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W ie viele Male konnte ein Leben sich auf den Kopf stellen?

Die Antwort: viel öfter, als es einem lieb war.

Ich schaute hinein in den Kleiderschrank aus verbeultem Blech, in dem ausgefranste Hosen, ausgefranste Shirts und ausgefranste Pullover hingen, und das in so vielen unterschiedlichen Größen, dass ich mir sicher war, alle Rebellen hatten jeweils eins ihrer Kleidungsstücke gespendet, um die Neulinge damit zu versorgen.

Wahrscheinlich musste ich mich glücklich schätzen, dass die Teile gewaschen waren.

Müde rieb ich mir über die Stirn, griff mir eine der weniger tief hängenden Hosen und schlüpfte hinein. Mit einem Shirt in der Hand drehte ich mich um und schaute zu Lily.

Sie saß im Schneidersitz auf ihrem Bett, die Augen vor Konzentration fest geschlossen. Um ihren Hals lag das Sigil-Medaillon, das Dorian ihr erst vor ein paar Tagen gegeben hatte. In regelmäßigen Abständen ließ sie kleine Magieschwaden entstehen, die sich züngelnd von einer Hand zur anderen bewegten. Anfangs hatte es gar nicht funktionieren wollen, doch nun sah es von Mal zu Mal besser aus. Wahrscheinlich würde es nicht mehr lange dauern, bis Lily mit den anderen Rebellen trainieren konnte.

»Wenn wir uns dem Auge schon angeschlossen haben, will ich nicht nur nutzlos herumliegen«, hatte sie gesagt. Seither saß sie beinahe jeden Tag mit dem Sigil um den Hals im Zimmer und übte eine Geste nach der anderen.

Ich war so unendlich glücklich, dass Lily noch bei mir war. Bei unserer Ankunft hatten die Rebellen uns Einzelzimmer angeboten. Wir hatten völlig synchron abgelehnt. Und inzwischen war es, als wäre sie nie von mir getrennt gewesen.

Ein sanftes Brummen ertönte. Es kam vom Spektral, der neben Lily auf dem Bett lag. Sein von Magie durchsetzter Raubkatzenkörper hob und senkte sich ruhig. Es war ein Anblick, an den ich mich inzwischen gewöhnt hatte, denn das Wesen war uns seit dem Tag in London nicht mehr von der Seite gewichen. Doch in diesem Moment zuckte es mit einer Pfote, als hätte es etwas Seltsames geträumt, und kratzte Lily dabei ganz leicht über den Oberarm.

»Hör schon auf«, raunte sie und ließ seufzend ihre Hände sinken. Dann warf sie mir einen schneidenden Blick zu. »Gib ihm endlich einen Namen, damit ich ihn ausschimpfen kann. Sonst gewöhnt er sich noch an Sternchen. «

»Ich finde ja, Sternchen klingt ziemlich gut.«

Auf Lilys empörtes Starren hin lächelte ich und stellte mich neben den Spektral, um über sein Fell zu streicheln. Die Magie darin waberte ganz sanft umher, wie Wellenbewegungen, und seine dunklen Augen musterten mich neugierig.

Die Wahrheit war: Ich hatte mich bislang nicht getraut, dem Wesen einen Namen zu geben, weil ich mir sicher war, dass es eines Tages einfach wieder als Schmetterling oder Vogel in der Luft verschwinden würde. So, wie es vor einigen Wochen im Garten Septems in mein Leben getreten war.

Wochen . So lange war es inzwischen bereits her, seit ich Adam, Dina und die anderen das letzte Mal gesehen hatte. Zwei volle Wochen.

»Wie wär’s mit Echo ?«, flüsterte ich dem Spektral zu. »Immerhin trägst du genauso viele Seelen in dir wie ich.«

Er brummte nur und legte sich wieder hin, was Lily ein Lachen entlockte. Erst als sie mich anschaute, verstummte sie und legte ihre Stirn in Falten. »Soll ich vielleicht doch mitkommen?«, fragte sie. »Wenn du willst, kann ich Nessa bedrohlich anstarren, während ihr redet.«

Ich grinste. »Nein, schon gut. Ich erzähl dir später alles.«

Lily nickte, dann ließ sie ihren Kopf einmal kreisen, schloss die Augen, und erzeugte neue Magieschwaden.

