23

J arek brachte mich zurück zu den Privatgemächern der Sieben. Dort erklärte er mir mit einem dünnen Lächeln, dass er am Eingang Wache stehen würde, um für meine Sicherheit zu sorgen.

Wir wussten beide: Es ging nicht darum, mich zu beschützen. Er sorgte nur dafür, dass ich blieb, wo sein Herr mich haben wollte. Aber ich brachte es nicht übers Herz, Jarek das ins Gesicht zu sagen. Schließlich war nichts davon seine Schuld.

Erst als er verschwunden war und ich im Flur mit den vielen Harwood-Gemälden stand, merkte ich, dass ich nicht allein war. Celine tauchte dank ihres Schlüssels aus einer der Türen auf und funkelte mich so wütend an, als hätte ich ihr gerade eine Ohrfeige verpasst.

Und so wie ich mich gerade fühlte, hätte ich das auch liebend gern getan. »Willst du dich etwa überzeugen, dass ich brav in meinem Käfig sitze?«, fauchte ich ihr entgegen. »Das kannst du machen, aber klopf das nächste Mal gefälligst an!«

Celine giftete sofort zurück. »Dir ist das alles hier völlig egal, oder? Für dich ist es so einfach. Rayne Sandford, das Mädchen, das sich schon immer nur um sich selbst kümmern musste!«

»Du kennst mich doch gar nicht!«

Celine starrte mich eisig an. Ihre Haare fielen wie immer in perfekten Locken auf ihre Schultern, ihre Lippen waren mit einem tiefen Blauton geschminkt, und der Saphirschlüssel baumelte locker von ihrem Hals. Sie und ich waren uns von Anfang an nicht sympathisch gewesen. Trotzdem hatte ich sie bisher nie so aufgewühlt erlebt.

Sie lief auf mich zu. Wahrscheinlich hatte sie schon unten im Thronsaal geplant, mir in die Privatgemächer zu folgen.

»Du hast ja keine Ahnung, was Adam durchmachen musste, seit er Mirrorlord ist«, warf sie mir entgegen. »Was wir alle durchmachen mussten, nur weil dein Vater sich nicht an die Regeln gehalten hat! Euretwegen ging es mein ganzes Leben lang nur darum, wie wir die Chaosmagie beherrschen, die den Mirror flutet! Und egal, wo oder wie lange wir gesucht haben, wir haben keinen Nachfolger für dein Sigil gefunden. Was glaubst du, warum die Rebellen so stark werden konnten? Warum die Magistrate immer korrupter geworden sind? Warum Adam sich immer häufiger in Lebensgefahr begibt? Das ist alles deine Schuld

Celines saphirblaue Augen fixierten mich, und all das, was Cedrics Gesichtszüge so weich und freundlich wirken ließ, sah bei ihr hart und missgünstig aus.

»Seit du hier bist«, fuhr sie fort, »packen dich alle in Watte. Sie erklären dir etwas über unsere Sigils und unsere Vorfahren, doch das, was wichtig ist, verschweigen sie dir. Aber wenn du mich fragst, ist es nur fair, dass du es endlich verstehst, Rayne Harwood

Celine hielt inne, und mit einem Mal wirkte ihr Gesichtsausdruck nicht mehr nur bösartig, sondern gleichzeitig zutiefst traurig. »Es wird Zeit, dass dir jemand erklärt, was wir wirklich sind. Denn wir …«, sie zeigte zwischen uns beiden hin und her, »… sind Schachfiguren. Unser Schicksal ist noch vor unserer Geburt vorherbestimmt. Wir tragen die Dark Sigils, und für ein paar Jahre können wir alles haben, was wir wollen. Dafür müssen wir nur den Preis zahlen, dass unser Leben ganz und gar durchgeplant ist. Wenn du achtzehn wirst, wird man anfangen, dir potenzielle Ehepartner vorzustellen. Egal, ob du heiraten möchtest, egal, ob du denjenigen verabscheust. Wenn du bis vierundzwanzig kein Kind bekommen hast, wird man dich keine Minute mehr in Ruhe lassen. So war es bei meiner Mum – und bei Adams Mum sogar viel früher. Die beiden wollten keine Kinder. Aber am Ende haben sie uns doch bekommen, weil es ihre Pflicht war.«

Celine hatte sich so sehr in Rage geredet, dass sich nicht nur Flecken auf ihrem Porzellangesicht abzeichneten … sogar die blauen Lichtzeichen auf ihren Armen flammten auf. Überhaupt wirkte sie derart aufgebracht, als wüsste sie selbst nicht, ob sie gleich losschreien oder weinen würde.

