W ährend ich auf den Trainingsraum zulief, war mir vor Aufregung ganz schlecht. Den gesamten Vormittag über hatte ich gedacht, mich niemals auf ein Sigil-Training konzentrieren zu können. Mein Kopf war viel zu voll mit dem morgigen Schaukampffinale. Würde es stimmen, was Adam über das Auge sagte? Würden sie sich wirklich ausgerechnet bei diesem Großereignis zeigen?
Ich hoffte es. Denn trotz allem, was in den letzten Tagen passiert war, trotz der überwältigenden Bilder und der verwirrenden Informationen, war Lily immer in meinem Bewusstsein. In Gedanken versprach ich ihr, dass wir sie bald holen würden, dass sie bald in Sicherheit wäre. Tief in meinem Inneren wusste ich jedoch, dass ich damit nur mich selbst beruhigen wollte. Schließlich hatte ich keine Ahnung, was Lily gerade durchmachte. Ob sie gefangen gehalten wurde, ob das Auge sie vielleicht sogar über mich ausfragen ließ.
In jedem Fall hatte Adam recht. Ich musste lernen, mein Sigil zu beherrschen. Jetzt. Und ich durfte mich dabei weder von meinem Tremor noch von meinen Zweifeln an dieser neuen Rolle, die ich erfüllen sollte, zurückhalten lassen.
Während ich also durch den Garten lief, schob sich Ignis’ Magie mit aller Kraft in den Vordergrund meines Bewusstseins, und irgendwann sang mein ganzer Körper förmlich vor gespannter Erwartung, sie endlich in vollem Umfang zu testen.
Der Tanzsaal, in dem Adam sich mit mir traf, wirkte bei Tageslicht noch prunkvoller, als ich es gestern wahrgenommen hatte. Doch bevor ich ganz hineinlief, hielt ich im Türrahmen inne.
Adam stand bereits dort, in der Mitte des Saals. Er war vollkommen ruhig und hatte die Augen geschlossen. Er trug nur eine schwarze Hose und ein schlichtes weißes Shirt, und erst als ich näher kam, erkannte ich die Kugel, die vor seinem Kopf schwebte. Eine Kugel, die im Inneren winterblau glühte.
Adam drehte sich langsam, verfolgte scheinbar die Bewegung der fliegenden Kugel. Sie nahm mehrere Anläufe und schoss auf ihn zu, aber er schaffte es trotz seiner geschlossenen Augen immer, der Kugel mit einer geschmeidigen Bewegung auszuweichen. Es musste eine Art Training sein: Die Kugel flog auf ihn zu, er duckte sich, positionierte sich neu und versuchte, blind die Flugbahn vorherzusehen. Das ging einige Male so – bis sich die Kugel wie durch Zauberhand in mehrere Teile zersetzte. Jetzt waren es drei Kugeln, diesmal kleiner.
Und wesentlich schneller.
Sie schossen wie wild von verschiedenen Richtungen auf Adam zu. Er setzte sich in Bewegung, und ich konnte nicht anders, als ihn völlig ungläubig anzustarren. Jeder Zentimeter seines Körpers schien zu einer Waffe geschliffen zu sein. Einer Waffe, die Adam perfekt einsetzte, um sich unter den heransausenden Kugeln zu ducken. Doch schließlich wich er nicht mehr aus. Stattdessen griff er an das schwarze Lederband an seinem linken Arm und warf Alius und Etas in die Luft. Sogleich flammten die weißen Symbole auf seiner Haut auf. Das Seil entstand und spannte sich zwischen den Würfeln.
Er wehrte die Kugeln damit ab, die nun immer heftiger und schneller auf ihn zusausten. Strähnen von Adams zerzaustem Haar klebten an seinem Gesicht, seine Wangen röteten sich. Er drehte sich mit tödlicher Anmut, und durch die Rotation seines Körpers traf das Seil die erste Kugel, dann die zweite und schließlich die dritte. Das Ganze dauerte nur Sekunden, bis das winterblaue Glühen in den Kugeln erlosch und sie mit einem blechernen Scheppern auf den Boden fielen.
