DER SCHAMANISMUS ZENTRAL- UND NORDASIENS

A

AUFFAHRT IN DEN HIMMEL ABSTIEG IN DIE UNTERWELT 

Die Funktionen des Schamanen

So bedeutend die Rolle der Schamanen im religiösen Leben Zentral-und Nordasiens auch ist, sie hat doch ihre Grenzen1. Der Schamane ist kein Opferer: «Es gehört nicht zu seinen Befugnissen für die Opfer zu sorgen, die an festgesetzten Tagen den Göttern des Wassers, des Waldes und der Familie dargebracht werden» (Kai Donner, La Sibérie, S. 222). Im Altai hat der Schamane, wie schon Radlov bemerkt hat, bei den Geburts-, Hochzeits- und Bestattungszeremonien nichts zu tun -außer wenn sich etwas Ungewöhnliches ereignet. So wendet man sich zum Beispiel bei Unfruchtbarkeit oder schwerer Geburt an den Schamanen (Radlov, Aus Sibirien II, S. 55). Weiter im Norden wird der Schamane mitunter zu den Bestattungen eingeladen, um die Seele des Toten an der Wiederkehr zu hindern, und er ist auch bei den Hochzeiten zugegen, um die Neuvermählten vor den bösen Geistern zu schützen2. Seine Rolle ist also sichtlich auf Abwehrmagie beschränkt.

Als unersetzlich erweist sich der Schamane dagegen bei jeder Zeremonie, welche die Erlebnisse der menschlichen Seele als solcher betrifft, als der gefährdeten Einheit Seele, die dazu neigt den Körper zu 1 Ebenso ist die soziale Stellung der sibiris.hen Schamanen vom allerersten Rang, abgesehen von den Tschuktschen, wo die Schamanen nicht allzu geachtet scheinen, vgl. Mikhailowski S. 131-132. Bei den Buriäten seien die Schamanen die ersten politischen Oberhäupter gewesen (Sandschejev, Weltanschauung, S. 981 f.).

2 Karjalainen, a.a.O. III. S. 295. Nach Sieroszewski ist der jakutische Schamane bei allen wichtigen Ereignissen zugegen (Du chamanisme, S. 322), aber daraus geht noch nicht hervor, daß er auch das «normale, religiöse Leben beherrscht! wirklich unentbehrlich wird er erst im Krankheitsfall (ebd.). Bei den Buriäten werden die Kinder bis zum Alter von 15 Jahren von den Schamanen vor eben diesen Geistern beschützt (Sandschejev, S. 594).

verlassen und die leicht zur Beute von Dämonen und Zauberern wird. Das ist der Grund dafür, daß in ganz Nordasien und Nordamerika, aber auch sonst (Indonesien usw. ) der Schamane die Funktion des Arztes und Heilenden innehat; er sagt die Diagnose, er sucht die flüchtige Seele des Kranken auf, fängt sie ein und läßt sie sich mit dem Körper, den sie eben verlassen hat, wieder vereinigen. Immer ist er es, der die Seele des Verstorbenen in die Unterwelt führt, denn er ist in besonderer Weise «Psychopomp», Seelengeleiter.

Heilender und Psychopomp, das ist der Schamane, weil er die Techniken der Ekstase kennt, das heißt weil seine Seele ungestraft den Körper verlassen und in sehr großen Entfernungen umherschweifen, weil sie in die Unterwelt hinabdringen und zum Himmel steigen kann. Durch sein eigenes Ekstase-Erlebnis kennt er die Reisewege in den außerirdischen Regionen. Die Gefahr, sich in diesen verbotenen Regionen zu verirren, bleibt immer groß, doch geheiligt durch die Initiation und mit seinen Schutzgeistern bewehrt vermag der Schamane als einziges menschliches Wesen dieser Gefahr zu trotzen und sich in die Abenteuer einer mystischen Geographie zu begeben.

Dieselben ekstatischen Fähigkeiten machen es dem Schamanen, wie wir gleich sehen werden, bei den periodischen Opfern der Altaier möglich, die Seele des dem Gott dargebrachten Pferdes zu begleiten. In diesem Fall opfert der Schamane selbst das Pferd, aber nur, weil er die Seele des Tieres auf ihrer Himmelsreise bis zum Thron Bai Ülgäns zu geleiten hat und nicht etwa, weil seine Funktion die eines Opferpriesters wäre. Im Gegenteil, es scheint, daß sich bei den Altai-Tataren der Schamane an die Stelle des Opferpriesters gesetzt hat, denn bei den Pferdeopfern der Urtürken (Hiungnu, Tukuë), der Katsinzen und der Beltiren an den höchsten Himmelsgott spielen die Schamanen keine Rolle, während sie an den anderen Opfern aktiv teilnehmen.

Ebenso verhält es sich bei den ugrischen Völkern. Bei den Wogulen und den Irtysch-Ostjaken opfern die Schamanen im Fall einer Krankheit und vor Beginn der Heilung, doch scheint dies eine späte Neuerung zu sein; ursprünglich und wichtig wäre dann daran nur die Suche nach der verirrten Seele des Kranken (Karjalainen III, S. 286). Bei denselben Völkern wohnen die Schamanen den Sühnopfern bei, und in der 3 Vgl. W. Schmidt. Dir Ursprung, der Gottesidee, Bd. IX, S. 14, 51. 63 (Hiungnu, Tukuë usw.), 686 f. (Katsinzcn, Beltiren), 771 f.

Irtyschgegend zum Beispiel können sie sogar opfern, doch ist daraus nichts zu entnehmen, denn den Göttern opfern kann ein jeder (ebd., S. 287 ff.). Selbst wenn der ugrische Schamane am Opfer teilnimmt, schlachtet er nicht selbst das Tier, sondern nimmt sich gewissermaßen der «spirituellen» Seite des Ritus an, indem er Räucherungen ausführt, Gebete spricht usw. (Karjalainen, S. 288). Beim Opfer der Tremjugan heißt der Schamane «der Mann, der betet», ist aber nicht unentbehrlich (ebd.). Bei den Waßjuganen richtet man sich, wenn man im Krankheitsfall den Schamanen befragt hat, mit dem Opfer nach seinen Befehlen, doch wird das Opfertier vom Hausherrn geschlachtet. Bei Gemeinschaftsopfern der ugrischen Völker besteht die Rolle des Schamanen nur darin, die Gebete zu sprechen und die Seelen der Opfertiere zu den betreffenden Gottheiten zu führen (Karjalainen, S. 289). Auch wenn er am Opfer teilnimmt, spielt also der Schamane eine mehr «geistige» Rolle4; er beschäftigt sich allein mit dem mystischen Reiseweg der Seele des Opfertieres. Der Grund ist leicht einzusehen: der Schamane kennt diesen Weg und er weiß eine «Seele» zu meistern und zu führen, ob es nun die Seele eines Menschen oder eines Opfertiers ist.

Gegen Norden scheint die religiöse Rolle des Schamanen an Bedeutung und Reichhaltigkeit zuzunehmen. Im äußersten Norden Asiens wendet man sich, wenn das Wild ausgeht, zuweilen an den Schamanen (Harva, Religiöse Vorstellungen, S. 542). So ist es auch bei den Eskimosund bestimmten nordamerikanischen Stämmen6, doch sind diese Jagdriten nicht eigentlich schamanisch. Wenn der Schamane unter diesen Umständen eine Rolle zu spielen scheint, so liegt das einzig an seinen ekstatischen Fähigkeiten: Er sieht Veränderungen der Atmosphäre voraus, er besitzt die Kraft des Hellsehens und in die Ferne Sehens (kann also das Wild ausmachen); mehr noch, er steht in engeren, magisch-religiösen Beziehungen zu den Tieren.

Wahrsagen und Hellsehen gehören zu den mystischen Künsten des Schamanen. Deshalb konsultiert man einen Schamanen, um in der Tundra oder im Schnee verirrte Menschen und Tiere oder einen ver- 4 Siehe die Analogie mit der Funktion des brahman im vedischen Ritual. 5 Z. B. Rasmussen, Intellectual Culture of the Iglulik Eskimos, S. 109 ff,; Weyer, Eskimos, S. 422 usw.

6 Z. B. das «antelope-charming» bei den Paviotso, vgl. Park, Shamanism, S. 62 ff., 139ff.

Iorenen Gegenstand wiederzufinden. Doch sind so kleine Aufgaben mehr Sache der Schamaninnen oder anderer Klassen von Zauberern und Zauberinnen. Ebenso ist es keine «Spezialität» des Schamanen, den Feinden seiner Klienten zu schaden, wenngleich er sich manchmal dazu hergibt. Aber der nordasiatische Schamanismus ist ein außerordentlich komplexes, mit einer langen Geschichte beladenes Phänomen und hat mit der Zeit viele magische Künste an sich gezogen, vor allem infolge des großen Prestiges, das den Schamanen im Lauf der Zeit zuwuchs.

«Weiße» und «schwarze» Schamanen. «Dualistische» Mythologien

Die deutlichste Scheidung ist, wenigstens bei bestimmten Völkern, die in «weiße» und «schwarze» Schamanen, wiewohl es nicht immer leicht fällt, das Gegensatzmoment zu definieren. Miss Czaplicka7 kennt bei den Jakuten ajy ojuna, die den Göttern opfern, und ahasy ojuna mit Beziehungen zu den «bösen Geistern». Doch wie Harva (Religiöse Vorstellungen, S. 483) bemerkt, ist der ajy ojuna nicht unbedingt ein Schamane; es kann auch ein Opferpriester sein. Nach Pripuzov kann derselbe Jakutenschamane ebenso die höheren (himmlischen) Geister wie die der unteren Regionen beschwören8. Bei den Tungusen von Turuschansk gibt es unter den Schamanen keine Differenzierung; dort kann jeder beliebige Priester dem Himmelsgott opfern, nur der Schamane nicht, und diese Opferriten finden bei Tage statt, die schamani-schen Riten hingegen bei Nacht (Harva, a.a.O., S. 483).