»Das ist es, was wir sind«, sagte sie. »Die reichsten und mächtigsten Sklaven der Welt. Und es gibt nichts, was du dagegen tun kannst. Niemand von uns kann das. Also: Hör endlich auf, so zu tun, als würde sich die Welt nur um dich drehen. Dieser Deal, den du mit Adam gemacht hast, … ist völlig nutzlos. Du bist jetzt mit uns in diesem Korsett gefangen. Und wenn du dir einbildest, darin wäre irgendwo Platz für deine kleine untere Freundin, dann irrst du dich. An den meisten Tagen wirst du nicht einmal genug Platz für dich selbst finden.«

Zu meiner Erschütterung schwammen plötzlich Tränen in Celines Augen, und ich begriff, dass sie all das vielleicht sagte, um mir weh zu tun, aber auch, weil es die Wahrheit war. Eine Wahrheit, mit der sie schon ihr ganzes Leben lang umgehen musste.

Celine schaute kurz an die Decke, und als sie sich wieder zu mir wandte, war ihr Blick so hasserfüllt wie eh und je. »Adam mag etwas in dir sehen und glauben, du bist bereit, uns mit deinem Sigil dabei zu helfen, den Mirror zu retten. Aber ich sehe, wie selbstsüchtig du bist. Sag mir: Hast du dich jemals gefragt, warum deine Mutter dich in diesem elenden Drecksloch am hinteren Ende von Nirgendwo zurückgelassen hat? Hast du dich jemals gefragt, warum sie niemals deinetwegen zurückgekommen ist?«

Jeden Tag, dachte ich. Das habe ich mich jeden Tag gefragt.

»Weil sie wusste, dass du es nicht wert warst«, fuhr Celine erbarmungslos fort. »Und daran hat sich bis heute nichts geändert. Also: Deine Freundin ist im Waisenhaus mit offenen Armen begrüßt worden. Es ist an der Zeit, sie loszulassen und dich endlich auf deine Pflichten zu konzentrieren.«

Mein gesamtes Bewusstsein zog sich schmerzhaft zusammen. »Lily ist wieder im Waisenhaus?«

»Ja«, erwiderte Celine. »Euer Vormund hat sie gestern Abend aus dem Krankenhaus abgeholt.«

Mit diesen Worten steuerte Celine auf die nächste Tür zu. Gleich darauf war sie verschwunden, während ich wie zur Salzsäule erstarrt stehen blieb.

Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war. Ich wusste nur, dass das Abendlicht den Mirror bereits für die wenigen, kostbaren Minuten erhellt hatte und dann wieder verschwunden war.

Wie betäubt saß ich im Flur der Ahnengalerie auf dem Boden, ohne mich zu bewegen. Lily war zurück im Waisenhaus. Sie war bei Lazarus. Bei Isaac und Enzo. Und das bedeutete … Sie war in großer Gefahr. Lazarus würde sie auf diese Partys schicken, um dort … Ich wollte es mir überhaupt nicht vorstellen. Ich wusste nur, dass es Lily brechen würde. Sie war so stark, doch das ?

Nur was sollte ich tun? Ich kam hier nicht raus. Ich war gefangen, nicht nur in diesem Palast, sondern auch in diesem … System .

Gott, ich war so naiv gewesen. Ich hatte nicht einmal versucht, zu verstehen, was es bedeutete, ein Dark Sigil zu tragen. Die ganze Zeit hatte ich nur an der Oberfläche gekratzt, aber nicht ansatzweise begriffen, wie sehr das Ritual mein Leben verändern würde.

Und jetzt? Jetzt war ich ein Teil dieser Schildchen, die an den Gemälden der Galerie hingen. In nur wenigen Generationen würden neue Träger auf den immer weiter wachsenden Stammbaum blicken und auf meinen Namen zeigen. Rayne Harwood, würden sie sagen. Für einige Jahre trug sie das Drachenarmband. Dann bekam sie Kinder und starb, wie es ihre Pflicht war .

In mir war ein Meer aus Tränen, doch ich konnte nicht weinen. Mein Körper war wie gelähmt vor Angst, wenn ich an Lily dachte, und ich krallte meine vom Tremor auf- und abbebenden Finger um das Drachenarmband. Was würde passieren, wenn ich es mir wieder herunterriss? Aber ich konnte nicht. Mein Körper wehrte sich, wollte das Sigil unbedingt bei sich behalten.

Meine Gedanken kreisten und kamen dabei immer wieder zurück zu Adam. Deine Magie war wunderschön, hatte er im Palastgarten zu mir gesagt. Was hatte er mit diesen Worten bezweckt? Wieso zum Teufel konnte er so etwas zu mir sagen, wenn er mich kurz darauf so herzlos verriet? Es ergab einfach keinen Sinn!

