4)53. «Nach karibischer Tradition war der erste piai (Schamane) ein Mann, der aus einem Fluß ein Lied aufsteigen hörte, beherzt in den Fluß tauchte und nicht mehr herauskam, bis er das Lied der Geisterfrauen auswendig gelernt und von ihnen das Zubehör seines Berufes empfangen hatte» (Métraux, Le shamanisme dans l’Amérique du Sud tropicale, S. 210).

Sehr häufig ist diese Geheimsprache die «Sprache der Tiere» oder aus der Nachahmung von Tierschreien entstanden. In Südamerika ist der Neophyt während der Initiationszeit gehalten, die Stimmen der Tiere nachzuahmen54. Dasselbe gilt in Nordamerika; bei den Porno und den Menomini z. B. ahmen die Schamanen den Gesang der Vögel nach55. Bei den Sitzungen der Jakuten, Jukagiren, Tschuktschen, Golden, Eskimos und anderer hört man Schreie von wilden Tieren und Vögeln56. Castagne schildert den kirgisisch-tatarischen baqça, wie er um das Zelt herumläuft und Sprünge macht, brüllt und springt: er «bellt wie ein Hund, wittert an den Anwesenden, muht wie ein Ochse, schreit, blökt wie ein Lamm, grunzt wie ein Schwein, wiehert und gurrt und ahmt so mit bemerkenswerter Genauigkeit die Schreie der Tiere, den Gesang der Vögel, das Rauschen ihres Fluges usw. nach, was seinen Eindruck auf die Umstehenden nicht verfehlt» (Magie et exorcisme, S. 93). Das «Niedersteigen der Geister» vollzieht sich oft auf diese Weise. Bei den Indianern in Guayana «wird das Schweigen plötzlich durch einen Ausbruch in Schreie unterbrochen, die sonderbar, doch dabei wirklich schreckenerregend sind; Gebrüll und Heulen erfüllt die Hütte und macht die Wände zittern. Dieses Geschrei erhebt sich wie ein rhythmisches Brüllen, das immer mehr zu einem dumpfen, fernen Grollen wird, um dann von neuem wieder aufzubranden57

Durch diese Schreie wird die Gegenwart der Geister verkündigt, ebenso wie durch das tierische Benehmen (s. o. S. 96). Viele während der Sitzung gebrauchte Wörter haben die Schreie der Vögel und anderer 

Tiere zum Vorbild (Lehtisalo, Beobachtungen, S. 25). Nach Lehtisalos Beobachtungen fällt der Schamane mit Hilfe einer Trommel und des «Jodlers» in Ekstase und werden die magischen Texte überall gesungen (ebd., S. 26). «Zauberei» und «Gesang» - besonders der Gesang nach Vogelart - werden häufig mit ein und demselben Wort bezeichnet. Das germanische Wort für den Zauberspruch ist galdr; man gebraucht es zusammen mit dem Verbum galan, «singen», das speziell auf die Schreie der Vögel angewendet wird58.

Die Sprache der Tiere, an erster Stelle die der Vögel, zu erlernen, heißt überall auf der Welt die Geheimnisse der Natur kennen und damit auch prophezeien können59. Die Sprache der Vögel lernt man im allgemeinen, indem man von der Schlange oder einem anderen als magisch geltenden Tier ißt60. Diese Tiere können die Geheimnisse der Zukunft enthüllen, weil sie von den Seelen der Toten bewohnt und Epiphanien von Göttern sind. Ihre Sprache lernen, ihre Stimme nachahmen bedeutet mit dem Jenseits und dem Himmel in Verbindung treten können. Derselben Identifikation mit einem Tier, besonders mit einem Vogel, werden wir später bei der Tracht der Schamanen und beim mystischen Flug begegnen. Die Vögel sind Seelenführer. Selber ein Vogel zu werden oder von einem Vogel begleitet zu sein bezeichnet die Fähigkeit, noch in diesem Leben die ekstatische Reise zum Himmel, ins Jenseits, zu tun. Die Nachahmung von Tierstimmen und der Gebrauch einer Geheimsprache bei der Sitzung ist ein weiteres Zeichen dafür, daß der Schamane zwischen den drei kosmischen Zonen Unterwelt, Erde und Himmel freie Bahn hat. Das heißt, er kann ungestraft dorthin Vordringen, wo nur die Toten und die Götter Zugang haben. Sich während der Sitzung ein Tier einverleiben bedeutet, wie wir es bei den Toten gesehen haben, weniger ein Besessenwerden als eine magische

Verwandlung des Schamanen in dieses Tier. Eine ähnliche Verwandlung läßt sich übrigens auch durch andere Mittel erreichen, zum Beispiel durch das Anlegen der Schamanentracht oder das Verbergen des Gesichts unter einer Maske.