Ich lief auf den Flur hinaus und schloss die Tür leise hinter mir. Es war völlig still in der neuen Basis. Nur ein paar Rebellen liefen herum und warfen mir Blicke zu – mir, und dem schwarzen Lederarmband, das um Ignis lag. Die meisten waren skeptisch, was meine Anwesenheit hier anging, so viel hatte ich schon von meiner Mutter gehört. Aber sie beteuerte auch, dass mir niemand Probleme bereiten würde und die Leute bald dankbar wären, dass ich mich ihnen angeschlossen hatte.

Hast du dich ihnen denn angeschlossen?

Mir entwich ein überraschter Laut, und ich blieb abrupt stehen. Eine Frau, die mir gerade im Gang entgegengekommen war, warf mir einen verwirrten Blick zu. Erst als ich abwinkte und murmelte, dass alles okay sei, ging sie weiter. Ich holte tief Luft, schüttelte den Kopf.

Du musst wirklich damit aufhören, mich so zu erschrecken.

Meine Magie summte, und wie immer, wenn wir die Verbindung öffneten, glommen meine Lichtmale auf. Ich öffnete die nächstbeste Tür – irgendeine Abstellkammer – und presste mich von innen dagegen, bis sie ins Schloss fiel.

Ich versuche gar nicht, dich zu erschrecken, kam es nur zurück. Ich versuche nicht einmal, Kontakt zu dir aufzunehmen.

Und wieso bist du dann ständig in meinem Kopf?

Es war, als könnte ich Adam seufzen hören. Vor meinem inneren Auge sah ich ihn auf und ab laufen, während er sich durch die weißblonden Haare strich.

Du weißt, wieso.

Ja, ich wusste es. Es war genau derselbe Grund, warum ich mich nicht einmal mehr anstrengte, ihn aus meinen Gedanken fernzuhalten. Warum die Tür zwischen seiner Magie und meiner in diesen Tagen immer sperrangelweit offen stand.

Weil ich ihn nicht ausschließen wollte.

Weil meine Magie jedes Mal sang, wenn ich seine Stimme hörte.

Das, was Nessa und deine Mutter da verfolgen, sind Hirngespinste, sagte er. Das Auge würde den Mirror und eure Welt in den Abgrund stürzen, wenn sie die Sigils von ihren Blutlinien trennen.

Genau das will ich ja herausfinden. Ich will wissen, ob es eine Möglichkeit gibt, uns von diesem Zwang zu befreien. Nichts weiter. Adam … ich bin nicht deine Feindin.

Sie werden versuchen, dich dazu zu machen.

Tja. Sie werden sich die Zähne ausbeißen.

Die Verbindung kam zur Ruhe, aber ich spürte Adams Präsenz noch immer. Vor mir in der Abstellkammer standen einige chaotisch vollgestellte Regale mit etwas, das nach Medizinverpackungen aussah.

Ich wusste, ich sollte mich umdrehen, den Raum verlassen und die Tür zu Adam, die es nun in meinem Bewusstsein gab, so fest wie möglich verschließen. Ich war nun eine Rebellin und das aus gutem Grund. Ich wollte meine Freiheit zurück, wollte nicht dieses Leben leben, von dem Celine gesprochen hatte, ein Leben, das von Anfang bis Ende fremdbestimmt wurde.

Ich wollte keine Plakette unter einem Gemälde sein.

Ich wollte wählen, wen ich liebte.

Und ich wollte, dass derjenige auch mich wählte.

Ein Vibrieren ging durch die Magie, die fest in meinem Blut verankert war. Und mir entfuhr ein ungläubiger Atemzug, als sich die Abstellkammer auf einmal wandelte, zu einer Höhle unter der Erde, über der klares Wasser in der Luft schwebte.

»Was zur …«, entfuhr es mir, dann spürte ich, wie sich zwei Hände an meine Taille legten. Ich drehte mich um und starrte entgeistert in Adams hellgraue Augen. Es war, als wäre er wirklich hier, direkt vor mir. »Wie … wie ist das möglich?«

»Magie?«, schlug er vor. »Na ja, und etwas Übung. Dieser Ort wurde von uns geschaffen, ich schätze, deswegen ermöglicht er es uns, zu ihm zurückzukehren.«

Wahrscheinlich sollte es mir Angst machen, wie sehr die Grenze zwischen uns mittlerweile verschwommen war. Wie leicht Adam sich in mein Bewusstsein schieben konnte, aber das tat es nicht.