»Sehr gut!«, lobte eine vertraute Stimme. Es war Cedric, der am Rand des Tanzsaals stand. Ich hatte ihn überhaupt nicht wahrgenommen. »Ich weiß, dass du dir wegen morgen Sorgen machst. Aber es gibt keinen Grund. Deine Werte sind absolut perfekt. Ich konnte keine Abweichungen erkennen.«
Adam öffnete die Augen. Er atmete schwer und rieb sich mit einer Hand die Haare aus der Stirn. »Bist du dir sicher?«
»Ja. Bin ich.«
Ich konnte erkennen, wie Adams Gesicht sich nachdenklich verzog. Trotz seiner offensichtlichen Glanzleistung wirkte er unzufrieden. Doch statt etwas zu erwidern, zuckte sein Blick zur Seite.
Zu mir.
»Den Mirrorlord zu belauschen, steht unter Höchststrafe, wusstest du das?«
Ich verdrehte die Augen. »Wir waren verabredet.«
»Hmm«, machte Adam. »Und deswegen versteckst du dich minutenlang an der Tür?«
Ich lief langsam näher und hob dabei eine der Kugeln vom Boden auf. »Das sah gerade eben so knapp aus, dass ich Sorge hatte, die Dinger würden dich massakrieren, wenn ich dich erschrecke.«
Er grinste. »Sehr nett von dir, dass du dich um meine Gesundheit sorgst.« Sein Blick war stechend, und ich musste unweigerlich an gestern denken und daran, wie er sich von jetzt auf gleich von mir zurückgezogen hatte. Der Moment ging mir einfach nicht mehr aus dem Kopf … aber ob das bei ihm auch so war, wusste ich nicht.
Cedric räusperte sich. »Na dann, viel Spaß, ihr beiden«, erklärte er mit einem amüsierten Lächeln auf den Lippen und lief aus dem Saal.
Als wir allein waren, ließ Adam den Kopf im Nacken kreisen. Dann ging er in Kampfhaltung. Füße auseinander positioniert, Beine leicht gebeugt, Lippen zu einem herausfordernden Halblächeln verzogen.
Ich tat es ihm gleich und ließ meine Arme locker neben meiner Hüfte baumeln. Wie oft hatte ich auf diese Weise in Kampfarenen gestanden? Gleichzeitig kam es mir vor, als wäre seither ein ganzes Leben vergangen. Während ich damals mit einem einzigen Grain Magie gekämpft hatte, stand mir nun eins der sieben mächtigsten Sigils der Welt zur Verfügung.
»Wie mache ich es richtig?«, fragte ich dieselbe Frage, die ich Dina bereits gestellt hatte. »Magie zu zerstören, meine ich.«
»Es gibt kein ›richtig‹«, sagte Adam. »Anders als bei normalen Sigils gibt es keine bestimmte Geste, die unsere Kräfte kanalisiert. Bei den Würfeln muss ich mir den Moment in der Vergangenheit ganz genau vor Augen rufen, zu dem ich zurückkehren will. Oder ich muss die Zeit in Gedanken festhalten, wenn ich ihr voraus sein möchte. In deinem Fall musst du dir vorstellen, wie deine Magie von anderer Magie Besitz ergreift. Du musst es fühlen, musst davon überzeugt sein, dass jeder Magiepartikel auf der Welt deinen Befehlen gehorcht. Denk an das Ergebnis …«
»… und mach es wahr. Ich weiß. Noch etwas?«
»Nicht wirklich. Unsere Magie hat kein Limit, wenn du dein Sigil allerdings sehr oft hintereinander beanspruchst, merkst du es irgendwann. Es fordert viel Kraft und Konzentration, also benutze deine Fähigkeit nur, wenn du auch daran glaubst, dass es dir etwas bringt.«
Ich ballte die Hand, über der Ignis lag, zur Faust. »Versuchen wir es. Aber keine deiner Zeittricks, okay?«
Adam sah mich mit einem Funkeln in den Augen an. »In Ordnung, keine Tricks. Abgesehen davon … so wie du in der Arena gekämpft hast, muss ich keine Rücksicht nehmen, oder?«
Mit einem Lächeln ging ich zurück in Kampfhaltung. »Vielleicht sollte ich diejenige sein, die dich das fragt. Immerhin hast du seit Monaten nur auf deinem schicken Thron herumgesessen.« Damit ließ ich meinen rechten Fuß nach hinten gleiten und hielt den Sigil-Arm über meinen Kopf. Meine andere Hand streckte ich Adam herausfordernd entgegen.
Er grinste – so breit, wie ich es bisher noch nicht an ihm gesehen hatte. Dann nahm er mit aller Ruhe die Schicksalswürfel aus seinem Armband. Im nächsten Augenblick stürzten wir aufeinander zu.
