Ich hatte ein Einzelzimmer. Das war schwer zu bekommen und kostete ein Vermögen, aber ich war berühmt, und Wellroth war tüchtig. So blieb das Bett neben mir leer, und nachts konnte ich schlafen oder auch nicht, ohne daß das Leiden eines anderen mich störte. Es gab einen Fernseher und ein Radio, und an der Wand stand, düster und drohend, eine Gruppe von Geräten, die nach Schläuchen und Schmerz aussahen; aber sie kamen nicht zum Einsatz, nicht an mir.
Mir ging es ganz gut. Gesundheitlich, meine ich. Ein kompliziert gebrochenes Bein, ein primitiv gebrochener Arm, eine mittelschwere Gehirnerschütterung. Ich hatte Glück gehabt. Das sagten alle: Wellroth, die Ärzte, der Oberarzt, ja sogar ein von mystischem Respekt umwehter Professor, der täglich für ein paar Minuten sein Gesicht über mein Bett hielt. Mein Bein steckte in einem dicken Gips, der an einem eisernen Gestell befestigt war; eingegipst war auch mein linker Arm, und um den Hals trug ich eine eisenharte Halskrause, ähnlich der von Königin Elisabeth auf alten Renaissancestichen. Daß ich mich nicht bewegen konnte, störte mich kaum; ich hatte nicht viel Sehnsucht danach. Außerdem hatte ich ja Glück gehabt und also — so meinten Ärzte, Oberarzt, Professor — kein Recht, mich zu beschweren.
»Von einem Auto frontal erfaßt zu werden«, hatte der Professor gesagt, »und dann bloß … bloß … Sie können dem Himmel danken!«
»Wem?« fragte ich.
»Dem … äh …« Er sah mich unsicher an, wünschte mir gute Besserung, gab der Schwester eine Anweisung, die ich nicht verstehen konnte (und sollte) und ging hinaus.
Zunächst hatte ich mir — eine Folge der Gehirnerschütterung — keine klare Vorstellung davon machen können, wer ich war und wo und warum. Einige Stunden, einen Tag lang vielleicht, war ich in einem seligen bettwarmen Nirgendwo gewesen, umsorgt von unbekannten Kräften, ohne Vergangenheit, ohne Selbst, ohne Zeit. Dann hatte sich all das wieder eingefunden, leider! Ich war wieder Beerholm, hatte wieder die schrecklichste Nacht hinter mir, war Zauberkünstler, war im Krankenhaus. Die Schwestern waren freundlich, aber häßlich; sie waren häßlich, aber freundlich. Ich konnte wenig tun, bloß denken. Ich versuchte die Nacht meines Unfalls zu rekonstruieren, aber es gelang nicht recht. Ich hatte eine Zahl erraten, hatte mich verirrt, ein Schaufenster war zerstört worden, ein Strauch in Brand geraten; wie hing es zusammen?
»Es ist normal«, sagte der Oberarzt, »daß Sie sich nicht erinnern. Ein Filmriß.«
»Aber ich muß mich erinnern«, sagte ich. Und so ordnete ich die wenigen fiebrigen Bilder, die mein Gedächtnis aufbewahrt hatte, zu jener Folge an. Zu einer brillanten Zaubervorstellung, in der ich Publikum gewesen war, nicht Vorführender. Ich fühlte, daß etwas Unwiderrufliches passiert war. Und so nahm die schrecklichste Nacht meines Lebens Gestalt an. Also ist es, höre ich dich fragen, nicht wahr, was du erzählt hast? Nein, was ich erzählt habe, ist nicht wahr. Nicht buchstäblich wenigstens. Ich bin Zauberer. »Täuschungskunst«, schrieb Giovanni di Vincentio vor fünf Jahrhunderten, »ist, was man auch behaupten will, die Kunst zu lügen.« Hast du noch immer nicht gewußt, daß ich ein Lügner bin? Aber sei beruhigt, es ist auch wahr. Ich hatte einige Stunden der Verwirrung durchlaufen, ich hatte etwas Großes und Erschreckendes gesehen und zurückgewiesen, ich hatte einen Unfall gehabt, nichts würde mehr sein wie vorher. Das alles ist die Wahrheit. Der Rest ist Ausschmückung, eine Mischung aus Wunsch- und Alptraum. Der Versuch, mein Scheitern in eine Art dämonischen Glanz zu kleiden. Du hast es wirklich geglaubt? Das ehrt mich. Vielleicht bin ich doch ein Magier. Ich wäre es gern gewesen, wenigstens für ein paar Stunden, für eine Nacht.