Die Erlangung der Schamanenkraft in Nordamerika

Wir haben uns schon flüchtig mit den verschiedenen Arten beschäftigt, wie man in Nordamerika Schamanenkräfte erlangt. Quellen dieser Kräfte sind göttliche Wesen, die Seelen schamanischer Ahnen, mythische Tiere oder bestimmte kosmische Gegenstände und Zonen. Man erlangt die Kräfte spontan oder infolge einer freiwilligen Wahl; im einen wie im anderen Fall muß sich der künftige Schamane bestimmten Initiationsproben unterziehen. Im allgemeinen äußert sich in Nordamerika wie auch sonst die Verleihung schamanischer Kräfte durch die Gewinnung eines Hilfsgeistes oder Schutzherrn.

Bei den Shushwap, einem Stamm der Salish-Familie im Innern von Britisch Columbia, geht dies so vor sich: «Der Schamane wird durch Tiere eingeweiht, welche seine Schutzherren werden. Die Initiationsriten, deren Ziel einzig die Gewinnung eines übernatürlichen Beistandes für die Erfüllung aller Wünsche bildet, scheinen bei den Kriegern und bei den Schamanen dieselben zu sein. Der junge Mann, der die Pubertät erreicht, aber noch keine Frau berührt hat, muß ins Gebirge gehen und dort eine bestimmte Anzahl von Heldentaten verrichten. Er muß eine Schwitzhütte (sweat-house) errichten, in der er die Nächte zuzubringen hat; am Morgen darf er in sein Dorf zurückkehren. Während der Nacht reinigt er sich durch Dämpfe, tanzt und singt. Er führt dieses Leben manchmal jahrelang, bis er träumt, daß ihm das Tier, das er zu seinem Schutzherrn machen will, erscheint und seine Hilfe verspricht. Bei seiner Erscheinung fällt der Novize in Ohnmacht. ,Er fühlt sich wie betrunken, weiß nicht wie ihm geschieht und ob es Tag oder Nacht ist61.’ Das Tier sagt ihm, daß er es anrufen soll, wenn er Hilfe braucht, und teilt ihm ein besonderes Lied mit, mit dem er es rufen kann. Aus diesem Grund hat ein jeder Schamane sein eigenes Lied, das niemand 61 Das ist bekanntlich das Zeichen eines echten ekstatischen Erlebnisses; vgl. den «unerklärlichen Schrecken« der Eskimolehrlinge vor dem Erscheinen ihrer Hilfsgeister. 

anders zu singen berechtigt ist, außer wenn man einen Hexer zu entdek-ken sucht. Zuweilen steigt der Geist in Gestalt eines Blitzstrahls auf den Novizen herab62. Wenn ein Tier den Novizen einweiht, lehrt es ihn seine Sprache. Man erzählt, daß ein Schamane von Nicola Valley bei seinen Beschwörungen die ,Sprache des Koyoten' spricht... Wer über einen Schutzherrn verfügt, wird unverwundbar für Kugeln und Pfeile, und wenn eine Kugel oder ein Pfeil ihn berührt, dann blutet seine Wunde nicht; das Blut rinnt in seinen Magen, er spuckt es aus und befindet sich so wohl wie zuvor... Ein Mensch kann mehrere Schutz-herren-Geister erwerben; mächtige Schamanen haben immer mehr als einen zur Hilfe63

Bei diesem Beispiel ist die Verleihung der Schamanenkraft die Folge des eigenen Entschlusses. Anderswo in Nordamerika ziehen sich die Kandidaten in Höhlen im Gebirge oder in einsame Gegenden zurück und bemühen sich, durch intensive Konzentration die Visionen zu erreichen, von denen die Schamanenlaufbahn abhängt. Gewöhnlich muß man genau angeben, welche Art «Kraft» man verlangt64 - ein wichtiges Detail, denn es zeigt, daß es sich um eine allgemeine Technik zur Erlangung religiös-magischer Kräfte überhaupt, nicht nur schamanischer, handelt.