Adam feuerte einen Magiestoß auf mich ab. Ich drehte mich auf dem linken Fuß um, und er sprang gerade rechtzeitig weg, um zu vermeiden, dass mein rechtes Bein gegen seine Rippen prallte. Ich konterte mit einem eigenen Magiestoß, den Adam jedoch mit einer einfachen Schildgeste abwehrte.
»Ein bisschen eingerostet?«
»Redest du von dir selbst?«, erwiderte ich hochmütig, bevor ich meine Lieblingsgeste – Magiemienen – nutzte, um Adam durch den Raum zu scheuchen. Zwischendurch ließ ich Magiestöße auf ihn hinabregnen, die so schnell und wild waren, dass er bald keine andere Chance mehr hatte, als mich mit einer Druckwelle von sich zu stoßen. Ich rutschte einige Meter zurück, sammelte mich aber im Handumdrehen und stürmte erneut auf ihn zu.
Es war unglaublich, dachte ich, als wir umeinander herumtanzten und uns immer wieder in der Mitte des Saals trafen. Jedes Mal, wenn Adams Hand meine streifte, explodierten kleine statische Ladungen von Magie zwischen uns. Es war, als hätten wir nie etwas anderes getan. Alles, was passiert war – Lily, der Angriff beim Waisenhaus, das, was Sebastian mir gestern über die Trembletts gezeigt hatte –, war nur noch Hintergrundrauschen. Ich war völlig im Hier und Jetzt.
Adam schien jede meiner Bewegung vorauszuahnen, und das, obwohl er die Zeit nicht manipulierte. Wir trieben uns gegenseitig bis an unsere Grenzen, und ich hätte nie gedacht, dass das Kämpfen mit Magie so schön sein konnte. Es gab keine Einschränkungen, kein Grain, das sich viel zu schnell verbrauchte. Diese Magie war unendlich und gehorchte auf jeden meiner Befehle. Adrenalin pumpte durch meine Adern, und ich hätte einfach nur lachen können.
Irgendwann gab ich es auf, Adam durch den Saal zu jagen. Stattdessen kämpften wir auf engstem Raum. Er hatte das Seil zwischen seinen Würfeln heraufbeschworen und wehrte damit jeden meiner Angriffe ohne Mühe ab.
»Deine eigene Magiewaffe erscheint nur durch deinen Willen«, erklärte er, blockte einen meiner Schläge, und ich konnte nicht anders, als genugtuend zu grinsen, als ich hörte, wie schwer er dabei atmete. »Stell sie dir als Verlängerung deines Armes vor.«
Ich sprang zurück. Zwar ließ ich Adam nicht aus den Augen, aber ich spürte vor allem in mich hinein. Die Magie pulsierte durch meine Adern hindurch, also sammelte ich sie in meiner Handinnenfläche und dann …
… dann floss die Magie bis zu meinen Fingerspitzen. Dort wuchs das rote Glühen weiter, bis sich eine Klinge formte.
Okay.
Ich hatte ein Schwert in der Hand.
Das sind total abgefahrene Ninja-Vibes, Ray, hätte Lily jetzt gesagt, und mir entwich ein atemloses Lachen, weil all das hier einfach viel zu unglaublich war.
»Bereit?« Adam ließ auffordernd einen seiner Würfel in der Luft kreisen. Statt zu antworten, rannte ich auf ihn zu, und wir schlugen ohne Zurückhaltung aufeinander ein. Die Magie sang mir aus den Tiefen meiner Seele zu und bestand darauf, dass ich Adam überwältigen könnte, wenn ich mich nur ein bisschen schneller bewegte, ein bisschen härter kämpfte.
Ich versuchte einen weiteren Magiestoß und verfehlte Adam um Haaresbreite. Er erwiderte mit der gleichen Geste, und statt einen Schild heraufzubeschwören, fixierte ich die heranrauschende Magie. Ich stellte mir vor, wie sie zerfaserte und sich auflösen würde. Auf keinen Fall würde sie mich erreichen, das war gar nicht möglich.
Denk an das Ergebnis. Mach es wahr.
Schon wurde Adams Magie von einem roten Schimmer überlagert, der sie aufzufressen schien. Doch es war nicht schnell – oder nicht wirkungsvoll genug. Ein Rest der Magie traf mich an der Schulter, ein dumpfer Schmerz, der mich straucheln ließ.