Deutlich zu erkennen ist diese Unterscheidung bei den Buriäten. Sie sprechen von «weißen Schamanen» (sagani bö), die Beziehungen zu den Göttern, und «schwarzen Schamanen» (karain bö), die Beziehun-gen zu den Geistern haben9. Ihre Tracht ist verschieden, die der ersteren weiß, die der andern blau. Auch die Mythologie der Buriäten weist einen bemerklichen Dualismus auf: Die zahllose Schar der Halbgötter teilt sich in schwarze und weiße Khans, die heftige Feindschaft entzweit10. Den schwarzen Khans dienen die «schwarzen Schamanen». Sie sind nicht beliebt, aber trotzdem für die Menschheit von Nutzen, denn nur sie übernehmen die Vermittlung zu den schwarzen Khans (Sand-schejew, S. 952). Das ist aber nicht das Ursprüngliche; nach den Sagen war der erste Schamane «weiß» und ist der schwarze erst später erschienen (Sandschejew, S. 976). Und wie wir gesehen haben, schickte der Himmelsgott den Adler, um den ersten Menschen, der auf der Erde anzutreffen war, mit den Gaben des Schamanentums auszustatten. Die Zweiteilung der Schamanenschaft könnte sehr wohl ein sekundäres, ja spätes Phänomen sein, das auf iranische Einflüsse zurückgeht oder auch auf eine negative Wertung der chthonischen und «unterweltlichen» Hierophanien, welche mit der Zeit zur Abgrenzung «dämonischer» Mächte geführt hat.

Wir dürfen nicht vergessen, daß ein großer Teil der Erd- und Unterweltsgottheiten und -mächte nicht notwendig «böse» oder «teuflisch» ist. Sie repräsentieren im allgemeinen autochthone, sogar örtliche Hierophanien, die durch Veränderungen im Pantheon ihren Rang verloren haben. Manchmal ist die Teilung der Götter in himmlische oder chtho-nisch-infernale nur eine bequeme Klassifikation ohne jedes pejorative Moment für die letzteren. Bei den Buriäten haben wir einen ziemlich scharfen Gegensatz zwischen weißen und schwarzen Khans gesehen. Auch die Jakuten kennen zwei große Klassen (bis) von Göttern, «obere» und «untere», tangara («himmlische») und «unterirdische»11, ohne daß man deshalb von einem klaren Gegensatz sprechen könnte (Sieroszewski, S. 300 ff.). Es handelt sich vielmehr um eine Klassifikation und Spezifizierung verschiedener religiöser Gestaltungen und Mächte. 9 N. N. Agapitov und M. N. Changalov, Shamanstvo u burjat, S. 46; Mikhailowski, S. 130; Harva, Rel. Vor stell., S. 484.

10 Garma Sandschejew, Weltanschauung und Schamanismus, S, 952 ff. «Oben» und «unten» sind übrigens ziemlich vage Bezeichnungen, sie können auch stromaufwärts und stromabwärts gelegene Gegenden bezeichnen, Sieroszewski, S. 300. Vgl. auch W. Jochelson, The Yakut, S. 107 ff.; B. D. Shimkin, A sketch of the Ket, S. 161 ff.

Wie wohlwollend die Götter und Geister «von oben» auch sein mögen, sie zeigen sich unglücklicherweise passiv und im Drama der menschlichen Existenz ist von ihnen fast gar keine Hilfe zu erwarten. Sie bewohnen «die obersten Himmelssphären, befassen sich fast gar nicht mit den Angelegenheiten der Menschen und haben deshalb viel weniger Einfluß auf den Lauf des Lebens als die Geister des ,unteren bis’, die rachsüchtig, der Erde näher, den Menschen durch Blutsbande und eine viel strengere Clanorganisation verbunden sind» (Siero-szewski, S. 301 ). Das Oberhaupt der Götter und Geister ist Art-Toion-Aga, der «Herr, Vater, Oberhaupt der Welt», der «in den neun Sphären des Himmels wohnt. Er ist mächtig, bleibt aber inaktiv; er leuchtet wie die Sonne, sein Emblem, spricht durch den Donner, mischt sich aber wenig in menschliche Dinge. In unsern täglichen Nöten würden wir vergeblich zu ihm beten; man darf nur in außerordentlichen Fällen seine Ruhe stören, und selbst dann zeigt er wenig Geneigtheit, sich mit den Dingen der Menschen abzugeben12

Außer Art-Toion-Aga gibt es noch sieben große «obere» Götter und eine Menge kleinere. Doch bedeutet ihr Aufenthalt im Himmel nicht notwendig uranische Struktur. Neben dem «Weißen Schöpferherrn» (Urüng-Ai-Toion), der den vierten Himmel bewohnt, treffen wir z. B. «die süße Schöpferinmutter», «die süße Herrin der Geburt» und die «Herrin der Erde» (An-Alai-Chotun). Der Gott der Jagd, Bai Baitiai, bewohnt den östlichen Teil des Himmels sowie die Felder und Wälder. Und doch opfert man ihm schwarze Büffel - ein Zeichen seiner telluri-schen Herkunft13.

Der «untere bis» enthält acht große Götter, mit dem «Allmächtigen Herrn des Unendlichen» (Ulutnier Uhi Toion) an der Spitze und eine zahllose Menge von «bösen Geistern». Ulu Toion ist aber nicht böse: «Er befindet sich nur sehr nahe an der Erde, deren Angelegenheiten ihn 12    Sieroszcwski, S. 302, nach Chudjakow. Über den passiven Charakter der urani-schen Höchsten Wesen s. unser Buch Die Religionen und das Heilige, S. 71 ff.

13    «Wenn die Jäger kein Jagdglück haben oder einer von ihnen krank wird, opfert man einen schwarzen Büffel, wobei der Schamane Fleisch. Eingeweide und Fett verbrennt. Bei dieser Zeremonie badet man eine Figur aus Bainaiholz, mit Hasenfell bekleidet, im Blut des Tieres. Wenn Tauwetter die Wasser befreit, steckt man ins Ufer Pfähle, die durch ein Seil aus Haaren tsely) mit bunten Lappen und Haarbüscheln verbunden sind. Außerdem wirft man Butter, Kuchen, Zucker und Geld ins Wasser» (Sieroszcwski, S. 303). Der Typ eines bastardisierten Opfers, vgl. Al. Gahs, Kopf-, Schädel- und Langknochenopfer bei Rentiervölkern, passim.

lebhaft interessieren... Ulu Toion ist die Personifikation der aktiven Existenz voll Leiden, Wünschen und Kampf... Er ist im Westen zu suchen, im dritten Himmel. Aber man soll seinen Namen nicht leichtfertig anrufen: Die Erde zittert und wankt, wenn er seinen Fuß aufsetzt; das Herz des Sterblichen zerspringt vor Schrecken, wenn er in sein Angesicht zu schauen wagt. Kein Mensch hat ihn deshalb gesehen. Aber er ist der einzige von den mächtigen Bewohnern des Himmels, der in dieses Tränental herabsteigt... Er hat den Menschen das Feuer gegeben, er hat den Schamanen erschaffen und ihn gegen das Unheil kämpfen gelehrt... Er ist der Schöpfer der Vögel, der Waldtiere, und der Wälder» (Sieroszewski, S. 306 ff.). Ulu-Toion ist Art-Toion-Aga nicht botmäßig, sondern behandelt ihn als seinesgleichen14.

Bezeichnenderweise bringt man mehreren von diesen «unteren» Gottheiten weiße oder falbe Tiere zum Opfer. Dem mächtigen Kahtyr-Kaghta Burai-Toion, der nur Ulu-Toion selbst über sich hat, opfert man ein graues Pferd mit weißem Stirnfleck; der «Dame mit dem weißen Fohlen» opfert man ein weißes Fohlen, den übrigen «unteren» Göttern und Geistern falbe Stuten mit weißen Kniekehlen oder weißem Kopf oder Apfelschimmelstuten usw. (Sieroszewski, S. 303 ff ). Natürlich gehören zu den «unteren» Geistern auch einige berühmte Schamanen. Am berühmtesten ist der jakutische «Fürst der Schamanen»; er wohnt im westlichen Teil des Himmels und gehört zur Familie Ulu-Toions. «Er war vor nicht langer Zeit ein Schamane vom ülüs Nam, vom nosleg Bötiügne, vom Geschlecht Tchaky... Man opfert ihm einen stahlfarbe-nen Jagdhund mit weißen Flecken, weiß am Kopf zwischen Augen und Schnauze» (Sieroszewski, S. 305).

Schon diese wenigen Beispiele zeigen, wie schwierig eine saubere Abgrenzung zwischen «uranischen» und «tellurischen» Göttern, zwischen «guten» und «bösen» religiösen Mächten ist. Nur soviel hat sich mit Sicherheit ergeben, daß der höchste Himmelsgott ein äeus otiosus ist und daß die Stellungen und Hierarchien im jakutischen Pantheon mehrfachen Wechsel, vielleicht sogar Usurpation, erlebt haben. Angesichts dieses ebenso komplexen wie vagen Dualismus versteht man, daß der jakutische Schamane sowohl den «oberen» wie den «unteren» 1

Göttern «dienen» kann, denn «unterer bis» heißt nicht immer «böse Geister». Der Unterschied zwischen Schamanen und anderen Priestern (den «Opferern») liegt nicht in Dingen des Rituals, sondern in der Frage der Ekstase: Nicht davon, ob ein Schamane dies oder jenes Opfer darbringen kann oder nicht, hängt seine ganz besondere Situation innerhalb der religiösen Gemeinschaft (die Priester wie Laien umfaßt) ab, sondern von der Eigenart seiner Beziehungen zu den Gottheiten, den «oberen» wie den «unteren». Diese Beziehungen sind bei ihm, wie wir später noch besser sehen werden, «vertrauter», «konkreter» als bei den anderen, Opferpriestern oder Laien, denn beim Schamanen ist das religiöse Erlebnis immer von ekstatischer Struktur, welche Gottheit es auch hervorruft.

Dieselbe Zweiteilung wie bei den Buriäten, wenn auch nicht so deutlich, begegnet bei den altaischen Schamanen. Anochin 2 spricht von «weißen Schamanen» (ak kam) und «schwarzen Schamanen» (kara kam). Bei Radlov und Potapov fehlt diese Unterscheidung; nach ihnen kann derselbe Schamane Himmelsreise und Unterweltsfahrt ausführen. Doch liegt darin kein Widerspruch: Anochin (S. 108 ff.) bemerkt, daß es auch «schwarz-weiße» Schamanen gibt, welche die beiden Reisen machen können. Dieser russische Ethnologe traf sechs «weiße», drei «schwarze» und fünf «weißschwarze» Schamanen. Wahrscheinlich hatten Radlov und Potapov nur mit Schamanen dieser dritten Kategorie zu tun.