Wellroth besuchte mich täglich, und van Rode schrieb mir einen netten Brief aus Portugal. Auch du warst ein oder zweimal da, aber deine Besuche waren kurz und kühl. Du wolltest wissen, warum ich aus der Gesellschaft gerannt und was danach passiert war. Und ich hatte nichts zu antworten. Es war noch zu früh. Jetzt habe ich geantwortet, aber es ist wohl zu spät … —
Meine Tournee war unterbrochen und Wellroth war in dunkler Verzweiflung. Der Verdienstausfall war beträchtlich, die Schlagzeilen ungünstig. Nach der vorherrschenden These, bestätigt durch ungenannte Quellen aus dem Krankenhaus (eine der netten Schwestern spionierte also), war ich betrunken gewesen und durch einen Alkoholnebel in mein Verhängnis getorkelt. Andere glaubten an seltene und exotische Drogen, wieder andere machten unschöne Andeutungen über meine geistige Verfassung. Eine Überschrift verkündete lächelnd und schlicht: ER IST VERWUNDBAR! Die Tatsache, daß ein einfaches Auto mich hatte verletzen können, löste eine Welle boshafter Erleichterung aus. Der arme Lenker wurde befragt (»Plötzlich vor meiner Kühlerhaube … Konnte nichts mehr tun … Verdammt, ich verehre diesen Mann!«) und ebenso Wellroth (»Mißgeschick … Weg der Besserung … Tournee wird fortgesetzt«). Ich gab natürlich, meinem Grundsatz gehorsam, keine Interviews.
Aber all das war egal, es war grenzenlos unwichtig. Sofort nachdem ich die Reste meiner Vergangenheit wiedergefunden hatte, wandte ich mich dem Fenster zu, der kalten und sehr fernen Scheibe, die zwischen mir und der immer noch fremden Stadt lag. — Sie blieb ganz. Kein Riß, nicht der kleinste Sprung, trotz meines mehrfach und sogar laut wiederholten Befehls. Auch der Becher auf dem Tisch, die Maschinen, die Lampe an der Decke verharrten in gleichgültiger Ruhe; keines von ihnen kümmerte sich um mich. Was die Ärzte und Schwestern dachten, blieb mir verborgen und rätselhaft, und niemand von ihnen führte die Anweisungen aus, die ich im Geist an sie richtete. Was auch immer gewesen war: Es war vorbei. Und würde nicht wiederkommen.
Wenn es je dagewesen war. Ich würde es nie herausfinden. Wellroth hatte für mich einen Stadtplan befragt: Es gab siebenundachzig mittlere, kleine und winzige Parkanlagen. Und selbst, wenn ich die richtige gefunden hätte, — wäre ich hingegangen? Ich schwöre dir, ich weiß nicht, was zu finden mich mehr entsetzt hätte: einen schwarzen Rußfleck oder einen grünenden, gesunden, nichtsahnenden Strauch.
Nein, ob Erfindung oder Wahrheit, Zauberei oder Wahnsinn (aber was für eine Unterscheidung!), es war vorbei. Und alles wäre gut gewesen, wenn nicht … — Wie soll ich es sagen? Wenn nicht die Dinge, die vielen und unbeweglichen Gegenstände um mich, deren Dasein nicht mehr mit meinem Willen verknüpft war, auf eine bedrückende Art an Intensität, an Wirklichkeit verloren hätten. Es war, als ob von allem, was ich sah, die Farbe abblätterte. Nun ja, könntest du sagen — in solchen Antworten warst du gut —, es war ein Krankenhaus, und dort pflegen die Sachen weiß zu sein oder grau, jedenfalls nicht bunt. Oder auch: Es gibt eben Erlebnisse, aus denen man nicht einfach zurückkehren kann wie von einem Wochenendausflug. Es war wie vorher, und genau das war das Furchtbare. Denn all das war Verstellung. Es würde nie mehr sein wie vorher.
Langsam, aber unaufhaltsam wurde ich gesund. Und selbst das hatte etwas Unangenehmes, ja Unpassendes. Die seltsam widerliche, selbstgefällige, nie endende, nie schlafende Geschäftigkeit unseres Körpers. Es ist der verschwitzte Fleiß eines Strebers; er zwingt zur Bewunderung, aber er ist abstoßend. Man erkennt ihn an, aber ungern und abgewandten Blickes.