»Guter Versuch«, lobte Adam, und ich schnitt eine Grimasse und rannte wieder auf ihn zu. Ich versuchte, ihn mit einer Handgeste in Stase zu versetzen, aber Adam konterte meine Angriffe schneller, als es möglich sein sollte. Und nachdem ich meine ganze Kraft in einen Schlag gesteckt hatte, brachte er mich mit einem Fuß an meinem Knöchel zum Stolpern. Ich drehte mich auf dem Absatz um, um nicht zu Boden zu fallen. Adam hatte einen Arm direkt hinter sich gestreckt, und ich war ihm nun so nah, dass ich mich direkt in seine Ellbogenbeuge drehte. Meine Taille war plötzlich von seinem Arm umschlossen, meine Seite an seine Brust gedrückt, das Ende meiner Magieklinge lag an seinem Hals, während sein Lichtseil gegen meine Kehle presste.
Ich keuchte. Mir war so heiß, dass ich ahnte, wie glühend rot meine Wangen sein mussten. Gleichzeitig spürte ich Adams Herz heftig gegen meine Schulter pochen und seinen abgehackten Atem knapp über meinem Ohr.
»Du bist wirklich gut«, murmelte er mit rauer Stimme. »Du kämpfst wie jemand, der nichts zu verlieren, aber alles zu gewinnen hat.«
Ich spürte den Druck seines Magieseils an meinem Hals und zwang mich, ruhig zu stehen. »Das stimmt nicht.« Ich schob die Klinge näher an Adams Kehle, während meine Hüfte gegen seine Leiste presste. »Ich kann es mir nur einfach nicht leisten, zu verlieren. Du dagegen … du kämpfst, als würdest du etwas zurückhalten.«
Adams Mundwinkel hob sich. »Und wenn es so wäre?«, fragte er. Dann berührte mich seine freie Hand. Seine Finger breiteten sich auf meinem Bauch aus, sein Daumen fuhr entlang meiner Rippen nach oben.
Ich konnte nicht mehr klar denken. Die Kälte von Adams Magie wickelte ihre eisigen Fäden um mein Wesen, während sich der Nervenkitzel des Kampfes in etwas verwandelte, das sich unendlich gefährlich anfühlte. Ich war mir Adams Gegenwart so bewusst wie nie, spürte, wie angespannt er war, spürte, wie sehr ihm all das naheging.
Deine Magie war wunderschön.
Vorsichtig drehte ich meinen Kopf nach links. Das rote Glühen meiner Klinge spiegelte sich in Adams hellgrauer Iris, während sich ein schwindelerregendes Gewirr an Gefühlen wie ein Lauffeuer durch meinen Körper schob.
Blende es aus, sagte ich mir stumm. Er wird sich dir niemals öffnen.
»Gibst du auf?«, raunte Adam an meinem Ohr.
Ich zog meine Klinge langsam weg, und mein Herz blieb mir dabei nahezu im Hals stecken. »Ja«, sagte ich. »Ich gebe auf.«
Die künstlichen Sonnen dimmten bereits ihr Licht, als ich in dem Stockwerk ankam, in dem unser Gästeflügel lag. Mein Körper spannte noch etwas vom Kampf, doch die Magie selbst hatte sich verflüchtigt. Ich spürte nur das Pulsieren des Drachenarmbandes und ein Ziehen in der Magengegend, das ich mit aller Kraft zu ignorieren versuchte.
Blöde Mirrorlords mit ihrem blöden Kampftraining.
Gerade wollte ich auf meine Suite zusteuern, als ich eine Gestalt aus dem Zimmer nebenan kommen sah. Aus Matts Zimmer.
Ich versteinerte, als ich ihn erkannte: Sebastian. Er trug den üblichen gelbgoldenen Anzug, die dunkelblonden Haare wieder nach oben gebunden. Er zwinkerte mir zu, bevor er gut gelaunt den Gang runterstolzierte.
O Mann.
Erst ging ich auf meine eigene Tür zu, doch schließlich bog ich ab und klopfte an Matts. Ein »Komm rein« kam zurück, und ich hörte schon am dumpfen Klang seiner Stimme, dass die Stimmung im Keller war.
Er saß auf dem Balkon, der von seinem Wohnzimmer abging. Dort hatte man einen fantastischen Blick auf die Stadt. Nur ein dünner Streifen Himmel war sichtbar durch die Lücken in den Dächern, die in Farbtupfen aus Orange, Gold und Violett getaucht waren. Auf Straßenniveau waren die Schatten tief genug, so dass die Laternen bereits angegangen waren.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich leise, nachdem ich mich neben Matt gestellt hatte. Er hatte sich auf einem Liegestuhl in eine Decke eingewickelt und nickte leicht, in Gedanken ganz woanders. Neben ihm stand eine Flasche mit dieser furchtbar süßen Flüssigkeit, die ich garantiert nie wieder anrühren würde.