Die Tracht der «weißen Schamanen» ist einfacher; der Kaftan (manyak) scheint dabei nicht unbedingt nötig. Doch haben sie einen Hut aus weißem Lammfell und andere Insignien16. Die Schamaninnen sind immer «schwarz», denn sie machen keine Himmelsreisen. Die Altaier scheinen also drei Gruppen von Schamanen zu haben: solche, die sich ausschließlich himmlischen Göttern und Mächten widmen, solche, die auf den (ekstatischen) Kult der Unterweltsgötter spezialisiert sind und schließlich solche, die zu beiden Klassen mystische Beziehungen haben. Diese letzte Gruppe scheint zahlenmäßig ziemlich stark zu sein.

Pferdeopfer und Himmelfahrt des Schamanen hei den Altaiern

Noch klarer wird dies alles durch die Darstellung einiger schama-nischer Sitzungen mit verschiedenem Zweck: Pferdeopfer und Himmelfahrt, Suche nach den Ursachen einer Krankheit und Behandlung des Kranken, Begleitung der Seele des Abgeschiedenen in die Unterwelt und Reinigung des Hauses usw. Wir beschränken uns dabei zunächst auf eine Beschreibung der Sitzungen ohne Studium der eigentlichen Trance des Schamanen und nur mit einigen Andeutungen über die religiösen und mythologischen Vorstellungen, welche diesen ekstatischen Reisen zugrundeliegen. Die Frage nach den mythischen und theologischen Grundlagen der schamanischen Ekstase soll später wieder aufgenommen werden. Dabei ist noch zu sagen, daß die Phänomenologie der Sitzung von einem Stamm zum anderen wechselt, wenngleich ihre Struktur immer dieselbe bleibt. Wir haben es nicht für notwendig gehalten, all diesen Unterschieden nachzugehen, die sich mehr auf Einzelheiten erstrecken. Was uns in diesem Kapitel vorschwebt, ist vor allem eine möglichst gedrängte Beschreibung der wichtigsten Typen der schamanischen Sitzung. Wir beginnen dabei mit der klassischen Beschreibung des altaischen Rituals durch Radlov, die sich nicht nur auf seine eigenen Beobachtungen stützt, sondern dazu noch auf die Texte der Gesänge und Anrufungen, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch die Altai-Missionäre aufgezeichnet und später von dem Priester Verbitskii redigiert wurden17, Dieses Opfer wird von jeder Familie von Zeit zu Zeit gefeiert und dauert drei Abende nacheinander.

Der erste Abend ist der Vorbereitung des Ritus gewidmet. Der Kam sucht einen Platz auf einer Wiese aus und errichtet dort eine neue Jurte; darin stellt er eine Birke auf, deren untere Äste entfernt sind und an deren Stamm neun Stufen (tapty) angebracht werden. Das oberste 

17 Radlov, Aus Sibirien II, S. 20-50. Verbitskii hat 1870 den tatarischen Text in einer Tomsker Zeitung publiziert, nachdem er schon 1858 eine Beschreibung der Zeremonie gegeben hatte. Die Übersetzung der tatarischen Lieder und Anrufungen und ihre Einfügung in die Darstellung des Rituals ist Radio's Werk. Einen Auszug aus dieser klassischen Beschreibung s. bei Mikhailowski, a.a.O,, S. 74-78; vgl. auch Harva, Rel. Vorstell., S. 553-556. Vor kurzem widmete W. Schmidt ein ganzes Kapitel des 9. Bandes seines Ursprungs der Goltesidee (S. 278-341) der Wiedergabe und Analyse des Radlovschen Texts,

Laub der Birke, die an ihrem Wipfel ein Tuch trägt, ragt aus der oberen Öffnung der Jurte hervor. Rund um die Jurte errichtet man einen kleinen Zaun aus Birkenstöcken; am Eingang steckt man einen Stock aus Birkenholz mit einem Knoten aus Pferdehaar in die Erde. Dann sucht man ein Pferd von heller Farbe aus, und nachdem der Schamane festgestellt hat, ob es der Gottheit wohlgefällig ist, vertraut er es einem der Anwesenden an, der nun Bash-tut-kan-kiski, «die Person, die den Kopf hält», heißt. Der Schamane schwenkt einen Birkenzweig über dem Rücken des Pferdes, um die Seele des Tieres zum Austritt zu zwingen und ihren Flug zu Bai Ülgän vorzubereiten. Dieselbe Geste wiederholt er über der «Person, die den Kopf hält», denn die «Seele» dieser Person hat die Seele des Tieres auf ihrer ganzen Himmelsreise zu begleiten und muß deshalb für den kam verfügbar sein.

Der Schamane kehrt in die Jurte zurück, wirft Zweige auf das Feuer und beräuchert sein Tamburin. Er beginnt die Geister anzurufen und befiehlt ihnen sich in die Trommel zu begeben; auf seiner Himmelfahrt wird er jeden von ihnen brauchen. Bei jedem namentlichen Aufruf antwortet der Geist: «Hier bin ich, kam!« und der Schamane manövriert mit der Trommel, wie wenn er den Geist damit fangen würde. Wenn er seine Hilfsgeister (alles himmlische Geister) versammelt hat, verläßt der Schamane die Jurte. Einige Schritte entfernt befindet sich eine Vogelscheuche in Gänsegestalt; er setzt sich rittlings darauf, rudert heftig mit den Händen, wie wenn er fliegen wollte, und singt: Unterhalb des weißen Himmels,

Oberhalb der weißen Wolke,

Unterhalb des blauen Himmels,

Oberhalb der blauen Wolke,

Steig empor zum Himmel, Vogel!

Auf diese Anrufung antwortet die Gans schnatternd: «Ungaigakgak, ungangak, kaigaigakgak, kaigaigak.» Das ist natürlich der Schamane selbst, der den Schrei des Vogels nachahmt. Auf der Gans sitzend verfolgt der kam die Seele des Pferdes (fuira), das geflohen ist, und wiehert wie ein Rennpferd. Mit Hilfe der Umstehenden zwingt er die Seele des Pferdes in die Hürde und mimt angestrengt, wie es eingefangen wird: er wiehert, schlägt aus und zeigt, wie die Schlinge, die man nach dem Pferd ausgeworfen hat, ihm den Hals zuschnürt. Manchmal läßt er das Tamburin fallen, um anzudeuten, daß die Seele des Pferdes entflohen ist. Schließlich ist sie wieder eingefangen und der Schamane beräuchert sie mit Wacholder und schickt die Gans fort. Dann segnet er das Pferd und tötet es mit Hilfe einiger von den Anwesenden auf grausame Weise, indem er ihm die Wirbelsäule bricht, wobei kein Tropfen Blut auf die Erde fallen oder die Opfernden bespritzen darf18 Haut und Knochen werden an einer langen Stange aufgehängt und ausgestellt Nach Opfern für die Ahnen und die Schutzgeister der Jurte bereitet man das Fleisch zu und ißt es auf zeremonielle Weise, wobei der Schamane die besten Stücke bekommt.

Der zweite und wichtigste Teil der Zeremonie findet am folgenden Abend statt. Jetzt ist der Moment, wo der Schamane auf seiner Himmelsreise bis zum himmlischen Sitz Bai Ülgäns seine schamanischen Fähigkeiten zeigen kann. Das Feuer brennt in der Jurte. Der Schamane opfert den Meistern der Trommel - den Geistern, in denen die schamanischen Kräfte seiner Familie verkörpert sind - Pferdefleisch und singt:

Nimm du es o Kaira Khan,

Herr der Trommel mit sechs Buckeln!

Komm du klingelnd her zu mir!

Ruf ich «Cok!», verneige dich!

Ruf ich «Mä!», so nimm es an!

Auf dieselbe Art wendet er sich an den Meister des Feuers, des Symbols für die heilige Kraft des Besitzers der Jurte, der das Fest organi-18 Nach Potanin, Otcherki IV, S. 79, befestigt man neben dem Opfertisch zwei Stangen mit hölzernen Vögeln an der Spitze, die durch ein Seil mit grünen Zweigen und einem Hasenfell verbunden sind. Bei den Dolganen stellen Stangen mit Holz* vögeln an der Spitze die Weltsäulen dar, vgl. Holmberg (Harva), Der Baum des Lebens, S. 16, Fig. 5-6; ders., Rel. Vorstell., S. 44. Der Vogel symbolisiert natürlich die magische Flugkraft, die der Schamane besitzt.

19 Dieselbe Art von Pferde- und Lammopfer findet sich bei anderen altaischen Stämmen und bei den Telëuten, vgl. Potanin, a.a.O. IV, S. 78 ff. Dies ist das spezifische Schädel- und Langknochenopfer, das in seiner reinsten Form bei den arktischen Völkern vorkommt, vgl. A. Gahs, Kopf-, Schädel- und Langknochenopfer bei Rentiervölkern (W. Schmidt-Festschrift, Wien 1928, S. 231-268); W. Schmidt, Der Ursprung der Gottesidee, 3. Bd. (Münster 1931), S. 334, 367 ff., 462 ff. usw.; 6. Bd. (1935), S. 70-75, 274-281 usw.; 9- Bd., S. 287-292; ders. Das Himmelsopfer bei den innerasiatischen Pferdezüchtervölkern (Ethnos, 7. Bd., 1942, S. 127-148). S. auch K. Meuli, Griechische Opferbräuche (Phyllobolia für Peter von der Mühll, Basel 1946), S. 283 ff. 

siert hat. Der Schamane erhebt einen Becher und macht mit den Lippen das Geräusch einer unsichtbaren Gesellschaft von Geladenen, die mit Trinken beschäftigt sind. Dann schneidet er Stücke vom Pferd ab und verteilt sie an die Anwesenden (die Repräsentanten der Geister), welche sie geräuschvoll verschlingen“. Dann beräuchert der Schamane die neun Gewänder, die als Opfer des Hausherrn an Bai Ülgän an einem Strick aufgehängt sind und singt:

Gaben, die kein Pferd kann tragen,

Alás, alás, alás!

Die kein Mann vermag zu heben,

Alás, alás, alás!

Kleider mit dreifachem Kragen,

Dreimal wendend schauet an sie!

Decke, gib sie für den Renner,

Alás, alás, alás!

Fürst Ülgän, du Freudenvoller!