»Wenn es nur ich wäre, ohne den Mirror, ohne die Dark Sigils …« Adam legte eine Hand an meine Wange. »Dann würde ich dich wählen, Rayne. Und ich würde alles dafür tun, es wert zu sein, dass du mich wählst.«

Das bist du längst, dachte ich und spürte, wie der Gedanke nur mit Mühe von meiner Seite der Tür zu seiner hindurchdrang. Akzeptier es, Adam. Du kannst mich nicht dazu bringen, dich zu hassen.

Er lächelte. Dann hauchte er einen Kuss auf meine Lippen und verschwand mitsamt der unterirdischen Höhle vor meinen Augen.

Versprich nichts, was du nicht halten kannst, flüsterte er noch, bevor sich die Verbindung zwischen uns endgültig auflöste.

Zitternd drückte ich die Klinke zum Flur nach unten, und ich widerstand dem völlig bescheuerten Drang, meine Kleider zu richten. Adam war nicht hier gewesen, hatte mich nie berührt. Er war kilometerweit entfernt, irgendwo im Mirror.

Ich lief mit schnellen Schritten zum Kommandoraum, der im obersten Stockwerk der neuen Basis lag. Nur Dorian stand vor den Monitoren, die aktuelle Nachrichten zeigten, sonst war niemand hier.

»Guten Morgen«, sagte ich schließlich, und Dorian schaute kurz über seine Schulter und nickte mir zu. Ich überflog die Überschriften, die dort auf den Bildschirmen zu sehen waren. Keine Nachrichten aus dem Mirror, natürlich, aber durch Nessas Spione wussten wir auch so, was seit dem Anschlag auf Septem geschehen war.

Fast die Hälfte der Magistrate war aus ihren Ämtern entlassen worden. Adam hatte sich offenbar durchgesetzt – er hatte sogar Magistrat Pelham durch Agrona Soverall ersetzen lassen. Doch es gab erste Unruhen. Einige der Oberen waren mit dem, was ihr Herrscher tat, alles andere als zufrieden.

Ich konnte nur hoffen, dass Adam wusste, welches Risiko er einging. Und dass Dina, Celine und Cedric fest an seiner Seite stehen würden, während ich es nicht konnte.

Ich nicht … und Matt ebenfalls nicht. Denn zwei Wochen später war er noch immer nicht in den Mirror zurückgekehrt. Adam ließ ihn suchen, so viel wusste ich – aber Matt, Nikki und Sebastian waren wie vom Erdboden verschluckt.

»Findest du es eigentlich nicht seltsam?«, fragte ich Dorian. »Dass Sebastian sich so hat ausspielen lassen?«

Dorian schaute verwundert zu mir. »Was meinst du?«

»Na ja …« Ich hob die Schultern. Es war die eine Sache, die ich noch nicht begriffen hatte. »Er wollte mich eintauschen, oder? Mich gegen den Thron des Mirrors. Den hat er nicht bekommen. Und den wolltet ihr ihm ja auch nie geben. Also … wieso rächt er sich nicht?«

Dorian lächelte. »Du überschätzt ihn. Sebastian Lacroix ist so von sich selbst eingenommen, dass er nicht weiter sieht als bis zu seiner eigenen Nasenspitze.«

Da war ich mir nicht so sicher. Sebastian mochte selbstverliebt sein, aber nicht dumm. Er hätte doch niemals ernsthaft geglaubt, dass die Rebellen ihn auf den Thron heben würden, nur weil Nessa Greenwater auf Kriegsfuß mit den Trembletts stand.

Es nützte nichts, mit Dorian darüber zu diskutieren, das hatte ich in den letzten zwei Wochen schon gemerkt. Zwei Wochen, in denen meine Gedanken ständig kreisten und ich versuchte, das, was ich erlebt hatte, irgendwie zu verstehen. Zum Beispiel, wieso Adams Mutter unbedingt so große Mengen von Magie nach Prime hatte bringen wollen, dass sie sogar den Befehl gegeben hatte, sie zu manipulieren. Sie hatte riskiert, dass die Chaosmagie Prime nach und nach befallen würde … wozu? Waren ihr die Folgen einfach nur nicht bewusst gewesen? Hatte es sie nicht gekümmert? Oder steckte mehr dahinter?