Ich setzte mich auf eine Bank vor dem Balkongeländer und sah nach oben, in das echte Rom. Man konnte Autos als kleine Punkte über die Straßen fahren sehen, und auch der Rest der Stadt war zum Sonnenuntergang bereits in ein Lichtermeer getaucht.
Matt griff nach der Flasche, setzte sie an und nahm einen langen Schluck. Dann rieb er sich über den Mund. »Warst du schon mal verliebt?«, fragte er so unvermittelt, dass ich die Augenbrauen nach oben zog.
»Das ist ja mal eine Begrüßung.«
Matt lächelte. »Hallo Rayne. Warst du schon mal verliebt?«
Ich verdrehte die Augen, stand wieder auf und ließ mich auf den zweiten Liegestuhl sinken. Offenbar würde das die Art Gespräch werden, bei der man sich am besten nicht direkt in die Augen sah.
»Nicht wirklich«, gab ich zu. »Die Jungs im Waisenhaus waren schon zu sehr wie Lazarus. Es gab da mal einen, aber … er war auch nur nett, weil er was von mir haben wollte.«
Matt schaute weiterhin in die Ferne. »Manche Menschen wissen nicht, wie man andere Menschen gut behandelt.«
Mir war klar, dass er von Sebastian redete. So wirklich off war ihre Beziehung also wohl immer noch nicht. »Und trotzdem liebst du ihn?«, fragte ich leise.
Ein Seufzen. »Mein Kopf weiß, dass er Gift für mich ist. Es ist einfach nur nicht leicht, loszulassen. Was ich früher oder später sowieso hätte tun müssen, die Leute haben eh schon getuschelt. Wenn er an richtig beschissenen Tagen freundlich zu mir ist, so wie heute, ist es nur schwieriger, sich daran zu erinnern, was für ein Arschloch er sein kann.«
»Willst du drüber reden?«
Matt winkte ab. »Eigentlich gibt es nichts zu sagen. Ich war Sebastian nie wirklich wichtig, und ich bin es auch heute nicht. Er hat große Ambitionen, mit denen ich nicht mithalten kann.« Matt schnaubte. »Mein jüngeres Ich war bereit, alle Regeln zu ignorieren, nur um Sebastian heiraten zu dürfen. Sechzehn Jahre und so naiv.«
»Du bist siebzehn.«
»Es war ein Jahr voller Weisheit«, erwiderte Matt mit einem Lächeln. Danach schwieg er einige Minuten, und ich ließ ihn. »Weißt du«, setzte er schließlich an. »Es ist so bescheuert. Unter Trägern ist es völlig üblich, sich neben der Ehe Liebschaften zu suchen. Es erwartet niemand, dass man seinen Ehepartner tatsächlich liebt. Jeder von uns könnte fünf Liebhaber gleichzeitig haben, und niemand würde auch nur die Nase rümpfen. Nur untereinander … da ist es verboten.« Matts Augen wurden feucht, und er holte tief Luft. »Und mir ist klar, es ist Schwachsinn, sich zu wünschen, dass ich denjenigen, den ich liebe, an meiner Seite haben kann …, nur …«
»Ist es nicht«, flüsterte ich und griff nach Matts freier Hand, die aus der Decke herauslugte.
Matt sah langsam zu mir. »Die Chance, dass es dir anders ergehen wird, ist zwar im Gegensatz zu mir theoretisch vorhanden, allerdings verschwindend gering. Die Träger haben Reichtum, eine Familie, Kinder, aber Glück? Ich fürchte, das steht nicht auf dem Programm.«
Ich wusste, die nächsten Worte, die ich sagte, würden viel zu viel preisgeben. Trotzdem musste ich sie aussprechen. »Adam wird zuerst heiraten, oder? So wie seine Mutter?«
»So ist es vorgesehen. Als Mirrorlord muss seine Nachfolge gesichert werden. Deswegen wurde Leanore auch direkt mit achtzehn Jahren verheiratet.« Matt musterte mich. Sehr lange und mit stechendem Blick. »Da läuft etwas zwischen euch, oder? Ich dachte es mir schon auf der Fahrt zur Septe.«
»Ich …« Ich seufzte. »Keine Ahnung.«
Matt setzte sich auf und drehte sich mir zu. Er stellte das Glas zur Seite und umgriff meine Hände.