Darauf legt der kam seine Schamanentracht wieder an, setzt sich auf einen Schemel, beräuchert seine Trommel und beginnt eine Menge Geister anzurufen, groß und klein, und jeder Geist antwortet: «Hier bin ich, kam!« Auf diese Weise zitiert er: Yayyik Khan, den Geist des Meeres, Kaira Khan, Paisyn Khan, dann die Familie Bai Ulgäns (die Mutter Tasygan mit neun Töchtern zur Rechten und sieben zur Linken), und schließlich die Meister und Heroen des Abakan und des Altai (Mordo Khan, Altai Khan, Oktu Khan usw.). Am Ende dieser langen Anrufung wendet er sich an die Märküt, die Himmelsvögel:

Himmelsvögel, fünf Märküt,

Ihr mit mächtgen Kupferkrallen,

Kupfer ist die Mondeskralle,

Und von Eis der Mondesschnabel.

Mächtgen Schwungs die breiten Flügel,

Fächergleich der lange Schwanz,

20 Über die palethnologische und religiöse Bedeutung dieses Ritus vgl. Meuli, a. a. O, S. 224 ff, und passim.

Deckt den Mond der linke Flügel,

Und die Sonn der rechte Flügel.

Du die Mutter der neun Adler,

Der nicht irrt, den Yaik durchfliegend,

Der ermattet nicht um Edil,

Singend komme du zu mir!

Spielend komm zum rechten Auge,

Setz dich auf die rechte Schulter!

Um die Gegenwart des Vogels anzuzeigen, ahmt der Schamane seinen Schrei nach: Kazak, kak, kak! Hier bin ich, kam! Dabei beugt der Schamane seine Schulter wie erliegend unter dem Gewicht eines riesigen Vogels.

Der Geisterappell dauert weiter, die Trommel wird schwer. Mit diesen vielen mächtigen Schutzherrn gerüstet kreist der Schamane mehrmals um die Birke im Inneren der Jurte21, dann kniet er sich vor der Tür nieder und bittet den «Pförtner»-Geist, er möge ihm einen Führer geben. Nach günstiger Antwort kehrt er in die Mitte der Jurte zurück, schlägt die Trommel und fällt in Zuckungen, wozu er unverständliche Worte murmelt. Dann beginnt er mit seiner Trommel alle Leute zu reinigen, zuerst den Hausherrn - eine lange und verwickelte Zeremonie, bei welcher der Schamane zuletzt in Begeisterung gerät. Das ist das Zeichen für die eigentliche Auffahrt, denn bald darnach stellt sich der Schamane plötzlich auf den ersten Einschnitt (tapty) der Birke und schlägt dabei heftig die Trommel und schreit: Cok! Cok! Auch seine Bewegungen zeigen an, daß er sich zum Himmel erhebt. In «Ekstase» (?!) umkreist er Birke und Feuer, wobei er das Grollen des Donners nachahmt, und stürzt auf einen Schemel, der mit einer Pferdedecke bedeckt ist. Diese Decke stellt die Seele des geopferten Pferdes (pûra) dar. Der Schamane besteigt es und ruft: 

Hab erstiegen eine Stufe,

Aihai, aihai!

Eine Schicht hab ich erreicht!

Sagarbata!

Hab des tapty Kopf erklettert,

Sagarbata!

Bis zum Vollmond mich erhoben,

Sagarbata!

Darauf erregt sich der Schamane noch mehr, und während er weiter seine Trommel schlägt, befiehlt er dem bash-tut-kan-kiski sich zu beeilen. Und wirklich verläßt die Seele der «Person, die den Kopf hält» ihren Körper zur gleichen Zeit wie die Seele des Opferpferdes. Bash-tut-kan-kiski klagt über die Beschwerlichkeit des Wegs, der Schamane ermuntert ihn. Dann steigt er auf den zweiten tapty, d. h. er dringt symbolisch in den zweiten Himmel vor, und schreit:

Hab den zweiten Grund durchbrochen,

Hab die zweite Schicht erstiegen,

Seht, in Trümmern liegt der Grund!

und wieder Blitz und Donner nachahmend verkündet er:

Sagarbata! Sagarbata!

Hab zwei Stufen jetzt erstiegen!

Im dritten Himmel ist der püra sehr müde, und um es ihm zu erleichtern, ruft der Schamane die Gans. Der Vogel erscheint: «Kagak, Kagak! Hier bin ich, kam!» Der Schamane besteigt die Gans und setzt seine Himmelsreise fort. Er beschreibt die Fahrt und macht das Schnattern der Gans nach, die sich ebenfalls über die Schwierigkeiten der Reise beklagt. Im dritten Himmel kommt ein Halt, für den Schamanen die Gelegenheit, von der Müdigkeit seines Pferdes und seiner eigenen zu 22 Das alles ist offenbar Übertreibung infolge der Trunkenheit durch die Durchbrechung der ersten kosmischen Ebene. In Wirklichkeit hat der Schamane ja erst den ersten Himmel erreicht und ist noch nicht bis zum Gipfel der tapty geklettert, er hat sich auch nicht bis zum Vollmond (sechster Himmel) erhoben. 

sprechen. Außerdem gibt er Auskünfte über die Wetteraussichten, über drohende Epidemien und Unglücksfälle und über Opfer, die die Gemeinde darbringen soll.

Wenn sich der bash-tut-kan-kiski gut ausgeruht hat, geht die Reise weiter. Der Schamane ersteigt die Birkenstufen eine nach der andern und gelangt so der Reihe nach in die übrigen himmlischen Regionen. Zur Belebung der Vorstellung finden verschiedene Episoden statt, einige ziemlich grotesk: Karakush, der Schwarze Vogel im Dienst des Schamanen, bekommt Tabak angeboten und jagt den Kuckuck; der Schamane tränkt den pûra und macht dazu das Geräusch eines trinkenden Pferdes. Der sechste Himmel ist der Schauplatz der letzten komischen Episode, der Hasenjagd23. Im fünften Himmel hat der Schamane eine lange Unterhaltung mit dem mächtigen Yayutschi (dem «Höchsten Schöpfer»), der ihm verschiedene Geheimnisse der Zukunft enthüllt; ein Teil davon wird laut mitgeteilt, anderes nur gemurmelt.

Im sechsten Himmel verneigt sich der Schamane vor dem Mond, im siebten vor der Sonne. Er durchreist Himmel auf Himmel bis zum neunten, und wenn er wirklich mächtig ist, zum zwölften und noch höher; die Höhe der Auffahrt hängt einzig von der Kraft des Schamanen ab. Hat der Schamane den Gipfel seines Vermögens erreicht, so macht er halt, senkt die Trommel und ruft demütig Bai Ülgän an:

Fürst, zu dem drei Leitern führen,

Bai Ülgän mit den drei Herden,

Blauer Abhang, der erschienen,

Blauer Himmel, der sich zeiget!

Blaue Wolke, die dahinschwebt,

Blauer Himmel unerreichbar.

Weißer Himmel unerreichbar,

Jahreweite Wasserstelle!

Vater Ülgän, Dreierhabner,

Den des Mondbeils Schneide meidet,

Der den Pferdehuf benutzet.

23 Der Hase ist ein Mondtier, deshalb findet die Hasenjagd im sechsten Himmel, dem Mondhimmel statt. 

Alles Volk erschufst du, Ülgän,

Das da lärmend uns umgibt.

Alles Vieh verliehst du, Ülgän!

Übergib uns nicht dem Unheil,

Laß uns widerstehn dem Bösen!

Zeige uns nicht dem Körmös,

Gib uns nicht in seine Hand!

Der den sternenreichen Himmel Tausend-tausendmal gewendet,

Richte du nicht meine Sünden!

Der Schamane erfährt von Bai Ülgän, ob das Opfer günstig aufgenommen worden ist, und empfängt Wetter- und Erntevoraussagen, außerdem Weisungen über weitere Opfer, welche die Gottheit erwartet. Hier erreicht die «Ekstase» ihren Gipfelpunkt; der Schamane bricht erschöpft zusammen. Bash-tut-kan-kiski tritt herzu und nimmt Trommel und Stock aus seinen Händen. Der Schamane bleibt bewegungslos und stumm. Nach einiger Zeit reibt er sich die Augen, benimmt sich wie einer, der aus tiefem Schlaf erwacht und begrüßt die Anwesenden wie nach langer Abwesenheit.

Es kommt vor, daß das Fest damit endet; häufiger, vor allem bei reichen Leuten, folgt noch ein Tag mit Libationen und Gelagen, bei denen enorme Mengen von Alkohol konsumiert werden24.

24 Harva (Rel. Vorstell. S. 557, Fig. 105) bringt eine Zeichnung, auf der ein altaischer Schamane die Himmelfahrt beim Pferdeopfer ausführt, Anochin veröffentlicht Texte (Gedichte und Gebete) von der Himmelfahrt des Schamanen bei dem Opfer an Karshüt, den beliebtesten Sohn Bai Ülgäns (A. V. Anochin, Materialy po shamanstvu u altajcev, S. 101-104; vgl. Übersetzung und Kommentar W. Schmidts in Ursprung IX. S. 557 bis 365). Zelenin beschreibt das Pferdeopfer der Altai-Kumandinen, das sich ziemlich eng an das von Radlov beschriebene hält bis auf die Himmelsreise des Schamanen mit der Seele des Pferdes zu Sulta-Khan (= Bai Ülgän). die es nicht kennt; s. D. Zelenin. Ein erotischer Ritus in den Opferungen der altaischen Türken, S, 84-86. Bei den Lebed-Tataren opfert man ein Pferd zur Zeit des Vollmonds nach der Sommersonnenwende; das Ziel ist Fruchtbarkeit der Felder - wahrscheinlich eine späte Substitution (Harva. S, 577. nach K. Hildén). Dieselbe «Agrarisation» des Pferdeopfers begegnet bei den Teleuten (das Opfer des 20. Juli «auf den Feldern», Harva, S. 577).