Also, ich wurde gesund. Ich durfte aufstehen und auf drei Beinen (eines von mir, zwei Krücken) durch die metallenen Gänge des Krankenhauses stelzen. Man entfernte die weiße Schale von meiner Hand, und siehe: die Knochen waren wieder unbeschädigt, und ich konnte greifen und fühlen. Die Halskrause verschwand; mein Kopf ließ sich wieder bewegen und auch benützen. Und dann erlösten sie mich noch von dem schweren und unausziehbaren Stiefel an meinem Fuß. Der Panzer, den die Wissenschaft um mich gelegt hatte, zerfiel. Ich war wieder frei.
»Das wichtigste«, sagte Wellroth, »ist, daß wir die Tournee fortsetzen. Und zwar so schnell wie möglich!«
»Ist das wichtig?« fragte ich. Ich mußte nachdenken, um daraufzukommen, wovon er sprach.
»Sehr wichtig«, sagte er. »Enorm wichtig! Wie müssen zeigen, daß wir noch da sind.«
Na gut. So verließ ich das Krankenhaus und fuhr direkt, ohne Erholungspause oder sonstigen Aufschub, in eine dämmrige Kleinstadt, wo man mich erwartete. Meine drei blassen und geheimen Mitarbeiter — im Krankenhaus hatten sie mich nicht besucht, ich hatte es verboten; sie durften niemals sichtbar werden — stießen wieder zu mir, die Arbeit ging weiter. Wir nahmen die Eisenbahn. Ich saß am Fenster und sah zu, wie leuchtende, ruinengeschmückte Hügel vorbeizogen — sie tun das immer und für jedermann; solche Schönheit hat etwas Charakterloses — und dachte nach, warum du meine Briefe nicht beantworten wolltest. Und die Ebene schlug Wellen. Die Sonne schob sich auf den Zenit zu, ein paar Wolken drängten sich machtlos am Horizont.
Am nächsten Abend hatte ich eine Vorstellung. Sie klatschten und waren begeistert, aber natürlich. Sie waren es immer gewesen und sie würden es immer sein, darin lag nicht das Problem, darin nicht.
Alles gelang, nur einmal machte einer meiner Helfer (Paul, glaube ich) einen kleinen, ärgerlichen Fehler. Niemand bemerkte etwas, bloß ich. Und mich störte es kaum. Und gerade das — daß es mir nämlich beinahe egal war — beunruhigte mich. Nach der Vorstellung schrie ich ihn ein wenig an, aber eigentlich nur aus Pflichtgefühl. Etwas war nicht in Ordnung …
Am nächsten Tag wieder im Zug. Wieder Hügel und Bäume, wieder das nie endende, einschläfernde Spiel der Leitungsdrähte und Masten. Und auf dem Boden spulten sich Schienen ab, verzweigten und vereinigten sich, und so verging Kilometer um Kilometer. Warum freute ich mich nicht auf den nächsten Auftritt? Warum war mir alles gleichgültig? Und was war mit dir; hattest du deine Telefonnummer geändert, oder warst du bloß nie daheim? Warst du wirklich verschwunden, so plötzlich und grundlos wie du aufgetaucht warst …? Eines wußte ich: Ich würde nicht die Macht haben, dich noch einmal zu mir zu holen. War ich denn überhaupt noch ein Magier? War ich es denn jemals gewesen, abgesehen von einer einzigen, kurzen, wahnsinnshellen Nacht …?
Ich gähnte und entfaltete eine Zeitung. Ein Krieg war beendet, ein anderer begann. Einen Diktator hatte man erschossen, mehrere künftige geboren. Die halbe Welt versuchte, Israel zu vernichten; sie tat es schon seit Anbeginn der Zeit. Ein Konzern war zugrundegegangen, zwei Gerechte waren ermordet worden. Ein Flugzeug war abgestürzt.
Es war in Brand geraten, man wußte nicht warum. Und dann, ein fröhlich taumelnder Feuerball, auf das Meer herabgesunken, den blauen Pazifik, wo er am tiefsten war. Die Passagiere eines Kreuzfahrtschiffs hatten fernglasbewehrt an der Reling gestanden, offenen Mundes und benommen vor Freude und Grauen. Minutenlang hatten noch Flammen auf dem Wasser getanzt.
Ich gähnte wieder und zündete mir eine Zigarette an. Wellroth, der mir gegenübersaß, hustete vorwurfsvoll, wagte es aber nicht, sich zu beschweren. Mit mildem Ekel atmete ich den warmen Qualm ein. Und las weiter.