Folgende Geschichte eines Paviotsoschamanen wurde von Park aufgewiesen und veröffentlicht: Mit fünfzig Jahren beschließt er «Doktor» zu werden. Er begibt sich in eine Höhle und betet: «Mein Volk ist krank, ich will es retten» usw. Er bemüht sich zu schlafen, wird aber durch sonderbare Geräusche daran gehindert; er hört das Brummen und Heulen von Tieren (Bären, Berglöwen, Damhirschen usw.). Schließlich schläft er ein und wohnt im Schlaf einer schamanischen

Heilsitzung bei: «Sie waren drunten am Fuß des Berges. Ich konnte ihre Stimmen und ihre Gesänge hören. Dann hörte ich den Kranken seufzen. Ein Doktor sang und behandelte ihn.» Zum Schluß stirbt der Kranke und der Kandidat hört die Klagen der Familie. Der Felsen beginnt zu krachen. «Ein Mann erschien in dem Spalt, er war groß und dünn. Er hatte eine Adlerfeder in der Hand.» Er befiehlt ihm, sich solche Federn zu verschaffen und lehrt ihn, wie man eine Heilung erreicht. Wie der Kandidat am Morgen aufwacht, findet er niemanden neben sich (Park, Shamanism, S. 28).

Wenn ein Kandidat die im Traum erhaltenen Anweisungen oder ihr traditionelles Schema nicht befolgt, ist er zum Scheitern verurteilt (Park, ebd., S. 29). In bestimmten Fällen erscheint der Geist des toten Schamanen dem Erben in seinem ersten Traum, doch in den folgenden Träumen erscheinen höhere Geister, die ihm die «Kraft» verleihen. Wenn der Erbe die Kraft nicht annimmt, wird er krank (ebd., S. 30), derselbe Sachverhalt, wie wir ihn fast überall sonst angetroffen haben.

Die Seelen der Toten als Quelle der schamanischen Kräfte begegnen bei den Paviotso, den Shoshoni, den Seed Eaters und weiter nördlich bei den Lilloet und Thompson65. In Nordkalifornien ist diese Art Verleihung der Kräfte außerordentlich verbreitet. Die Yurok-Schamanen träumen von einem Toten ganz allgemein, doch nicht immer einem Schamanen. Bei den Sinkyone empfängt man die Kraft zuweilen in Träumen, wo die abgeschiedenen Eltern erscheinen. Die Wintu werden infolge solcher Träume Schamanen, besonders wenn sie von ihren eigenen gestorbenen Kindern träumen. Bei den Shasta folgt die erste Anzeige einer schamanischen Kraft auf Träume, in denen Mutter, Vater oder ein toter Ahne erscheinen66.

65 Park, a.a. O., S. 79; J. Teit. The Lillooet Indians (Leyden und Neuyork, 1906: The Jesup North Pacific Expedition II, Memoirs of the American Museum of Natural History, 4. Bd., S. 193-300), S. 287 ff.; durs. The Thompson Indians of Bris,sh Columbia (The Jesup North Pacific Expedition I, Memoirs ... 2. Bd., S. 163-442, 1900), S. 353. Die Lehrlinge bei den Lillooet schlafen auf den Gräbern, manchmal mehrere Jahre lang (Teit, The Lillooet, S. 287).

66 Park, a.a. O., S. 80. Dieselbe Tradition bei den Atsugewi, den nördlichen Maidu, den Crow, Arapaho, Gros Ventre usw. Bei einigen von diesen Stämmen und auch sonst sucht man die Kräfte zu erlangen, indem man an einem Grab schläft; manchmal (z. B. bei den Tlingit) greift man zu einem noch eindrucksvolleren Mittel: der Lehrling verbringt die Nacht mit der Leiche eines Schamanen (vgl. Frazer, Totemism and Exogamy, 3. Bd., S. 439).

Doch gibt es in Nordamerika auch andere «Quellen schamanischer Kräfte» und ebenso auch andere Arten von Lehrern als die Seelen der Toten und die Schutztiere. Im Grand Bassin handelt es sich um einen «kleinen grünen Mann», der nicht mehr als zwei Fuß mißt und mit seinen Pfeilen die trifft, die schlecht von ihm reden. Der «kleine grüne Mann» ist der Schutzgeist der Medizinmänner und zwar derer, die einzig durch übernatürliche Hilfe Zauberer geworden sind (Park, S, 77). Die Vorstellung von einem Zwerg, der die Kraft verleiht oder als Schutzgeist dient, ist im Westen der Rocky Mountains, unter den Stämmen des Groups-Plateaus (Thompson, Shushwap usw. ) und in Nordkalifornien (Shasta, Atsugewi, nördliche Maidu und Yuki) sehr verbreitet67.