Bar Ülgän und der altaische Schamane

Zu dem obigen Ritual nur einige Bemerkungen. Wie man deutlich sieht, besteht es aus zwei verschiedenen, keineswegs unzertrennlichen Teilen: a) dem Opfer an das Himmelswesen und b) der symbolischen Himmelfahrt des Schamanen und seinem Erscheinen vor Bai Ülgän mit dem geopferten Tier. In der Form, die schon für das 19. Jahrhundert belegt ist, gleicht das altaische Pferdeopfer den Opfern, wie sie im äußersten Nordasien und auch sonst in hocharchaischen Religionen dem höchsten Himmelswesen dargebracht werden, ohne daß dafür die Anwesenheit eines opfernden Schamanen in irgendeiner Weise erforderlich wäre. Auch verschiedene türkische Völker kennen wie schon erwähnt dieses Pferdeopfer an das Himmelswesen, ohne daß sie dazu den Schamanen brauchten. Von den Turktataren abgesehen wurde das Pferdeopfer auch bei den meisten indogermanischen Völkern geübt25 und zwar immer im Hinblick auf einen Himmels- oder Sturmgott. Das gibt doch wohl ein Recht zu der Konjektur, daß die Rolle des Schamanen in dem altaischen Ritus jung ist und daß sie auf anderes abzielt als die Opferung des Tieres an das Höchste Wesen.

Die zweite Überlegung bezieht sich auf Bai Ülgän selbst. Trotz seiner himmlischen Attribute ist Grund zu der Vermutung, daß er nicht eigentlich und nicht von jeher ein höchster Himmelsgott ist. Er zeigt vielmehr den Charakter eines Gottes der «Atmosphäre» und der Fruchtbarkeit, hat er doch eine Genossin und viele Kinder und regiert über die Fruchtbarkeit der Herden und die Fülle der Ernte. Der wahre höchste Himmelsgott der Altaier scheint Tengere Kaira Khan26 («der barmherzige Herr Himmel») zu sein, nach seiner dem samojedischen Num und dem turkomongolischen Tengri «Himmel» recht ähnlichen Struktur zu schließen (s. Die Religionen und das Heilige, S. 88).

Tengere Kaira Khan spielt in den Mythen von Kosmogonie und Weitende die Hauptrolle, während Bai Ülgän darin nie vorkommt. Auffallend ist, daß man für ihn kein Opfer vorsieht, während Bai Ülgän und Erlik Khan unzählige erhalten (Schmidt, Ursprung IX, S. 143). Aber dieser Rückzug aus dem Kult ist das Schicksal fast aller Himmelsgötter (vgl. Religionen, S. 71 ff.). Wahrscheinlich galt das Pferdeopfer ursprünglich Tengere Kaira Khan; wie wir gesehen haben, fügt es sich ja der Klasse der Kopf- und Langknochenopfer ein, die für die arktischen und nordasiatischen Himmelsgottheiten charakteristisch sind (s. den Aufsatz von Gahs). Denken wir daran, daß im vedischen Indien das Pferdeopfer (açvamedha), das ursprünglich Varuwa und wahrscheinlich Dyaus dargebracht wurde, schließlich auf Prajâpati und sogar auf Indra überging (Religionen, S. 128). Dieses Phänomen der langsamen Substitution eines atmosphärischen Gottes (in Ackerbaureligionen eines befruchtenden Gottes) für einen Himmelsgott ist in der Religionsgeschichte ziemlich häufig (s. Religionen, S. 128 ff.).

Wie alle Atmosphäre- und Fruchtbarkeitsgötter ist Bai Ülgän weniger fern, weniger passiv als die reinen Himmelsgottheiten; er nimmt Anteil am Geschick der Menschen und hilft ihnen in ihren täglichen Anliegen. Die «Anwesenheit» dieses Gottes ist konkreter, der «Dialog» mit ihm «menschlicher» und «dramatischer». Man darf wohl annehmen, daß der Sieg des Schamanen über den früheren Opferer beim Pferdeopfer aus einem mehr konkreten, morphologisch reicheren religiösen Erlebnis erwuchs - so wie der Sieg Bai Ülgäns über den alten Himmelsgott. Das Opfer wird nun zu einer Art «Psychophorie», einem Seelenauszug bis zur dramatischen Begegnung zwischen dem Gott und dem Schamanen und einem wirklichen Gespräch (wobei der Schamane  zuweilen sogar die Stimme des Gottes nachahmt).

Es ist leicht zu verstehen, wieso der Schamane, welchem von allen religiösen Erlebnisarten gerade die «ekstatischen» zugeordnet sind, sich bei dem altaischen Pferdeopfer die Hauptrolle aneignen konnte. Seine Ekstasekunst erlaubt ihm den Körper zu verlassen und in den Himmel zu reisen. Es war ihm ein Leichtes diese Reise auch hier wieder vorzunehmen und dabei die Seele des Opfertieres mitzuführen, um sie unmittelbar und konkret Bai Ülgän darzubringen. Daß es sich um eine - wahrscheinlich ziemlich späte - Substitution handelt, zeigt auch die mäßige Intensität der «Trance». Bei dem von Radlov beschriebenen 

Opfer ist die «Ekstase» deutlich unecht. In Wirklichkeit spielt der Schamane, und zwar angestrengt, eine Himmelfahrt (nach dem traditionellen Kanon: Vogelflug, Umritt usw.); die Absicht des Ritus ist mehr eine dramatische als eine ekstatische. Daraus darf man freilich nicht schließen, daß die altaischen Schamanen der Trance nicht fähig sind; sie gehört nur zu anderen Arten von Sitzungen als zum Pferdeopfer.

Abstieg in die Unterwelt (Altai)

Die Himmelfahrt des Schamanen hat ihr Gegenstück in seinem Abstieg in die Unterwelt. Diese Zeremonie ist bei weitem schwieriger, und wenn auch den zugleich «weißen» und «schwarzen» Schamanen möglich, so natürlich doch die Spezialität der schwarzen. Radlov konnte keiner einzigen schamanischen Unterweltsfahrt beiwohnen. Anochin, der die Texte von fünf Auffahrtszeremonien gesammelt hat, traf nur einen einzigen Schamanen (Mampüi), der sich bereit fand ihm die Formeln einer Höllenfahrtssitzung aufzusagen. Dieser Mampüi war ein «weiß-schwarzer» Schamane; vielleicht erwähnte er aus diesem Grund bei seiner Anrufung des Erlik (= ärlik) Khan auch Bai Ülgän, Anochin27 gibt nur die Texte der Zeremonie wieder ohne irgendeine Nachricht über das eigentliche Ritual.

Nach diesen Texten scheint der Schamane die sieben «Stiegen» oder unterirdischen Regionen (genannt pudak, «Hindernisse») senkrecht eine nach der anderen hinabzusteigen. Er wird dabei von seinen Ahnen und sieben Hilfsgeistern begleitet. Nach der Überwindung eines jeden «Hindernisses» beschreibt er eine neue unterirdische Epiphanie, wobei das Wort schwarz fast in jedem Vers vorkommt. Beim zweiten «Hindernis» kommt anscheinend der Klang von Metallen vor, beim fünften hört er Wogen und das Pfeifen des Windes, beim siebten schließlich, an der Mündung der neun unterirdischen Flüsse, erblickt er den Palast Erlik Khans, der aus Stein und schwarzem Ton erbaut und nirgends zugänglich ist. Der Schamane spricht vor Erlik ein langes Gebet (in dem er auch Bai Ülgän, den «Oberen», erwähnt), darauf kehrt er in die Jurte zurück und teilt den Anwesenden die Ergebnisse seiner Reise mit.

27 A. V, Anochin, Material y po shamanstvu u altajcev, S. 84-91; vgl. den Kommentar von W. Schmidt, Ursprung, IX, S. 384-393.

Potanin gibt eine gute Beschreibung des Abstiegrituals - ohne die Texte - nach den Mitteilungen eines orthodoxen Priesters, Tschivalkov, der in seiner Jugend mehreren solchen Zeremonien beiwohnte und sogar zum Chor gehörte28. Zwischen Potanins Ritual und Anochins Texten bestehen einige Differenzen, zweifellos deshalb, weil es sich um zweierlei Stämme handelt, doch auch weil Anochin nur die Texte der Anrufungen und Gebete und keinerlei Erklärung des Rituals gibt. Der wichtigste Unterschied besteht in der Richtung: sie ist senkrecht bei Anochin, horizontal und zweifach senkrecht (Aufstieg, dann Abstieg) bei Potanin.

Der Schamane beginnt seine Reise von seiner Jurte aus. Er schlägt den Weg nach Süden ein, durchquert die benachbarten Gegenden, erklimmt die Berge des Altai und beschreibt die chinesische Wüste aus rotem Sand. Dann reitet er über eine gelbe Steppe, die eine Elster nicht überfliegen könnte. «Kraft der Lieder kommen wir durch!» ruft der Schamane den Anwesenden zu und stimmt ein Lied an, zu dem sie den Chor bilden. Eine weitere Steppe öffnet sich vor ihm, eine fahle Steppe, über die kein Rabe fliegen könnte. Wieder wendet sich der Schamane an die magische Kraft der Gesänge und die Anwesenden begleiten ihn im Chor. Schließlich kommt er zum Eisernen Berg, Temur taiksha, der mit seinen Gipfeln an den Himmel stößt. Die Ersteigung ist gefährlich, der Schamane mimt den schwierigen Aufstieg und atmet tief, erschöpft kommt er zum Gipfel.

Der Berg ist übersät mit den weißen Gebeinen anderer Schamanen, die aus Mangel an Kraft den Gipfel nicht erreichten, und von den Gebeinen ihrer Pferde. Nachdem er den Berg hinter sich hat, bringt ein weiterer Ritt ihn bis zu einem Loch, dem Eingang in die andre Welt, yer mesi, «die Kiefer der Erde», oder yer tunigi, «das Rauchloch der Erde». Der Schamane begibt sich hinein und kommt zu einer Ebene und an ein Meer, über das eine Brücke von der Breite eines Haares geht; er bedient sich ihrer, und um ein packendes Bild von der Überschreitung dieser gefährlichen Brücke zu geben, schwankt er, bis er beinahe fällt. Auf dem Grund des Meeres sieht er die Gebeine von unzähligen Schamanen, die hineingefallen sind, denn kein Sünder kommt über die 28 S. N. Potanin, Otcherki severo-zapaduoj Mongolii, 4. Bd., S. 64-68; Auszug bei Mikhailowski, S. 72 f.; Hacva, Rel. Vorstell., S. 558-559; Kommentar bei Schmidt, a. a. O., S. 393-398.

Brücke. Der Schamane kommt an dem Ort vorüber, wo die Sünder gefoltert werden. Er hat gerade Zeit genug, einen Mann mit dem Ohr an einen Pfosten genagelt zu sehen, der im Leben an den Türen gehorcht hat; ein Verleumder ist an seiner Zunge aufgehängt, ein Fresser von den besten Gerichten umgeben, die er nicht erreichen kann, usw.