Viele Opfer. Peterson, der berühmte Wirtschaftsanalytiker. Elsa Roob, die Schauspielerin. Hans Burg, Journalist. Zwei Generäle. Jan van Rode, der Zauberkünstler. Johnathan Moss, ein Maler. Roderick Gwabuto, nigerianischer Freiheitskämpfer. Philipp d’Arton, ein Meteorologe. Und viele mehr.
Ich las die ganze Liste. Als ich am Ende war, fing ich von vorne an. Ich las sie mit verzweifelter Aufmerksamkeit. Als ob die Namen einen geheimen und bedeutungsvollen Kommentar bildeten, als ob etwas in ihnen verborgen war, das entschlüsselt werden mußte, um einen von ihnen, einen einzigen zu retten. Aber wenn da etwas war, dann fand ich es nicht. Ich hörte auf zu lesen und erwartete Tränen oder etwas ähnliches. Aber nichts geschah. In der Tiefe meines Gedächtnisses malten sich die Umrisse eines Fensters, eines Gartens, einer verzerrten Figur. Die dicke, eisige Glasscheibe. Der wolkige Himmel. Das Nachgrollen des Donners.
Auch Gerda war tot. Sie waren auf einer Weltreise gewesen, auf meiner Weltreise, meinem Geschenk. Plätze erster Klasse. Champagner, weiche Sitze, Bequemlichkeit. — War es schnell gegangen? Oder hatten sie noch miterlebt, wie das Feuer auf sie zukroch? Eingesperrt in einer Stahlkapsel zwischen Himmel und Erde — nein, zwischen Himmel und Meer. Ob sie wohl noch gefühlt hatten, wie die Maschine sich neigte, kurz zögerte (einen Moment lang sehr träge und leicht) und dann, entschlossen, schnell und schneller in die Tiefe raste, in eine Tiefe, deren Grund mit der glatten Haut des Wassers noch nicht erreicht war. Oh, noch lange nicht! Man stellt sich den Ozean gerne blau vor, durchzogen von bunten Fischen und schimmernden Lichtadern, aber das ist ein Irrtum. In Wahrheit ist er schwarz. Vollständig und absolut schwarz; keine Nacht unter dem mondlosesten Himmel könnte so dunkel sein. Hoffentlich waren sie in diesem Moment schon tot. Möge niemand je wachen Geistes eine solche Reise erleben! Wie lange dauert es, bis ein Flugzeugleib den Grund erreicht? Wahrscheinlich lange. Kein Mensch ist je dort unten gewesen, oder richtiger, keiner ist zurückgekommen. Manchmal, an zwielichtigen Tagen, werden Tentakel voll gezähnter Saugnäpfe an die Küsten geschwemmt, einige davon sechzehn Meter lang oder auch mehr. Sonst wissen wir nichts. Da unten ist eine lichtlose Welt, bewohnt von alten, riesigen Alptraumwesen. Und dort war jetzt Jan van Rode, und niemand hatte die Macht, ihn zu befreien, ihn heraufzuholen. Und Gerda auch. Ich hatte sie nie wirklich kennengelernt.
Aber nehmen wir nicht das Schlimmste an! Hoffen wir, daß sie den Sturz, den Aufschlag und das endlose Sinken nicht mehr sehen mußten. Daß die erste Explosion ihre zwei zerstörbaren Leben mit sich riß, daß der aufflammende Feuerball sie noch dort oben umhüllte, womöglich, bevor sie es bemerkten. Vielleicht war der Tod schneller bei ihnen als der Schmerz. Wüßte ich das, dann wäre ich beruhigt. Aber ich weiß es nicht.
»Das ist traurig«, sagte Wellroth und legte mir eine feuchte, schwere Hand auf die Schulter. »Furchtbar. Ein furchtbares Unglück. Aber es kommt nicht in Frage, daß wir deswegen die Vorstellung ausfallen lassen …!«
»Warum nicht?« fragte ich. Die Lokomotive pfiff erleichtert und schrill, Bremsen griffen zu, Räder quietschten, die Kraft des Anhaltens drückte mich sanft nach vorne. Vor dem Fenster rollte der Bahnhof ein. Wir waren am Ziel.
»Sie fällt aus«, sagte ich. »Es tut mir leid, aber ich kann es nicht ändern. Ich trete nicht auf.«
Wellroth öffnete den Mund, schloß ihn wieder, wurde rot und schwieg. Eine grundlose Absage, das Schlimmste, was man tun konnte. Am nächsten Tag erschienen höhnische Beschimpfungen in mehreren Lokalzeitungen. Wellroth tat mir beinahe leid.