Manchmal wird die Schamanenkraft direkt von dem Höchsten Wesen oder anderen göttlichen Wesen hergeleitet. So erhalten z. B. nach dem Glauben der Cahuilla in Südkalifornien (Cahuilla-Wüste) die Schamanen ihre Macht von Mukat, dem Schöpfer, jedoch durch Vermittlung von Schutzgeistern (Eule, Fuchs, Koyote, Bär usw.), die als Boten der Götter an die Schamanen auftreten (Park, S. 82). Bei den Mohawe und Yuma kommt die Kraft von großen mythischen Wesen, welche sie den Schamanen am Anfang der Welt übergeben haben (ebd., S. 83). Die Übergabe findet im Traum statt und ist mit einem Initiationsszenario verbunden. Der Yuma-Schamane wohnt im Traum der Entstehung der Welt bei und sieht noch einmal die mythischen Zeiten68 Bei den Manicopa folgen die Initiationsträume einem traditionellen Schema: Ein Geist ergreift die Seele des künftigen Schamanen und führt ihn von Berg zu Berg, wobei er ihm jedesmal Gesänge und Kuren offenbart “. Bei den Walapai ist die Reise unter der Führung von Geistern ein wesentliches Charakteristikum schamanischer Träume (Park, S. 116).

f67 Siehe das vollständige Verzeichnis der Stämme bei Park, S. 77ff . Vgl. ebd.. S. 111 : der «kleine grüne Mann», der den künftigen Ute-Schamanen in der Jugend erscheint.

68 A. L. Kroeber. Handbook of the Indians of California (Bureau of American Ethnology, Bull. 78, 1925), S. 754 ff.; C. D. Forde, Ethnography of the Yuma Indians (Univ. Calif. Publ. American Archaelogy and Ethnology, 28. 1931. Nr. 4), S. 201 ff. Die Initiation des schamanischen Geheimbundes Midewiwin ist ebenfalls mit einer Rückkehr zu den mythischen Zeiten des Weltanfanges verbunden, wo der Große Geist den ersten «großen Ärzten» die Mysterien enthüllte. Wie wir sehen werden, handelt es sich bei diesen Initiationsritualen um eine Verbindung zwischen Erde und Himmel, wie sic bei der Erschaffung der Welt hergestellt wurde.

69 L. Spier, Yuman tribes of the Gila River (Chikago 1933). S. 247; Park, S. 115.

Wie wir schon öfter gesehen haben, findet die Unterweisung der Schamanen oft im Traume statt. Im Traum gewinnt man wieder den Anschluß an das heilige Leben par excellence und stellt die direkten Beziehungen zu den Göttern, den Geistern und den Seelen der Ahnen wieder her. Nur im Traum vermag man die geschichtliche Zeit abzuschaffen und die mythische wiederzufinden, was den künftigen Schamanen zum Zeugen des Weltanfangs und damit zum Zeitgenossen der Kosmogonie und der uranfänglichen mythischen Offenbarungen macht. Manchmal sind die Initiationsträume unwillkürlich und beginnen schon in der Kindheit, so zum Beispiel bei den Stämmen des Grand Bassin (vgl. Park, S. 110). Die Träume haben zwar kein starres Szenario, sind aber nichtsdestoweniger stereotyp: man träumt von Geistern und Ahnen oder hört ihre Stimmen (Lieder und Unterweisung). Nur im Traume empfängt man die Initiationsregeln (Lebensweise, Tabus usw.) und erfährt die Gegenstände, die man zur schamanischen Kur braucht70. Auch bei den nordöstlichen Maidu wird man Schamane, indem man von Geistern träumt. Obwohl der Schamanismus erblich ist, erhält man die Qualifikation erst, wenn man im Traum die Geister gesehen hat, die sich übrigens gewissermaßen von einer Generation zur anderen vererben. Die Geister zeigen sich manchmal in Tiergestalt (in diesem Fall darf der Schamane von dem betreffenden Tier nicht essen), aber sie leben auch ohne bestimmte Gestalt in Felsen, Seen usw. 71.

Der Glaube, daß die Geistertiere oder die Naturerscheinungen Quellen schamanischer Kräfte sind, ist in ganz Nordamerika sehr verbreitet72. Bei den Salish im Inneren von Britisch Columbia erben nur wenige Schamanen die Schutzgeister ihrer Eltern. Fast alle Tiere und eine große Anzahl von Gegenständen können Geister werden, so alles, was irgendeine Beziehung zum Tod hat (z. B. Gräber, Knochen, Zähne) und jede Naturerscheinung (der blaue Himmel, Osten und Westen usw.). Doch haben wir es hier wie auch sonst oft mit einem religiösmagischen Erlebnis zu tun, das über die Sphäre des Schamanismus hinausreicht, denn auch die Krieger haben ihre Schutzgeister in ihrer Be-

70 Paviotso, Park, S. 23; Stämme in Südkalifornien, ebd., S. 82. Hörträume s. S. 23 usw. Bei den südlichen Okanagon sieht der künftige Schamane die Schulmeister nicht, er hört nur ihre Gesänge und Anweisungen, ebd., S. 118.