Nach Überquerung der Brücke reitet der Schamane wieder weiter und zwar zur Wohnung Erlik Khans. Es gelingt ihm dort einzudringen trotz den Hunden, die sie bewachen, und dem Pförtner, der sich schließlich durch Geschenke überzeugen läßt. (Bier, gesottenes Rindfleisch und Iltishäute sind zu diesem Zweck vor der Abreise des Schamanen hergerichtet worden.) Der Pförtner nimmt die Geschenke und läßt den Schamanen in Erliks Jurte eintreten. Nun beginnt die bewegteste Szene. Der Schamane wendet sich zur Tür des Zeltes, in dem sich die Sitzung abspielt, und tut, als ob er sich Erlik nähern würde. Er verneigt sich vor dem König der Toten und versucht die Aufmerksamkeit Erliks zu erregen, indem er seine Stirn mit der Trommel berührt und mehrmals mergu! mergu! ruft. Gleich darauf beginnt der Schamane zu schreien - der Gott hat ihn bemerkt und ist sehr erzürnt. Der Schamane flüchtet sich an die Tür des Zeltes und die Zeremonie wiederholt sich dreimal. Endlich richtet Erlik Khan das Wort an ihn: ..Die Federn haben, können nicht hierher fliegen, die Krallen haben, können nicht hierher kommen; du schwarzer abscheulicher Käfer, wo kommst du her?!»

Der Schamane nennt ihm seinen Namen und die Namen seiner Ahnen und ladet ihn zum Trinken ein; er tut, als ob er Wein in seine Trommel gießen würde und bietet ihn dem König der Unterwelt dar. Erlik nimmt an und beginnt zu trinken, und der Schamane stellt alles dar bis zu Erliks Aufstoßen. Dann bringt er Erlik einen vorher geschlachteten Ochsen dar und verschiedene Kleidungsstücke und Pelze, die an einem Strick aufgehängt sind. Dabei berührt der Schamane einen jeden Gegenstand mit der Hand, doch bleiben die Pelze und Kleider im Besitz ihres Eigentümers.

Inzwischen betrinkt Erlik sich vollständig und der Schamane macht mit Anstrengung die Phasen seiner Trunkenheit nach. Der Gott wird wohlwollend, segnet ihn, verspricht Vermehrung des Viehs usw. Der Schamane kehrt fröhlich auf die Erde zurück, wobei er diesmal nicht ein Pferd reitet, sondern eine Gans; er geht in seiner Jurte auf den Zehenspitzen herum, wie wenn er flöge, und macht den Schrei des Vogels: 

Naingak! naingak! Die Sitzung geht zu Ende, der Schamane setzt sich nieder, einer nimmt ihm die Trommel aus der Hand und schlägt dreimal darauf. Der Schamane reibt sich die Augen, wie wenn er aufwachte. Man fragt ihn: «Sie sind gut geritten? Haben Sie Erfolg gehabt?» Und er antwortet: «Ich bin ausgezeichnet gereist. Ich bin sehr gut aufgenommen worden!»

Solche Abstiege zur Unterwelt unternimmt man vor allem, um die Seele eines Kranken zu suchen. Weiter unten folgen einige sibirische Berichte über diese Reise. Natürlich findet die Unterweltsfahrt des Schamanen auch zu dem umgekehrten Zweck statt, nämlich um die Seele des Abgeschiedenen in das Reich Erliks zu geleiten.

Wir werden später noch Gelegenheit haben, diese beiden Typen ekstatischer Reisen - zum Himmel und in die Unterwelt - miteinander zu vergleichen und bei einer jeden das kosmographische Schema zu zeigen, das sie enthält. Für den Augenblick wollen wir jedoch das von Potanin beschriebene Abstiegsritual genauer betrachten. Gewisse Details gehören speziell den Unterweltsfahrten an, so z. B. Hund und Pförtner, die den Eingang zum Totenreich verwehren - ein bekanntes Motiv der Unterweltsmythologien, dem wir noch öfter begegnen werden, Nicht so spezifisch unterweltlich ist das Motiv von der haarbreiten Brücke. Die Brücke symbolisiert den Übergang ins Jenseits, jedoch nicht notwendig in die Unterwelt; nur die Schuldigen können nicht darüberkommen und werden in den Abgrund gestürzt. Das Überschreiten einer außerordentlich engen Brücke, die zwei kosmische Regionen verbindet, bezeichnet auch den Übergang von einer Seinsweise zur anderen, vom Nichteingeweihten zum Eingeweihten, vom «Lebenden» zum «Toten».

Potanins Bericht enthält einiges Disparate: Der Schamane wendet sich auf seinem Ritt nach Süden, erklettert einen Berg und steigt dann durch ein Loch in die Unterwelt hinab, von wo er nicht mehr auf seinem Pferd, sondern auf einer Gans zurückkommt. Dieses letztere Detail hat etwas Verdächtiges - nicht, daß es schwer wäre, sich einen Flug innerhalb des Loches vorzustellen, das zur Unterwelt führt“, sondern 29 In der sibirischen Folklore wird der Held manchmal durch einen Adler oder anderen Vogel vom Grund der Unterwelt an die Erdoberfläche getragen. Bei den Golden kann der Schamane die ekstatische Reise in die Unterwelt nur mit Hilfe eines Geistervogels (Koori) machen, der ihm die Rückkehr auf die Erde sichert; den schwierigsten Teil der Rückreise macht der Schamane auf dem Rücken seines Koori (vgl. Harva, Rd. Von tell. 338).

weil der Flug auf dem Gansrücken an die Himmelfahrt des Schamanen erinnert. Sehr wahrscheinlich haben wir es hier mit einer Kontamination der beiden Themen Abstieg und Aufstieg zu tun.

Von dem Reiseweg des Schamanen zu Pferd nach Süden, dann einen Berg hinan und dann erst hinunter in den Schlund der Unterwelt hat man die vage Erinnerung einer Reise nach Indien ablesen wollen, ja man versuchte die Unterweltsvisionen sogar mit den Bildern der Höhlentempel in Turkestan und Tibet zusammenzubringen30. Südliche, letzten Endes indische Einflüsse in der zentralasiatischen Mythologie und Folklore sind gesichert, doch haben diese Einflüsse eine mythische Geographie gebracht und nicht vage Gedächtnisspuren einer wirklichen (Orographie, Reiserouten, Tempel, Höhlen usw.). Wahrscheinlich hat Erliks Unterwelt iranische Vorbilder, doch das würde hier zu weit führen und sei deshalb für eine spätere Untersuchung zurückgestellt.

Der Schamane als Seelenführer (Allaier, Golden, Juraken)

Für die Völker Nordasiens ist die andere Welt ein umgekehrtes Bild der unseren. Alles geht dort vor sich wie hier, nur verkehrt; wenn es auf Erden Tag ist, ist es im Jenseits Nacht (deshalb finden die Totenfeste nach Sonnenuntergang statt - erst jetzt wachen die Toten auf und beginnen ihren Tag); dem Sommer der Lebenden entspricht Winter im Totenreich; sind Wild oder Fische rar auf der Erde, so gibt es besonders viel davon in der andern Welt, usw. Die Beltiren geben dem Toten die Zügel und die Weinflasche in die linke Hand, denn sie entspricht der rechten Hand des Lebenden. Die Flüsse in der Unterwelt fließen zu ihren Quellen hinauf, und alles, was auf der Erde umgekehrt ist, hat bei den Toten seine richtige Lage; deshalb kehrt man die Gegenstände um, die man zum Gebrauch des Toten auf dem Grabe opfert, wenn man sie nicht gleich zerbricht, denn was hier zerbrochen ist, ist dort ganz und umgekehrt31.

Die Totengeographie der zentral- und nordasiatischen Völker ist ziemlich verwickelt, da sie fortwährend mit religiösen Vorstellungen vom Süden her kontaminiert wurde. Die Toten wenden sich entweder nach Norden oder nach Westen (Harva, S. 346). Aber es gibt auch die Vorstellung, daß die Guten sich zum Himmel erheben und die Sünder unter die Erde steigen (so zum Beispiel bei den Altai-Tataren, s. Radlov, Aus Sibirien II, S. 12); doch scheint diese moralische Auslegung der Totenwege eine ziemlich späte Neuerung (Harva, S. 360 ff.). Die Jakuten glauben, daß nach dem Tod Gute wie Böse zum Himmel aufsteigen, wo ihre Seelen (kut) die Gestalt von Vögeln annehmen (Harva, ebd.). Wahrscheinlich setzen sich die «Vogelseelen» auf die Äste des Weltenbaums, ein mythisches Bild, das wir auch anderwärts treffen. Andererseits wohnen nach jakutischem Glauben die bösen Geister, die ja auch Seelen von Toten sind, unter der Erde - wir haben es also mit einer zweifachen religiösen Tradition zu tun32.

Doch trifft man auch die Vorstellung, daß gewisse Privilegierte, deren Körper man verbrennt, mit dem Rauch zum Himmel auffliegen, wo sie eine der unseren völlig gleiche Existenz führen. Das sagen die Buriäten von ihren Schamanen und der nämliche Glaube findet sich bei den Tschuktschen und Korjaken (s. u. S. 240 ff.). Der Gedanke, daß das Feuer zu einem Aufenthalt im Himmel verhilft, wird bestätigt durch den Glauben, daß die vom Blitz Getroffenen zum Himmel fliegen. Wie auch die Natur des Feuers sei, es verwandelt den Menschen zum «Geist»; dadurch gelten die Schamanen als «Meister des Feuers» und werden gegen glühende Kohlen gefeit. «Meisterschaft über das Feuer» wie Einäscherung kommen gewissermaßen einer Initiation gleich. Ein ähnlicher Gedanke liegt der Vorstellung zugrunde, daß die Heroen und alle eines gewaltsamen Todes Gestorbenen zum Himmel aufsteigen (Harva, S. 362); ihr Tod wird als eine Initiation betrachtet. Dagegen kann ein Tod durch Krankheit den Abgeschiedenen 2 Nach Sicroszewski verlegen bestimmte Jakuten das Totenreich «über den achten Himmel, in den Norden, in eine Gegend, wo ewige Nacht herrscht, wo ohne Unterlaß eisiger Wind weht, wo die bleiche Sonne des Nordens glänzt, und der Mond sich nur von hinten zeigt, wo die Mädchen und Burschen ewig jungfräulich bleiben . . .», während es nach anderen unter der Erde eine andere Welt gibt ganz gleich der unseren, in die man durch die Öffnung gelangen kann, welche die Unterirdischen für ihre Lüftung belassen haben (Du chamanisme, S. 206 ff.). Vgl. auch B. D. Shimkin, A sketch of the Ket, or Yenisei Ostyak, S. 166 ff.

nur in die Unterwelt bringen, denn die Krankheit kommt von den bösen Geistern oder den Toten. Wenn bei den Altaiern und Telengiten jemand krank wird, sagen sie: «Jetzt wird er von den körmös (den Toten) aufgefressen.» Und wer gestorben ist, ist «von den körmös aufgefressen worden» (Harva, S. 367).