Die nächsten zwei Tage verbrachte ich in meinem Hotelzimmer. Ich ging auf und ab, überlegte, hörte blecherne Musik im Radio, stand am Fenster, machte Notizen, vernichtete sie, versuchte zu weinen, versuchte zu beten. Nebenbei erfand ich die zwei besten Kartenkunststücke, die es je gegeben hat; ich schrieb sie säuberlich auf, dann zerriß ich die Blätter in unzählige kleine Stücke und verbrannte sie im Aschenbecher. Einige Male läutete das Telefon: Ich hob ab, aber als ich hörte, daß es nicht du warst, legte ich auf. Immer wieder stand Wellroth vor meiner Tür, klopfte und wollte herein. Aber ich öffnete nicht.
Dann reisten wir ab. Am Bahnhof wartete eine Gruppe wütender Leute. Sie hatten ihr Geld zurückbekommen, aber sie waren trotzdem gekränkt. Einen Augenblick lang fragte ich mich, ob sie mich lynchen wollten, aber so schlimm war es doch nicht. Sie wollten bloß vor mir stehen und mich böse ansehen. Die regnerische Luft wehte zwei Flüche, ein paar Schimpfwörter zu mir, das war alles. »Hier«, rief eine Frau, »brauchen Sie nicht mehr herzukommen!« Ich hatte es nicht vor.
Es gab noch viele andere Orte, und sie waren auch nicht besser. Ich leistete die Tournee ab, alle Vorstellungen, die sich nicht mehr absagen ließen. Ich reiste, trat auf, verbeugte mich, reiste weiter. Vor immer gleichen Zugfenstern flogen immer ähnliche Landschaften vorbei. Ich gab Autogramme, und überall erwarteten mich die blitzlichtumstrahlten Mündungen der Fotoapparate. Abend für Abend stand ich vor dem schwarzen Vorhang, blinzelte in die Scheinwerfer und machte die gleichen Schritte, die gleichen Bewegungen. Und unter meinen Händen ereigneten sich die gleichen vorausberechneten Wunder; und aus der schwarzen Masse des Publikum stiegen die gleichen Laute der Überraschung.
In der Hoffnung — worauf eigentlich? auf Abwechslung? auf ein Zeichen? — ließ ich mich in den Orient fliegen, und zwar für einen einzigen, kurzen, hochbezahlten Auftritt. Möglicherweise wollte ich bloß einen König kennenlernen (aber er war klein, braun, höflich und unscheinbar), vielleicht wollte ich auch die Wüste sehen (doch dort war nur eine Fata Morgana, und in der Fata Morgana warst du). Vielleicht hoffte ich auch, daß ein Sturm, gesandt von meinem bösen Schutzengel, die kleine Flugmaschine hinunterziehen würde, ähnlich wie es bei der von van Rode geschehen war. Doch nichts passierte; ich flog sicher, wenn auch im kalten Dunst von Valium und Angst. Aber nie werde ich die Landung vergessen, im Sonnenuntergang über der Wüste, diesen Sturz aus einem brennenden Himmel auf eine Unendlichkeit glühenden Sandes, unter einer Blutorangensonne und einem schon aufgegangenen silberrunden Mond.
Vermutlich war es ein Fehler, daß ich zurückflog. Ich hätte dort bleiben sollen, in der Hitze und in der Helligkeit. Die Zauberei kommt aus dem Orient, aus der Welt der Basare und der verwunschenen Dinge. Die wirkenden Schwüre, die beseelte, staubige Lampe. Aladin. Jetzt werde ich all das nicht mehr sehen, aber vielleicht ist es besser so. In den meisten Palästen wohnen heute uniformierte Mörder, und auf den Basaren werden Andenken an Urlauber in bunten Hemden verkauft. Geister in Lampen sind selten geworden. Und einer, der dazu verurteilt ist, wird überall enttäuscht; er muß sich nicht die Mühe machen, zu verreisen.
So kam ich wieder heim, an jenen Ort des Planetenrundes, den mir das Leben zugewiesen hatte. (Wie ungerecht dieses Hier und Jetzt, das so ungebeten unser Leben durchzieht! Warum nicht anderswo? Warum nicht immerdar?) Am Flughafen erwartete mich ein Kamerateam. Ich weiß nicht, was sie sehen wollten; alles, was ich ihnen bieten konnte, war, daß ich vorbeiging, einen Koffer in der Hand und mit ärgerlicher Miene. »Dürfen wir Sie etwas fragen?« — »Nein!« Das war es. Warum waren bloß alle so versessen darauf, mir Fragen zu stellen?