71    R. Dixon, The Northern Maidu (Neuyork 1905), S. 274 ff.

72    Siehe das Verzeichnis der Stämme und die bibliographischen Angaben bei Park, S. 76 ff

waffnung und den wilden Tieren, die Jäger bekommen die ihren vom Wasser, von den Bergen und den Tieren, die sie erjagen, usw.73.

Nach den Angaben gewisser Paviotso-Schamanen kommt ihnen die Kraft vom «Geist der Nacht». Dieser Geist «ist überall. Er hat keinen Namen. Es gibt keinen Namen für ihn.» Adler und Eule sind nur die Boten, welche die Unterweisung vom Geist der Nacht bringen. Auch die «water-babies» oder ein anderes Tier können seine Boten sein. «Wenn der Geist der Nacht die Kraft zu schamanisieren schenkt (power for doctoring), sagt er dem Schamanen, er solle Hilfe erbitten von den water-babies, dem Adler, der Eule, dem Damhirsch, der Antilope, dem Bären oder einem anderen Tier oder Vogel74.» Der Koyote ist nie Quelle der Kraft für die Paviotso, obwohl er die Hauptperson ihrer Märchen ist (Park, S. 19). Die Geister, die die Kraft verleihen, sind unsichtbar; nur die Schamanen können sie wahrnehmen (ebd.).

Dazu kommen noch die «Leiden» (pains), die ebenso als Quellen der Kraft wie als Ursachen der Krankheiten vorgestellt werden. Die «pains» scheinen belebt zu sein und haben manchmal sogar eine gewisse Personalität. Sie haben keine Menschengestalt, gelten aber als konkret75. Bei den Hupa zum Beispiel gibt es «pains» in allen Schattierungen; die eine gleicht einem Stück rohen Fleisches, andere sind Krabben, kleine Damhirsche, Pfeilspitzen usw. (Park, S. 81 ). Der Glaube an die «pains» ist bei den Stämmen Nordkaliforniens allgemein (ebd., S. 80), in anderen Gegenden Nordamerikas dagegen unbekannt oder selten (ebd., S. 81).

Die damagomi der Achumawi sind zugleich Schutzgeister und «pains». Eine Schamanin, Old Dixie, erzählt, wie sie ihre Berufung bekam. Sie war schon verheiratet, als eines Tages «mein erster damagomi mich aufsuchte. Ich habe ihn noch. Er ist ein kleines schwarzes Ding, man sieht ihn kaum. Als er das erstemal kam, machte er einen großen Lärm. Das war in der Nacht. Er sagte zu mir, daß ich ihn auf dem Berg besuchen müsse. Da bin ich hingegangen. Ich hatte große 73 F. Boas, The Salish Tribes of she interior of British Columbia (Annual Archaeological Report for 1905, Toronto 1906), S. 222 ff.

74 Ein Paviotso-Gewährsmann, den Parle, S. 17 zitiert. Der «Geist der Nacht, ist wahrscheinlich eine späte mythologische Formel für das Höchste Wesen, das gewissermaßen zum deus oliosus geworden ist. der den Menschen durch «Boten» hilft.

75 Kroeber, Handbook, S. 63 ff., 111, 852; R. Dixon. The Shasta (Bull. Am. Mus. of Nat. History. Neuyork 1907), S. 472 ff.

111

Angst. Ich wagte es fast nicht. Später hatte ich andere. Ich habe sie gefangen76.» Das waren damagomi, die anderen Schamanen gehört hatten und die ausgeschickt waren, um die Leute zu vergiften oder zu anderen schamanischen Aufgaben. Old Dixie schickte einen von ihren eigenen damagomi aus und fing sie. So brachte sie es auf mehr als fünfzig damagomi, während ein junger Schamane nur drei oder vier hat (J. de Angulo, S. 565). Die Schamanen nähren sie mit dem Blut, das sie während der Kur saugen (ebd., S. 563). Nach de Angulo (S. 580) sind diese damagomi zugleich wirklich (Fleisch und Bein) und Phantasiegebilde. Wenn der Schamane jemanden vergiften will, schickt er einen damagomi: «Suche den und den. Geh in ihn ein. Mach ihn krank. Töte ihn nicht sofort. Laß ihn in einem Monat sterben» (ebd., S. 580).