Schritte ertönten, und Nessa kam in den Raum gelaufen, meine Mutter wie immer in ihrem Schlepptau.

Sie nickte mir im Vorbeigehen zu und setzte sich an den Tisch, auf dem wie an jedem Tag Landkarten, Laptops und Sigils ausgebreitet waren.

»Erzählen Sie mir heute endlich, wie Sie das Dark Sigil von mir lösen wollen?«, fragte ich sie.

Nessas schwarz geschminkte Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. In den letzten Wochen hatte sie mich immer vertröstet mit den Worten, dass das Auge sich nach dem Angriff der Abbys erst wieder sammeln müsse. Aber nun war meine Geduld zu Ende.

»Ich habe keinen Grund, es vor dir zu verheimlichen, falls du das denkst«, sagte sie. »Wir werden dich schließlich brauchen, wenn wir es bergen wollen.«

»Bergen?«, wiederholte ich misstrauisch.

Nessa nickte. Sie griff an einen der Laptops und öffnete ihn. Einen Moment tippte sie – offenbar suchte sie etwas –, bevor sie ihn in meine Richtung drehte.

Ein Bild war zu sehen. Es musste eine Art … Scan sein. Von irgendeiner sehr alten Buchseite, jedenfalls konnte ich die Schrift darauf kaum entziffern. Auf der Mitte der Seite jedoch war eine Art Messer abgebildet. Nein – ein Dolch.

»Es gibt etwas, das vor vielen Jahren versteckt wurde«, setzte Nessa an. »Etwas, das die Macht hat, die Verbindung von einem Träger zu dessen Dark Sigil zu trennen. Und zwar so, dass man das Sigil danach frei an jemand anderen geben kann, ohne dass der ursprüngliche Träger stirbt.«

»Und wo soll dieses Etwas sein?«

»Das wissen wir noch nicht. Zumindest nicht genau. In den Archiven von Septem gibt es keinerlei Aufzeichnungen dazu, sicherlich aus voller Absicht, aber wir konnten einige alte Schriften in Prime auftreiben. Schriften über den Ursprung der Magie. Darin gab es erste Anhaltspunkte, wo es sich befinden könnte.«

»Es?« Ich fixierte die Zeichnung des Dolches. »Was ist es?«

Nessa lehnte sich im Stuhl zurück. Sie zögerte, so wie sie es in den letzten Tagen auch gemacht hatte. Wir wussten beide, dass wir uns nicht vertrauten. Dass wir nur etwas voneinander wollten, das wir anderswo nicht bekommen würden. Sie und ich, wir waren der Inbegriff einer Zweckgemeinschaft. Aber früher oder später musste sie mir ihr Wissen anvertrauen, und das schien sie in diesem Augenblick ebenfalls zu verstehen.

»Der Gegenstand, von dem ich rede, ist … das achte Dark Sigil.«

Ich war mir sicher, mich verhört zu haben, doch natürlich war es nicht so. »Ein … achtes Dark Sigil?«

»Ja.« Nessa deutete auf Ignis. »Und wenn du bereit bist, deine Gefühle für die Sieben ziehen zu lassen, für jeden von ihnen, dann haben wir dank deines Armbands die Chance, es endlich zu finden.«

Ich presste die Lippen aufeinander. Nessa durchschaute mich, das hatte ich von Anfang an gespürt. Sie wusste, dass ich die anderen Träger in mein Herz geschlossen hatte. Und sie wusste wohl auch, was Adam mir bedeutete.

Was sie nicht wusste, war jedoch, wie sehr Dina, Matt und sogar Celine unter dem Leben, das sie führten, zu leiden hatten. Jeder von ihnen war natürlich bereit, zu tun, was sie für ihre Pflicht hielten. So waren sie erzogen worden, es war alles, woran sie glaubten. Aber mir war klar: Heimlich träumten sie davon, eine Wahl zu haben … welches Leben sie führten und wen sie lieben wollten.

Nessa verlangte von mir, dass ich meine Gefühle für die Sieben ziehen ließ? Für Adam? Das konnte ich nicht. Doch ich würde sie beiseiteschieben, für eine Weile … um das zu tun, was nötig war.