Wellroth holte mich ab. Nein, keine Nachricht von dir. Du warst verreist, er wußte nicht wohin und nicht mit wem, er wußte überhaupt nichts. Ob er dir einen Privatdetektiv nachschicken sollte? »Nein«, sagte ich scharf, und zum zweitenmal an diesem Tag. Wellroth zuckte die Achseln und erwähnte es nicht mehr.
Und eine Woche später hatte ich wieder eine Vorstellung. »Diese noch«, hatte Wellroth gesagt, »nur noch diese bitte, das Fernsehen ist da, landesweite Übertragung, sehr wichtig! Dann können Sie Urlaub machen. Sich mal erholen. Ausspannen.« (Was glaubte er? Daß ich mich an einen Strand legte und Zeitschriften las?) Also gut, hatte ich geantwortet, diese noch. Es wird schon gehen.
Doch es war kein guter Tag. Schon morgens, nach dem Aufwachen, beim Anblick der ersten bleichen Lichtstrahlen, wußte ich, daß es kein guter Tag war. Beim Rasieren fügte ich mir einen länglichen Schnitt zu, der erstaunlich stark blutete. Die Nacht war lang gewesen, und ich hatte noch weniger geschlafen als sonst. Drei oder vier Bellodorm-Tabletten kreisten schwerfällig in meinem Blut. Ich hatte Kopfschmerzen. Kaffee half nicht, genausowenig wie Aspirin.
Dann zog ein trüber Mittag ins Land. Ich rief bei dir an, niemand hob ab. Vielleicht sollte ich doch den Detektiv … — Aber das war unsinnig; kein irdischer Späher würde dich finden können, wenn du es nicht wolltest. Briefe: Kinsly, Chef der Brotherhood of Magicians, ersuchte darum, mein Bild für Werbezwecke verwenden zu dürfen, und Who’s Who bat um Vervollständigung meiner Lebensdaten: Wer bitte war oder ist Ihr Vater? — Lieber Kinsly, schrieb ich, der Mensch ist nicht Eigentümer seines Äußeren, und schon gar nicht des Widerscheins davon auf beschichteter Silberfolie. Tun Sie also, was Ihnen beliebt. Doch würde ich mein Bild lieber noch einer Blaskapelle, der Freiwilligen Feuerwehr oder dem Veteranenbund der Serienmörder zur Verfügung stellen als Ihnen. Viele Grüße, Ihr sehr ergebener … — Und an das Who’s Who: Adoptiert wurde ich von einem gewissen Beerholm und dessen gütiger Ehefrau, die für mich sorgten und mich liebten. Meine echte Mutter tut nichts zur Sache, zumal ich in der fragwürdigen biologischen Verbindung zwischen uns keinen bedeutenden Umstand sehen kann, nichts, was für mich von Wichtigkeit ist oder sein sollte. Einen Vater habe ich nicht, hatte ich nicht, hatte ich niemals, weder körperlich noch geistig. Sollte Ihnen das Probleme bereiten, drucken Sie es nicht ab. Freundlichst, Ihr …
Inzwischen war es Nachmittag. In den Fenstern meines Arbeitszimmers hingen ein paar schwere, verklumpte Wolken; meine Kopfschmerzen waren schlimmer geworden. Mehr Kaffee! Meine Hände zitterten schwach. Ich schloß die Augen, und sofort hatte ich eine Idee zu einem völlig neuen, durch und durch ungewöhnlichen Kunststück. Ich öffnete die Augen, griff nach einem Bleistift, schrieb es auf. Es sah gut aus. Egal. Ich nahm das Blatt und wollte es zerreißen, — aber dann faltete ich es, schrieb »ein Geschenk« darauf, steckte es in ein Kuvert und adressierte es an José Alvaraz. So.
Dann zog ich mich um. Einen einfachen Anzug, ein dunkles Jackett, wie immer. So unauffällig wie möglich. Bloß nicht etwas, das nach einem Kostüm aussah. Und da klingelte es schon. Wellroth holte mich ab.
Zwei Stunden später war ich bereit. Alles war vorbereitet, meine Helfer steckten in ihren schwarzen Verkleidungen, die Leute schlenderten murmelnd in den Saal.