Wie wir schon bei den Salish gesehen haben, kann jedes Tier und jeder kosmische Gegenstand Quelle der Kraft oder Schutzgeist werden. Bei den Thompson-Indianern z. B. gilt das Wasser als der Schutzgeist der Schamanen, Krieger, Jäger und Fischer; die Sonne, der Blitz oder der Blitzvogel, die Gipfel der Berge, der Bär, der Wolf, der Adler und der Rabe sind die Schutzgeister der Schamanen und der Krieger. Andere Schutzgeister sind Schamanen und Jägern oder Schamanen und Fischern gemeinsam. Es gibt auch Schutzgeister, die ausschließlich den Schamanen reserviert sind: die Nacht, der Nebel, der blaue Himmel, der Osten, der Westen, die Frau, das heranwachsende junge Mädchen, das Kind, die Hände und Füße des Menschen, die Geschlechtsorgane von Mann und Frau, die Fledermaus, das Land der Seelen, die Wiedergänger, die Gräber, die Knochen, Zähne und Haare der Toten, usw. 77. Doch ist das Verzeichnis der «Quellen schamanischer Kräfte» damit noch bei weitem nicht zu Ende (vgl. Park, S. 18, 76 ff.).

Wie wir soeben festgestellt haben, kann eine jede geistige, tierische oder physische Wesenheit Quelle der Kraft oder Schutzgeist werden und zwar für den Schamanen wie für jedes andere Individuum. Dies scheint wichtig für die Frage nach dem Ursprung der Schamanenkräfte: ihre spezielle Qualität als «Schamanenkräfte» geht in keinem Fall auf die Art ihrer Quellen zurück (die oft für alle anderen religiösmagischen Fälle dieselben sind) noch darauf, daß die «Schamanen-76 Jaune de Angulo, La psychologie religieuse des Achumawi, IV: Le chamanisme (Anihropos, 25. Bd„ 1958. S. 561-582), S. 565.

77 James Their, The Thompson Indians of British Columbia, S. 554 ff.

kräfte» in bestimmten Schutztieren inkarniert wären. Ein jeder Indianer kann seinen Schutzgeist bekommen, wenn er zu einer gewissen Willensanstrengung und Konzentration bereit ist78. Außerdem schließt die Stammesinitiation mit dem Erlangen eines Schutzgeistes. Von diesem Gesichtspunkt aus gliedert sich das Streben nach schamanischen Kräften in das viel allgemeinere Streben nach religiös-magischen Kräften ein. Wir haben das schon in einem früheren Kapitel gesehen: Die Schamanen unterscheiden sich von den anderen Gliedern des Kollektivs nicht durch ihre Suche nach dem Heiligen - dies ist die normale und allgemeine Haltung aller Menschen -, sondern durch ihre Fähigkeit zum ekstatischen Erlebnis, die meistens auf eine Berufung zurückgeht.

Daraus können wir schließen, daß die Schutzgeister und mythischen Hilfstiere nicht ein charakteristisches und ausschließliches Merkmal des Schamanismus sind. Diese schirmenden und helfenden Geister lassen sich fast überall im ganzen Kosmos gewinnen und sind einem jeden Individuum erreichbar, wenn es sich nur gewissen Proben unterziehen will. Das heißt, daß der archaische Mensch überall im Kosmos eine Quelle des religiös-magisch Sakralen findet, daß nach der Dialektik des Sakralen jedes beliebige Stück des Kosmos einer Hierophanie Raum geben kann (vgl. Eliade, Die Religionen und das Heilige, S. 19 ff.). Nicht der Besitz einer Kraft oder eines Schutzgeistes unterscheidet einen Schamanen von einem anderen Individuum des Clans, sondern das ekstatische Erlebnis. Außerdem sind, wie wir schon gesehen haben und in der Folge noch deutlicher sehen werden, die Schutz- oder Hilfsgeister nicht die unmittelbaren Urheber dieses ekstatischen Erlebnisses. Sie sind nur die Boten eines göttlichen Wesens oder die Helfer bei einem Erlebnis, welches die Anwesenheit noch ganz anderer Wesen einschließt.