Aus diesem Grund verabschieden sich die Golden von dem Toten, den sie beerdigt haben, mit der Bitte, er möge nicht Witwe und Kinder mitnehmen. Die Gelben Uiguren sagen: «Nimm dein Kind nicht mit, dein Vieh und deine Habe!» Und wenn jemandem Witwe, Kinder oder Freunde bald im Tode folgen, glauben die Teleuten, daß er ihre Seelen mitgenommen hat (Harva, S. 281, vgl. auch S. 309). Die Gefühle gegen die Toten sind ambivalent; auf der einen Seite verehrt man sie, ladet sie zu Totenmählern, betrachtet sie mit der Zeit als Schutzgeister der Familie, auf der anderen fürchtet man sich vor ihnen und ergreift alle Vorsichtsmaßregeln gegen ihre Rückkehr unter die Lebenden. Diese Ambivalenz kann man auf zwei gegensätzliche, einander ablösende Einstellungen zurückführen: Man fürchtet die neuen Toten, die alten aber verehrt man und erwartet ihre Protektion. Die Furcht vor den Toten hat ihren Grund darin, daß ein jeder Abgeschiedene sich zuerst gegen die neue Seinsweise wehrt; er will leben und kehrt zu den Seinen zurück. Und das stört das geistige Gleichgewicht der Gemeinschaft. Da der eben Verstorbene der Welt der Abgeschiedenen noch nicht eingegliedert ist, sucht er seine Familie, seine Freunde, sogar seine Herden mitzunehmen; er möchte sein Leben fortsetzen, das jäh unterbrochen wurde, das heißt unter den Seinen «leben». Man fürchtet also weniger eine Bösartigkeit des Toten als seine Unkenntnis der neuen Lage, die Weigerung «seine Welt» zu verlassen.

Daher all die Vorkehrungen, daß der Tote nicht ins Dorf zurückkehren kann: Bei der Rückkehr vom Friedhof schlägt man einen anderen Weg ein, um die Seele des Toten irrezuführen; man verläßt das Grab in aller Eile und reinigt sich beim Heimkommen; man zerstört auf dem Friedhof alle Transportmittel (Schlitten, Karren - all das dient den Toten in ihrem neuen Land); man bewacht einige Nächte lang die Wege, die zum Dorf füllten, und zündet Feuer an (Harva, S. 282 ff.). All diese Vorsichtsmaßregeln vermögen aber die Seelen der Toten nicht zu hindern, daß sie drei oder sieben Tage um ihre Häuser streichen (ebd., S. 287 ff.). Ein anderer Gedanke steht damit in Zusammenhang, nämlich daß die Toten sich erst nach dem Totengelage endgültig zum Jenseits wenden, das man ihnen zu Ehren sieben oder vierzig Tage nach dem Hinschied gibt33. Bei dieser Gelegenheit opfert man ihnen Lebensmittel und Getränke, die man ins Feuer wirft, besucht den Friedhof, opfert das Lieblingspferd des Abgeschiedenen, verzehrt es am Grab und hängt den Kopf des Tieres an einem Pfahl auf, den man darnach unmittelbar in das Grab steckt (Abakan-Tataren, Beltiren, Sagai, Karginz usw.; Harva, S. 322 ff.). Außerdem läßt man durch einen Schamanen eine «Reinigung» der Wohnung des Toten vornehmen. Die Zeremonie enthält unter anderem die dramatische Suche nach der Seele des Verstorbenen und ihre schließliche Austreibung durch den Schamanen (Teleuten, Anochin, Materialy, S. 20 ff., Harva, S. 324). Gewisse altaische Schamanen begleiten sogar die Seele des Toten bis in die Unterwelt, und um von ihren Bewohnern nicht erkannt zu werden, beschmieren sie sich das Gesicht mit Ruß (Radlov, Aus Sibirien II, S. 55). Bei den Turuschansker Tungusen wendet man sich nur dann an den Schamanen, wenn der Tote noch lange nach dem Leichenbegängnis an seinen alten Stätten spukt (Harva, S. 541).

Die Rolle des Schamanen im altaischen und sibirischen Totenwesen wird aus den erwähnten Bräuchen deutlich. Der Schamane wird unentbehrlich, wenn der Tote zögert die Welt der Lebenden zu verlassen. In einem solchen Fall vermag nur der Schamane den Seelengeleiter zu machen, denn einerseits kennt er den Weg durch die Unterwelt gut, weil er ihn selber oft gemacht hat, und andererseits kann nur er die ungreifbare Seele des Toten einfangen und an ihren neuen Wohnort bringen. 

Aus der Tatsache, daß diese seelengeleitende Reise erst beim Totengelage und bei der «Reinigungs» Zeremonie stattfindet und nicht unmittelbar nach dem Tod, darf man entnehmen, daß die Seele des Toten drei, sieben oder vierzig Tage noch auf dem Friedhof wohnt und sich erst dann endgültig zur Unterwelt wendet34. Wie dem auch sei, bei bestimmten Völkern (so bei den Altaiern, Golden, Juraken) führt der Schamane die Toten zu Ende des Totenmahles in das Jenseits, während er bei anderen (Tungusen) nur dann zu diesem Zweck gerufen wird, wenn der Tote nach Ablauf der üblichen Frist noch weiter die Stätten der Lebenden heimsucht. Wenn man bedenkt, daß bei anderen Völkern mit einer Art Schamanismus (z. B. den Lolos) der Schamane alle Totenseelen ohne Unterschied zu ihrer Wohnstatt zu führen hat, so scheint der Schluß erlaubt, daß dies ursprünglich in ganz Nordasien der Fall war und daß die Neuerungen (wie bei den Tungusen) erst spät erfolgten.

So beschreibt Radlov die Sitzung, bei der die Seele einer vor vierzig Tagen verstorbenen Frau in die Unterwelt geführt werden soll: Die Zeremonie findet am Abend statt. Der Schamane beginnt mit dem Umkreisen der Jurte, wobei er die Trommel schlägt; dann betritt er das Innere des Zelts, nähert sich dem Feuer und ruft die Abgeschiedene an. Auf einmal ändert sich die Stimme des Schamanen und er beginnt mit gellender Kopfstimme zu sprechen, denn in Wirklichkeit ist es die Tote, die jetzt spricht. Sie klagt, daß sie den Weg nicht weiß, daß sie Angst hat, sich von den Ihrigen zu entfernen usw. Zuletzt ist sie aber damit einverstanden, von dem Schamanen fortgeführt zu werden, und die beiden machen sich in das unterirdische Reich auf. Bei der Ankunft dort verweigern die Seelen der Toten dem Schamanen die Aufnahme der neuen Seele. Bitten bleiben ohne Erfolg; man bringt den Toten Aquavit dar. Die Sitzung belebt sich und wird grotesk, denn die Seelen der Toten beginnen - durch die Stimme des Schamanen - zu streiten und singen alle miteinander. Schließlich lassen sie sich herbei, die Tote aufzunehmen. Der zweite Teil des Rituals stellt die Rückreise dar. Der Schamane tanzt und schreit, bis er bewußtlos zu Boden fällt (Radlov, Aus Sibirien II, S. 52-55).

Die Golden haben zwei Totenzeremonien, das nimgan, das sieben Tage oder noch länger (zwei Monate) nach dem Tod stattfindet, und 34 Für die Mehrzahl der turktatarischen und sibirischen Völker hat freilich der Mensch drei Seelen, von denen mindestens eine immer im Grabe bleibt. 

das kazatauri, die große Zeremonie einige Zeit nach der ersten, die mit dem Fortführen der Seele in die Unterwelt endigt. Beim nimgan kommt der Schamane mit seiner Trommel in das Haus des Toten, sucht die Seele, fängt sie und bannt sie in eine Art Kissen (fanja). Es folgt das Gelage, an dem alle Verwandten und Freunde des im Kissen anwesenden Toten teilnehmen; der Schamane bringt ihm Aquavit dar. Das kazatauri beginnt ebenso. Der Schamane legt seine Tracht an, ergreift die Trommel, und sucht rund um die Jurte nach der Seele. Dabei tanzt er und erzählt von den Schwierigkeiten des Weges in die Unterwelt. Schließlich fängt er die Seele und bringt sie wieder ins Haus, wo er sie in dem Kissen (fanja) tanzen läßt. Das Gelage geht bis spät in die Nacht hinein weiter und die Lebensmittel, die übrigbleiben, werden von dem Schamanen ins Feuer geworfen. Die Frauen tragen ein Bett in die Jurte, der Schamane legt das fanja auf das Bett, bedeckt es mit einer Decke und sagt dem Toten, daß er schlafen soll. Er selbst streckt sich in der Jurte aus und schläft ein.

Am nächsten Tag zieht er wieder seine Tracht an und weckt den Toten mit der Trommel auf. Es folgt ein neues Gelage, und wenn es Nacht geworden ist - die Zeremonie dauert mehrere Tage -, legt der Schamane das fanja wieder aufs Bett und bedeckt es mit einer Decke. An einem Morgen endlich beginnt der Schamane seinen Gesang und rät dem Toten, gut zu essen, aber wenig zu trinken, denn die Reise in die Unterwelt sei für einen Betrunkenen außerordentlich schwierig. Bei Sonnenuntergang trifft man die Vorbereitungen für die Abreise. Der Schamane singt, tanzt und bestreicht sein Gesicht mit Ruß. Er ruft die Hilfsgeister an und bittet sie, ihn und den Toten ins Jenseits zu führen. Er verläßt kurz die Jurte und steigt auf einen Baum mit Einschnitten, der vorher errichtet wurde; von dort sieht er den Weg in die Unterwelt. (Er hat dabei den Weltenbaum erstiegen und befindet sich auf dem Gipfel der Welt. ) Dabei sieht er auch noch vieles andere: viel Schnee, reiche Jagd, glücklichen Fischfang usw.