»Könnten Sie mir eine Tasse Kaffee verschaffen?« fragte ich. Wellroth nickte. Ich blickte in den Schminkspiegel und wartete. Ich war etwas blaß, trotz der Farbe, und ich sah zu alt aus. Mir fiel ein, daß ich noch nicht einmal dreißig war. Und für einige Sekunden überraschte mich das.
Dann ging ich hinaus. Licht, Applaus, schwarzer Vorhang. Der Schatten einer Kamera zog horizontal durch den Raum. Ich verbeugte mich kurz. Und begann.
Bist du schon einmal, wodurch auch immer, gezwungen worden, dir einen eigentlich guten Film (einen aus der alten schwarzweißglänzenden Zeit) mehrmals anzusehen? Dann kennst du wohl diesen Moment, wenn die Langeweile plötzlich und unerwartet in puren Ekel umschlägt, in das Gefühl, daß es einfach nicht erträglich ist, daß diese Leute schon wieder dasselbe tun und reden und daß man genau vorausweiß, was gleich geschehen wird. Stell dir das als einen blassen Abglanz von dem vor, was mich jetzt überfiel. Was tat ich denn hier …? Um Himmels willen, was war das alles für ein Unsinn …?
Aber ich machte weiter. Ich biß die Zähne zusammen (nicht metaphorisch, sondern wirklich) und zwang meinen müden Körper, meinen widerstrebenden Geist zum Gehorsam. Flammen blitzten auf, Gegenstände erschienen, verschwanden; Applaus erhob sich, Laute des Erstaunens, der Begeisterung. Gott, wie mir diese Geräusche auf die Nerven gingen! Wußten sie wirklich nicht, daß ich sie belog? Wollten sie es nicht wissen?
Ich hielt ein Paket großer, aufgefächerter, grünlich strahlender Spielkarten über meinen Kopf und spürte das vertraute Gefühl vieler Blicke, die sich auf meine Hand legten. Gerade setzte ich mit der anderen Hand zu einer schnellen Bewegung an, auf die hin sich die Karten aus meinem Griff lösen und mich hektisch und insektenhaft umflattern würden — da verschwand alles. Eine dichte und kühle Schwärze, beinahe angenehm, legte sich um mich. Ich sah nichts mehr, hörte nichts.
Es kann nicht sehr lange gedauert haben. Aber die Zeit hat Untiefen; mir kam es vor, als ob ich ziemlich lange geschlafen hatte, inmitten unnützer und trauriger Träume. Für einen Moment glaubte ich, in einer Klosterzelle in Eisenbrunn zu sein. Dann ging es vorbei. Gedämpfte Laute, wie durch Watte; helle Punkte setzten sich zu einem Bild zusammen.
Meine Hand war noch immer erhoben. Aber sie hielt nicht mehr alle Karten; einige lagen auf der Erde — und eine schwebte gerade langsam, ganz langsam an meinem Gesicht vorbei, wurde von einem Luftzug erfaßt, stürzte über die Bühnenkante, verschwand in der Dunkelheit. Ein Murmeln kroch durch den Saal. »Was ist los?« flüsterte eine Stimme. »Ist Ihnen schlecht?« Kein Geist, sondern Paul, mein Helfer. Ich zog meine Hand an mich und ließ die Karten los; sie klatschten auf den Boden. Das Murmeln wurde lauter, nervöser. Ich rieb mir die Augen. Mir kam alles sehr unwirklich vor, auch ich selbst, beinahe so, als ob ich die Erfindung eines anderen war. Was tat ich hier? Ich war kein Zauberer, ich war es nicht mehr. Ich war zu einem Komödianten geworden, einem Schauspieler, einem albernen Unterhaltungskünstler. Merlin war fern, eingeschlossen in dickes Gestein, tot, unerreichbar. Es gab keine Magie, bloß dumme Naturgesetze. Ich hatte versagt. Und mit den Leuten da unten hatte ich nichts zu tun, es gab keinen Grund für mich, hier zu sein. Also drehte ich mich um. Und ging.
Einer meiner Helfer, ein Schatten, fast unsichtbar, stand mir im Weg, ich schob ihn zur Seite. Einen Moment lang hörte ich noch die entsetzte Stille, dann schlug hinter mir der Vorhang zusammen; ich war draußen. Zwei Techniker starrten mich an; hinter ihnen stand mit offenem Mund Wellroth, eine Maske puren Erstaunens. Eine Tür: Ich ging auf sie zu, öffnete sie, ging hindurch. Ein staubiger kleiner Raum, eine zweite Tür. Ich öffnete sie, trat hinaus. Und stand auf der Straße.