Andererseits wissen wir, daß die «Kraft» manchesmal durch die Seelen der schamanischen Ahnen (die sie ihrerseits am Morgen der Zeiten, in der mythischen Zeit empfangen haben), durch göttliche und halbgöttliche Personen, mitunter durch ein Höchstes Wesen, geoffen-bart wird. Auch hier hat man den Eindruck, daß die Schutz- und Hilfsgeister nichts weiter darstellen als Instrumente, die für das schamanische 78 H. Haeberlin und E. Günther, Ethnographische Notizen über die Indianerstämme des Puget-Sundes (Zs. f. Ethnologie, 56. Bd., 1924, S. 1-74), S. 56 ff. Über die besonderen Geister der Schamanen s. ebd., S. 65, 69 ff. 

Erlebnis unentbehrlich sind, gleichsam neue Organe, die der Schamane infolge seiner Initiation erhält, um sich in dem neu zugänglichen religiös-magischen Universum besser orientieren zu können. In den folgenden Kapiteln soll die Rolle der Schutz- und Hilfsgeister als «mystische Organe» noch heller beleuchtet werden.

Wie überall sonst ist auch in Nordamerika die Gewinnung solcher Schutz- und Hilfsgeister bald spontan, bald gewollt. Man wollte die nordamerikanische und die sibirische Schamaneninitiation voneinander trennen, weil es sich bei der ersteren immer um eine selbstgesuchte handle, während in Asien die schamanische Berufung in gewisser Weise von den Geistern auferlegt sei79. Bogoras gibt unter Benützung der Ergebnisse von Ruth Benedict80 folgende Zusammenfassung über die Erlangung schamanischer Kräfte in Nordamerika: Um mit den Geistern in Berührung zu kommen oder Schutzgeister zu erlangen, zieht sich der Aspirant in die Einsamkeit zurück und unterwirft sich einem Leben rigoroser Selbstpeinigung. Wenn die Geister sich in Tiergestalt manifestieren, glaubt man, daß ihnen der Aspirant sein eigenes Fleisch zur Nahrung gibt (Bogoras, S. 442). Aber das Anbieten seiner selbst als Nahrung für die Tiergeister, das sich in der Zerstückelung des eigenen Körpers verwirklicht (wie z. B. bei den Assiniboin, ebd.), ist nur eine Parallelformel zu dem ekstatischen Ritus der Zerstückelung des Lehrlings, den wir schon im vorhergehenden Kapitel analysiert haben und der ein zur Initiation gehöriges Schema (Tod und Auferstehung) enthält. Er begegnet übrigens auch in anderen Gegenden, so z. B. in Australien81 und Tibet (in dem bon-tantrischen tchin-Ritus), und ist als Ersatz oder als Parallelformel zu der ekstatischen Zerstückelung des Kandidaten durch die teuflischen Geister zu betrachten; dort, wo er nicht oder selten vorkommt, ist das spontane ekstatische Erlebnis der Zerstückelung des Körpers und der Erneuerung der Organe zuweilen 79 Waldemar G. Bogoras, The shamanistic call and the period of initiation in Northern Alia and Northern America (Proceedings of the XXIII International Congress of Americanists, Neuyork 1930, S. 441-444), bes. S. 443.

80 Vgl. R. Benedict, Vision in Plains Culture (American Anthropologist XXIV, 1922, S. 1-23).

81 Bei den australischen Stämmen der Lunga und Djara steigt einer, der Medizinmann werden will, in einen Teich, der als von Riesenschlagen bewohnt gilt. Diese «töten» ihn und durch diesen Initiationstod erlangt der Aspirant seine magischen Kräfte; s. P. Elkin, The Rainbow-Serpent Myth in North-West Australia (Oceania 1930, 1. Bd., Nr. 3, S. 349-353), S. 330; vgl. ders., The Australian Aborigines, S. 223.

durch Opferung des eigenen Körpers an die Geistertiere (wie bei den Assiniboin) oder dämonischen Geister (Tibet) ersetzt.

Wenn die «eigene Suche» auch den beherrschenden Zug im nordamerikanischen Schamanismus bildet, so ist sie doch bei weitem nicht die einzige Art, Kräfte zu erlangen. Wir sind mehreren Beispielen spontaner Berufung begegnet (vgl. z. B. dem Fall der Old Dixie), aber ihre Zahl ist noch bedeutend größer. Erinnern wir uns nur an die erbliche Übertragung der schamanischen Kräfte, wo die Entscheidung in letzter Instanz bei den Geistern und Ahnenseelen liegt. Außerdem wäre an die Vorladungsträume der künftigen Schamanen zu erinnern, die nach Park zu tödlichen Krankheiten ausschlagen, wenn man sie nicht richtig versteht und fromm befolgt. Man ruft einen alten Schamanen, damit er sie deutet; er verordnet dem Kranken, den Befehlen der Geister zu folgen, die diese Träume hervorgerufen haben. «Im allgemeinen fügt man sich nur widerwillig in das Schamanentum und entschließt sich erst dann zur Annahme der Kräfte und zur Erfüllung der Befehle der Geister, wenn die anderen Schamanen einem versichern, daß sonst der Tod die Folge ist» (Park, S. 26). Das ist genau der Fall der sibirischen und zentralasiatischen Schamanen und noch anderer dazu. Dieser Widerstand gegen die «göttliche Auserwählung» erklärt sich eben aus der ambivalenten Haltung des Menschen gegen das Heilige.