»Rayne, ich sage es ja nur ungern, aber … das ist aussichtslos. Selbst wenn Adam etwas für dich empfindet, er würde nie seine Blutlinie dafür riskieren.« Er sah mich eindringlich an. »Niemals. Ich kenne ihn. Mal abgesehen davon, dass es ihn seinen Thron kosten könnte … er sieht es als seine Pflicht an, die Nachfolge der Trembletts zu sichern. Noch ignoriert er die Heiratsanträge, aber nicht mehr lange.« Er streichelte entschuldigend über meinen Handrücken. »Lass dir nicht das Herz brechen.«
Ich sagte nichts dazu. Ein Teil von mir wollte sich zu gern einreden, dass diese Gefühle, die in mir gewachsen waren, ohnehin nur von der Magieverbindung herrührten. Doch der Druck, der sich bei Matts Worten um meine Kehle legte, erzählte eine andere Geschichte.
Da griff Matt wieder nach seinem Glas und prostete mir zu. »Auf die unerfüllte Liebe.«
»Ich dachte, du liebst Sebastian nicht mehr.«
Matt lächelte, kippte die Flüssigkeit runter, ohne dabei eine Miene zu verziehen. »Jetzt wieder ein kleines bisschen weniger.«
Ich lief zurück in meine Suite und dort direkt ins Badezimmer. Ein warmes Licht schien auf mich herab, nachdem ich auf den Schalter gedrückt hatte, und ich blieb kurz ganz still stehen, als ich mich inmitten von edlen Marmorböden, einem goldenen Kronleuchter und feinbestickten Handtüchern wiederfand.
Aus irgendeinem Grund traf es mich völlig unvorbereitet: Das ist jetzt dein Leben. Und zwar für immer. Ein goldener Käfig im wahrsten Sinne des Wortes. Jeder Wunsch würde mir von den Augen abgelesen werden, außer das, was ich am meisten wollte.
Frei zu sein.
Angestrengt versuchte ich, mich nicht runterziehen zu lassen. Stark zu bleiben. Langsam lief ich zu einem der großen Spiegel des Badezimmers und schaute mich an. Im Grunde sah ich nicht anders aus als sonst. Vielleicht waren meine Wangen etwas rosiger, und das Essen der letzten Tage hatte dafür gesorgt, dass ich nicht mehr als dürr wie ein Grashalm durchging, sondern mindestens bei dünn wie ein Blumenstängel angekommen war.
Mein Blick fiel auf meinen rechten Arm. Ich ballte die Hand zu einer Faust und versuchte, eine Verbindung zu Ignis herzustellen. Die Lichtmale flackerten sofort auf. Erst nur auf dem rechten Arm, doch schließlich überall. Allerdings sammelte sich die Magie nicht nur in meinen Fingerspitzen, sondern auch an meinem Oberkörper, vor allem vorn links, unterhalb meiner Schulter. Ich hatte die Hitzeansammlung dort schon vorhin im Training gespürt, aber versucht, es zu ignorieren.
Entschlossen, es nicht länger hinauszuzögern, griff ich an den Ärmel meines Shirts und schob ihn hoch. Doch das verdammte Ding war so eng, ich kam nicht weit. Noch einmal spähte ich zur Tür, dann zog ich mir das Shirt über den Kopf.
Erleichterung durchflutete mich. Die Male sahen so aus, wie sie immer aussahen: Linien bildeten sich in der Form von Flammen, dazwischen die Ignis-Gravur. Mehrere abstrakte Linien, Schnörkel und Ornamente und dort, nahe meiner Schulter …
Zwei untereinanderstehende, schräge Kreuze.
Die Gravur von Alius und Etas.
»O verdammt«, flüsterte ich und machte einen Schritt nach vorn, um das Mal zu betrachten. Ja, es war definitiv Adams Sigil-Gravur.
Als ich einen Finger darauf legte, schoss die Hitze von dort durch meinen gesamten Körper. Ich musste mich an der Wand abstützen, so schwindlig wurde mir.
Irgendetwas war passiert, bei unserem Training. Oder vielleicht schon am Abend davor, als Adam mir geholfen hatte, meine Magie zu beruhigen. Die Verbindung zwischen uns, die beinahe erloschen schien, war erneut aufgeflammt.
Stärker als je zuvor.