Wenn er in die Jurte zurückkehrt, ruft er zwei mächtige Schutzgeister zur Hilfe herbei, butchu, eine Art Monstrum mit einem einzigen Fuß, Menschengesicht und Federn, und koori, einen Vogel mit langem Hals. (Es gibt Holzfigürchen von diesen mythischen Wesen, vgl. Harva, Fig. 39-40, S. 339. Der Schamane trägt sie bei seinem Abstieg in die Unterwelt mit sich.) Ohne die Hilfe dieser beiden Geister 

könnte der Schamane nicht aus der Unterwelt zurückkommen; den schlimmsten Teil des Rückweges macht er auf dem Rücken der koori. Nachdem er bis zur Erschöpfung schamanisiert hat, setzt er sich, die Augen nach Westen gerichtet, auf ein Brett, das einen sibirischen Schlitten darstellt. Man legt das Kissen (fanja) mit der Seele des Toten und einen Korb mit Lebensmitteln neben ihn. Der Schamane bittet die Geister, die Hunde an den Schlitten anzuschirren und verlangt auch einen «Diener» zur Gesellschaft auf der Reise. Noch einige Augenblicke und er ist ins Totenland «abgereist».

Die Gesänge, die er anstimmt, und die Worte, die er mit dem «Diener» wechselt, lassen seinen Reiseweg verfolgen. Zuerst ist der Weg leicht, doch die Schwierigkeiten wachsen, je näher man dem Bereich der Toten kommt. Ein großer Fluß versperrt den Weg und man muß ein guter Schamane sein, wenn man das Gefährt ans andere Ufer bringen will. Etwas später bemerkt man Spuren von Menschen: Fußspuren, Asche, Holzstücke; das Dorf der Toten ist also nicht mehr weit. Und wirklich, man hört schon nahes Hundegebell, man erkennt den Rauch der Jurten, man begegnet den ersten Renntieren. Die beiden sind in der Unterwelt angekommen. Sofort versammeln sich die Toten und fragen den Schamanen nach seinem Namen und nach dem Namen des Neugekommenen. Der Schamane hütet sich, seinen wahren Namen zu sagen; er sucht unter der Menge der Geister die nahen Verwandten der Seele, die er bringt, um sie ihnen anzuvertrauen. Nun beeilt er sich wieder auf die Erde zu kommen, und wenn er angekommen ist, erzählt er ausführlich, was er im Land der Toten gesehen hat samt den Eindrücken des Toten, den er begleitete. Jedem von den Anwesenden bringt er Grüße von seinen verstorbenen Verwandten und er verteilt sogar kleine Geschenke von ihnen. Am Ende der Zeremonie wirft der Schamane das Kissen (fanja) ins Feuer. Damit enden die eigentlichen Verpflichtungen der Lebenden gegen den Abgeschiedenen35. Eine ähnliche Zeremonie findet, weit entfernt von den Golden, bei den Wald-Juraken in Zentralsibirien statt. Der Schamane sucht die 35 Harva, Relig. Vorstell., S. 334-540, 345, nach I. A. Lopatin, Goldy Amurskie, Ussurijskie i Sungarijskie (Wladivostock 1922) und P. P. Shimkewitch, Materialy dlja izutchenija shamanstva u goldov (Chabarovsk 1896). Das Wichtigste aus dem Buch von Shimkevitch war schon in dem Artikel von W. Grube. Das Schamanentum bei den Golden (Globus 1897. 71. Bd.. S. 89-93) zusammengefaßt. Eine ähnliche Zeremonie gibt es bei den Tungusen, vgl. Shirokogorov. Psychomental Complex, S. 309. 

Seele des Toten und nimmt sie in die Unterwelt mit. Das Ritual spielt sich auf zweimal ab. Am ersten Tag erfolgt der Abstieg zum Totenland, am zweiten kommt der Schamane allein auf die Erde zurück. Die Lieder, die er singt, ermöglichen es, seinen Abenteuern zu folgen. Er trifft auf einen Fluß voll Holzstücken; sein Vogelgeist, jorra, bahnt ihm den Weg über diese Hindernisse (wahrscheinlich alte, ausrangierte Skier der Geister). Ein zweiter Fluß ist voll von Resten alter Schamanentrommeln, ein dritter unbefahrbar durch die Genickwirbel toter Schamanen. Jorra bahnt dem Schamanen den Weg und er kommt an das Große Wasser, auf dessen anderer Seite sich das Reich der Schatten erstreckt. Die Toten setzen dort ihre irdische Existenz fort; der Reiche ist weiter reich, der Arme arm. Doch werden sie wieder jung und bereiten sich darauf vor, auf Erden wiedergeboren zu werden. Der Schamane führt die Seele zu ihren Verwandten. Wie er dem Vater des Toten begegnet, ruft dieser: «Schau, der Sohn ist da!» Die Rückkehr des Schamanen erfolgt auf einem anderen Weg und ist reich an Abenteuern; der Reisebericht beansprucht einen ganzen Tag. Der Schamane begegnet nacheinander einem Hecht, einem Renntier, einem Hasen usw.; er erjagt sie und bringt Jagdglück mit auf die Erde36.

Manche von diesen Themen schamanischer Unterweltsfahrt sind in die mündliche Literatur der sibirischen Völker eingegangen. So erzählt man die Abenteuer des buriätischen Heros Mu-monto, der an Stelle seines Vaters in die Unterwelt hinabsteigt und, auf die Erde zurückgekehrt, die Qualen der Sünder beschreibt (Harva, a. a. O., S. 354 f.). A. Castrén hat bei den Tataren der Sajansteppe die Geschichte von Ku-baiko, dem mutigen Mädchen aufgezeichnet, das in die Unterwelt hinabsteigt, um den Kopf seines von einem Untier enthaupteten Bruders zurückzubringen. Nachdem sie viele Abenteuer erlebt und den Qualen der verschiedenen Sünder beigewohnt hat, kommt Kubaiko zum König 36 T. Lehtisalo, Entwurf einer Mythologie der futak-Samoieden (Helsinki 1927), S. 153—135. Ebd., S, 135-137. über die rituellen Gesänge der samojedischen Schamanen. Die Juraken glauben, daß einige von den Menschen nach dem Tode zum Himmel steigen, aber ihre Zahl ist gering und umfaßt nur die, welche in ihrem Erdenleben fromm und rein waren (ebd., S. 138), Die postmortale Himmelfahrt ist auch in den Märchen bezeugt: Ein Alter, Vyriirje Seerradeetta, teilt seinen zwei jungen Frauen mit, daß der Gott (Num) ihn zu sich ruft und daß am nächsten Tag ein Eisendraht vom Himmel hcrabkommen wird; an diesem Draht wird er bis zur Wohnstatt Gottes klettern {ebd., S. 139). Vgl. das Motiv vom Aufstieg an einer Liane, einem Baum, einer Binde unten S. 449 ff.

der Unterwelt, Irle-Khan, selbst. Dieser erlaubt ihr den Kopf ihres Bruders zurückzubringen, wenn sie siegreich aus einer Prüfung hervorgeht: sic muß einen Widder aus der Erde ziehen, der so tief eingegraben ist, daß man nur mehr die Hörner sieht. Kubaiko besteht die Heldentat und kehrt mit dem Kopf ihres Bruders und dem wunderbaren Wasser, das ihr der Gott zu seiner Auferweckung gegeben hat, auf die Erde zurück37.

Die Tataren haben eine beträchtliche Literatur über diesen Gegenstand, doch handelt es sich mehr um zyklische Heldengedichte, in denen die Hauptperson unter vielen anderen Proben auch in die Unterwelt hinabsteigen muß38. Nicht immer haben solche Abstiege schamanische Struktur, das heißt basieren auf der Macht des Schamanen, sich ungestraft mit den Seelen der Toten zu befassen, die Seele des Kranken in der Unterwelt zu suchen oder einen Verstorbenen dorthin zu begleiten. Die tatarischen Helden haben bestimmte Proben zu bestehen, die, wie wir bei Kubaiko gesehen haben, ein heroisches Initiationsschema bilden und sich an die Kühnheit, den Mut und die Kraft der Person wenden. Immerhin sind in der Kubaiko-Legende gewisse Elemente schamanisch: Das junge Mädchen steigt in die Unterwelt hinab, um von dort den Kopf seines Bruders, das heißt seine «Seele», zurückzubringen“, ganz wie der Schamane die Seele des Kranken aus der Unterwelt zurückbringt; sie beschreibt die Folterungen in der Unterwelt, die, wenn auch von südasiatischen oder altorientalischen Gedanken beeinflußt, doch einiges von der Unterweltstopographie erkennen lassen, von der überall auf der Welt die Schamanen als erste den Lebenden Mitteilung gemacht haben. Und wie man in der Folge noch deutlicher sehen wird, sind einige von den berühmtesten Unterweltsreisen, die der Erhellung des menschlichen Schicksals nach dem Tode dienten, insofern von «schamanischer» Struktur, als sie die Ekstasetechnik der Schamanen verwenden. 

37 A. Caslrin. Nordische Reisen und Forschungen, 3. Bd. (St. Petersburg 1833), S. 147 ff.

38 S. die gute Zusammenfassung der Texte von Radlov und Castrén bei Chadwick, The Grouch of Literature, 3. Bd., S. 81 ff. Vgl. auch N. Poppe. Zum Khalkhamongoli-sehen Heldenepos (Asia Major, 5. Bd,, 1930, S. 183-213), bes. S. 202 ff. (die Tat des Bolot Khan),

39 Dasselbe «Orpheusmotiv» bei den Mandschu, Polynesiern und Nordamerikanern; vgl. u. S. 232, 298 ff. 351 ff. 

1

Man erkennt ans dieser Beschreibung, wie falsch es ist Ulu-Toion unter die «niederen» von den «unteren» Göttern einzureihen, vereinigt er doch die Attribute des Herrn der Tiere, des Demiurgen und sogar noch eines Fruchtbarkeitsgottes. 

2

Materials po shamanstvu u altajcev, S. 33.

16 Anochin, Materialy, S. 54; Harva, Rel. Vorttell., S. 482; W. Schmidt, Ursprung IX, S. 244.