Übrigens findet man auch in Asien, wenngleich seltener, die freiwillige Suche nach Schamanenkräften. In Nordamerika, besonders in Südkalifornien, ist die Gewinnung schamanischer Kräfte oft mit den Initiationszeremonien verbunden. Bei den Kawaiisu, den Luiseno, Juaneno und Gabrielino wie bei den Diegueno, Cocopa und Akwa'ala erwartet man die Erscheinung des tierischen Schutzherrn als Folge der Vergiftung durch eine bestimmte Pflanze (jimson weed)82. Hier haben wir es mehr mit dem Initiationsritus eines Geheimbundes als mit einem schamanischen Erlebnis zu tun. Die Selbstpeinigungen der Aspiranten, auf die Bogotas anspielte, gehören mehr zu den schrecklichen Prüfungen des Kandidaten, der zu einem Geheimbund zugelassen werden will, als zum eigentlichen Schamanismus, obwohl es in Nordamerika immer schwierig ist, die Grenzen zwischen diesen beiden religiösen Formen genau zu bestimmen.

82 Kroeber, Handbook. S. 604 ff., 712 ff; Park, S. 84.

1

Sternberg. Adlerkult, S. 134. Über die Beziehungen zwischen Baum, Seele und Geburt im Glauben der Mongolen und Sibiren vgl. U. Pestalozza, II manicheismo presto i Turchi occidental! ed oriental: (Reale instituto Lombardo di Scienze e Lettere, Rendiconti, Bd. 67, 1934, S. 417-497), S. 487 ff.

9 Sternberg, Adlerkult, S. 143 f. über den Adler im Glauben der Jakuten s. W. Sie-rozewski. Du chamanisme, S. 218 f.; über die Bedeutung des Adlers in der Religion und Mythologie der sibirischen Völker vgl, Harva, Die religiösen Vorstellungen, S. 465 ff.; bestimmte Stämme nähren manchmal den Adler mit rohem Fleisch, vgl. D. Zelenin, Kuh ongonov v Sibiri (Moskau, 1936), S. 182 ff., doch scheint dieser Kult sporadisch und spät zu sein. Bei den Tungusen ist der «Kult, des Adlers dagegen unbedeutend (s. Shirokogorov, Psychomental Complex of the Tungus, S. 298). Sternberg, a. a. O., S. 131, erinnert an Wäinämöinen, den «ersten Schamanen, der finnischen mythologischen Tradition, der ebenfalls von einem Adler abstammte, s. Kalevala, 1. Rune, Vers 270 ff. (vgl. die Analyse dieses Motivs in Kaarle Krohn, Kalevala-Studien, V.. Väinämöinen (FFC Nr. 75, Helsinki 1938, 15 ff.). Der höchste Himmelsgott der Finnen, Ukko, nennt sich auch Aijä (lappisch Aijo, Aije), was Sternberg mit Ajy zusammenbringt. Wie der jakutische Ajy ist auch der finnische Aijä der Ahnherr der Schamanen. Der «weiße Schamane» heißt bei den Jakuten Ajy Ojûna, nach Sternberg sehr nahe dem finnischen Aijä Ukko. Das Motiv vom Adler und Weltenbaum fänden wir in der germanischen Mythologie wieder (Yggdrasil). Odin wird manchmal «Adler, genannt (vgl. z. B. E. Mogk, Germanische Mythologie, Straßburg 1898, S. 342 f.).

2

All diese Nachrichten über die ekstatischen Reisen sind sehr wichtig. Der geisterhafte I-ehrer der jungen Kandidaten bei der Initiation erscheint im nördlichen und südöstlichen Asien in der Gestalt eines Bären oder Tigers. Manchmal wird der Kandidat auf dem Rücken eines solchen Geistertieres in den Dschungel (Symbol des Jenseits) getragen. Die Leute, die sich in Tiger verwandeln, sind Initiierte oder «Tote» (was in den Mythen manchmal dasselbe ist).