Als ich meine Hand zur Faust ballte, breiteten sich die rötlichen Lichtmale auf meinen Fingern aus. Wie Glut flammten sie auf und wanderten immer weiter, bis sie vom Ärmel meines Mantels verdeckt wurden.

Jetzt, vierundzwanzig Stunden nach dem Ritual, nahm ich Adams Magie kaum noch wahr. Die Verbindung, die sich zwischen uns aufgebaut hatte, wurde schwächer, von Minute zu Minute. Es war, wie er gesagt hatte – temporär. Und in der Dunkelheit, in die das Zimmer getaucht war, konnte ich mir einreden, nie auch nur gewusst zu haben, wie gut sie sich anfühlte.

Schritte waren zu hören, aber ich blieb stumm sitzen. Erst als zwei graue Schnürschuhe vor mir auftauchten, hob ich angestrengt den Blick.

Es war Sarisa Sadlyn.

»Mistress Harwood«, sagte sie und verbeugte sich.

Trotz aller Taubheit, die sich über mich gelegt hatte, keimte ein Gefühl von Genervtheit in mir auf. Offensichtlich genügte Jarek nicht als Aufpasser, jetzt hatten sie auch noch die alte Dienerin auf mich angesetzt.

Doch etwas an Sarisa war anders als sonst. Zum ersten Mal, seit ich sie in der Gefängniszelle getroffen hatte, wirkte ihr Gesicht nicht wie versteinert. Im Gegensatz: Sie lächelte mir aufmunternd zu. »Ich denke, es ist Zeit.«

»Wofür?« Ich hatte keine Lust, mich umzuziehen. Keine Lust auf eine neue Frisur. Oder darauf, etwas zu essen. Oder was immer sie –

»Um den Mirror zu verlassen.«

Ich blinzelte, war mir sicher, mich verhört zu haben. »Was?«

Sarisa hielt mir ihren Arm entgegen. Erst dachte ich, sie wollte mir die Hand reichen, aber dann schob sie den Ärmel ihrer Dienstkluft zurück. Sie rieb mit dem Finger über die Haut an ihrem Gelenk, und ich traute meinen Augen nicht, als sie eine Trite-Münze davon löste, die bis eben noch überhaupt nicht sichtbar gewesen war. Eine Tätowierung kam darunter zum Vorschein, die ich sehr gut kannte.

»Sie gehören zum Auge«, hauchte ich ungläubig und musste mich zwingen, nicht aufzuspringen und zurückzuweichen.

Sie wollen die Sieben töten , hatte Magistrat Pelham gesagt.

Doch bevor ich den Gedanken richtig zu Ende führen konnte, sprach Sarisa schon hastig weiter: »Ich weiß, was Euch über uns erzählt wurde. Aber ich kann Euch versichern, dass das Auge nicht Euer Feind ist. Im Gegenteil. Wir können Euch helfen, Eure Freiheit zurückzuerlangen.«

Meine Freiheit?

Sarisa zog etwas aus ihrer Tasche. Es war ein Handspiegel mit einer Gravur im Metall – mein Spectum-Sigil. Richtig. Ich hatte es heute Morgen in meinem Zimmer liegen lassen. Sie hielt ihn mir auffordernd entgegen.

Es war einfach unfassbar, dass sich ein Mitglied dieser Rebellengruppe direkt bei den Sieben hatte einschleusen können. Der Palast war eine Festung, mit so vielen Magiehäschern, so vielen Waffen, so vielen Sicherheitsvorkehrungen. Andererseits … Sarisa arbeitete bereits eine Ewigkeit hier.

Niemand hatte sie je verdächtigt.

»Bitte, Mistress Harwood. Die Menschen jenseits dieses Spiegels sind auf Eurer Seite. Hört uns an, und dann trefft Eure eigene Entscheidung.«

Mein Herz klopfte wie wild, und ich nahm das Spectum an mich. Die Gravur auf dem Metall schimmerte in einem schwachen Blau, das deutlich zeigte, dass das Sigil einsatzbereit war.

»Wie?«, fragte ich.

»Das werden unsere Anführer Euch persönlich erklären.« Sarisa streckte mir die Hand entgegen, aber ich zögerte.

Wir können Euch helfen, Eure Freiheit zurückzuerlangen. Das klang zu schön, um wahr zu sein. Doch Sarisas Blick wirkte gütig, und sie hatte recht mit dem, was sie sagte. Alles, was ich über das Auge wusste, stammte ausschließlich von den Sieben.

Im Grunde spielte es auch keine Rolle. Adam hatte mich angelogen, und Lily … Lily war in Gefahr. Egal, wie hoch das Risiko war, ich konnte unmöglich hierbleiben.

Also umgriff ich Sarisas runzlige Finger und zog mich auf die Beine.