Also so einfach war das! Ich hatte nie geglaubt, daß es möglich war, einfach hinauszugehen. Während des Auftretens war ich immer so geborgen und eingeschlossen gewesen, so gebannt auf das Halbrund der Bühne. Fast hatte ich erwartet, daß Tore versperrt sein würden oder dunkle Wächter darauf warteten, mich zurückzuschleppen. Aber das war nicht so. Es war wirklich so einfach! José Alvaraz fiel mir ein und seine Befreiung — ja, heute hatte ich etwas Ähnliches getan. Ich atmete tief ein und wieder aus. Mir war, als wäre ich lange im Gefängnis gewesen und hätte plötzlich ein nie gesehenes Loch in der Mauer entdeckt. Ich fühlte mich grenzenlos erleichtert.
Aber jetzt weg hier! Sie würden mich suchen, ganz sicher würden sie das. Also ging ich los. Nur nicht zu schnell, das würde auffallen und war auch gar nicht nötig. Ich kam mir auf einmal sehr leicht vor, sehr klein, sehr beweglich. So viele Straßen! So groß war die Welt, und überallhin konnte man gehen …
Oder fahren. Ein weißes Taxi rollte vorbei, ich hob die Hand, es hielt. Der Fahrer rieb seine Knollennase und musterte mich.
»Sind Sie nicht …?«
»Ja«, sagte ich, »aber das soll Sie nicht kümmern. Fahren Sie bitte!«
Aber wohin? Nicht nach Hause. Dort würden bald Reporter sein, wütende und neugierige Leute, Wellroth … Ich wollte mit niemandem sprechen. Nicht heute. Nicht jetzt.
»Zu einem Hotel! Dem besten, das Ihnen einfällt!«
Wir fuhren. Es war eine klare Nacht; der Mond schwebte hell im schwarzen Himmel, umgeben von einem dünnen Ring aus leuchtendem Staub. Aufschriften funkelten: Maymart — für den Mann. Trink doch Bier. Und darüber blinkte, ein Signal von irgendwem an irgendwen, der Abendstern.
»Vom Fernsehturm hätten Sie eine tolle Aussicht«, sagte der Fahrer. »Die beleuchtete Stadt. Sehr schön, wirklich.«
Ich antwortete nicht, er schwieg beleidigt. Nach kurzer Zeit hielt er vor einem breiten Eingang, goldumrahmt und flankiert von zwei Männern in Uniformen.
»Ihr Hotel«, sagte er, »gut genug?«
Ich bezahlte, stieg aus, ging hinein. Ein Mann in einem dunklen Anzug trat mir entgegen und lächelte wissend. Er erkannte mich.
»Ein Zimmer!« sagte ich. »Und sorgen Sie dafür, daß ich nicht gestört werde. Das klingt einfach, aber das wird es nicht sein.«
»Ich weiß«, sagte er. »Ich habe die Übertragung im Fernsehen verfolgt, bis zu … — nun, der Unterbrechung. Es gab einen Sendeausfall. Schön, daß Sie uns beehren. Machen Sie sich keine Sorgen.«
Das Zimmer war freundlich, hell, unendlich sauber und angenehm. Und das Bett war sehr, sehr weich. Ich legte mich darauf — mit Schuhen, Kleidern, allem — und schloß die Augen. Meine Kopfschmerzen waren verschwunden, ich fühlte nur noch eine müde Gelassenheit. Und niemand würde mich stören, bis morgen, bis übermorgen oder länger. Ob sie wohl noch in dem Saal saßen und sich wunderten und hofften, daß ich zurückkam? Armer Wellroth! Wie wütend sie jetzt alle sein mußten; ich hatte sie wohl tödlich beleidigt. Es gab vermutlich einige Aufregung da draußen, jenseits meiner luxuriösen Abschirmung, manches Geschrei, viel Verwirrung. Aber was ging das mich an?
Zum erstenmal im Leben wußte ich, was ich zu tun hatte. Vielleicht würde es schwer werden, wahrscheinlich würde es mir Angst machen … — Aber nicht jetzt. Nicht heute. Im Augenblick war alles besänftigt, alles ausgestanden. Ich glaube, daß noch nie ein Mensch sich ruhiger, ja friedlicher zum Tod entschlossen hat. Ich schwöre dir: Diesmal brauchte ich kein Schlafmittel, kein Pulver, keine einzige Tablette. Ich dachte nicht einmal an dich. Ich war heiter, beinahe glücklich.