XIV.
Jana Bittnerová war schon den fünften Tag zu Hause geblieben, sie hatte sich freigenommen. Offiziell, um den Nachlass zu regeln, in Wirklichkeit jedoch, um ihren kaputten Nerven etwas Ruhe zu gönnen. Von der Mattscheibe sprang ihr das Bild ihres Vaters entgegen, der zur Fahndung ausgeschrieben war. Es musste mindestens zehn Jahre alt sein.
Sie schaltete den Fernseher ab, starrte stumpf auf den grauen Bildschirm und betete nur, dass keine seriöse Zeitung durchsickern ließe, dass es hier um ihren Vater ging. Der Polizeidirektor hatte ihr das versprochen. Es war ja möglich, dass die Polizei zumindest in dieser Beziehung einmal nicht versagte.
Die Haustürklingel riss sie aus ihren Gedanken. Unter den Fenstern ihrer Villa stand Gavla. Er sah aufgebracht aus, und zum ersten Mal erschien er leger gekleidet vor ihr, in einer Art T-Shirt und Shorts, obwohl es ein kalter Herbsttag war. Als wäre er gerade aus dem Bett gekrochen. Sie selbst hatte ein Handtuch um den Kopf gewickelt und war im Schlafanzug. So wollte sie ihn nicht ins Haus lassen, Familienidylle im Negligé. Darauf hatte sie nun wirklich keine Lust.
Mit dem Summer öffnete sie ihm die Tür. Das laute Zuschlagen der Haustür bestätigte ihr, dass er besonders schlecht aufgelegt war.
– Die Polizei war bei mir, machte er sich gleich auf der Türschwelle Luft. Mit einem Mal fühlte sich Jana erschöpft und müde. Dieser eine Satz hatte zur Folge, dass sie eine unheimliche Lethargie überkam.
– Das war zu erwarten. Was wollten sie?
– Ich war angeblich der Letzte, mit dem Milan vor seinem Tod gesprochen hat. Laut Telefon.
Unterdessen hatte Jana ihm zur Beruhigung einen Gin Tonic in die Hand gedrückt. Sie hatte nichts anderes mehr im Haus. Während der letzten Woche hatte sie die ganze Bar leer gemacht, ohne ein einziges Mal so richtig betrunken zu sein, wie sie sich inständig gewünscht hätte. Dieser Effekt war nicht eingetreten, und das war deprimierend für sie. Es gelang ihr nicht, sich zu entspannen, die aufdringlichen Gedanken und die beklemmenden Krämpfe in ihrem Körper loszuwerden.
– Vor ungefähr zwei Wochen hat er mir eine Nachricht geschrieben, dass ihr zu einem Turnier nach Brno fahrt und du ihn auf dem Rückweg mitnimmst nach Ostrava.
Verwirrt sah Gavla sie an. Zu dieser Zeit musste er doch schon lange tot gewesen sein. Er schwieg.
– War was mit seinem Wagen?, riss sie ihn aus seinen Gedanken.
– Na ja, irgendwas ist da wohl abgeschmiert, der Anlasser vielleicht oder so. Er wollte, dass ich ihn nach Hause bringe, log er und bemühte sich um einen unbefangenen Ton, damit sie nicht mitbekam, wie irritiert er war.
– Den Wagen hat ja wohl nicht seine …
– Keine Ahnung, eher wohl nicht. Er nippte an seinem Gin Tonic.
– Warum, zum Teufel, schert sich die Polizei um dich und nicht um die? Wer sonst hätte mehr Grund, sich zu rächen und mich unmöglich aussehen zu lassen? Die hat Milan ja sowieso nur sein Geld abgeknöpft. Hat die ihn nicht bedrängt, dass er sich scheiden lassen soll oder so was in der Art? Jana ließ sich auf die Couch fallen und fixierte Gavla.
– Ich habe echt keine Ahnung, aber möglich ist alles.
– Weißt du, was das für eine Tussi ist? Resigniert sah sie ihn an.
– Nein, log er und leerte sein Glas bis auf den letzten Tropfen.
– Obwohl, jetzt fällt mir ein, dass er sich letztes Mal beschwert hat über sie, meinte er nachdenklich und kniff die Augen zusammen.
– Ich kann mich nur nicht erinnern, was genau er gesagt hat. Ich weiß nur, dass ich mich darüber amüsiert hab, meinte er, nur um etwas zu sagen.
– Dann denk nach und sag das beim nächsten Mal der Polizei. Jana lehnte sich müde in ihrem Sessel zurück, bis er knarrte und sie völlig in ihm versank.
– Ich würde gerne ein paar Tage bei dir bleiben, wenn dir das nichts ausmacht. Er wollte ihre Wangen streicheln, aber sie schob seine Hand weg.
– Bist du verrückt? Dass ich mit dir geschlafen habe, war auch ganz schön blöd von mir. Das wird sich nicht wiederholen. Zum Schluss verdächtigen die uns noch, dass wir Milan umgebracht haben, um den unbequemen Ehemann loszuwerden oder so. Das ist eine Schnapsidee. Du musst dich zusammenreißen und nach Hause gehen. Keiner darf dich zusammen mit mir sehen.
Gavla führte das leere Glas an den Mund, dann knallte er es auf die Küchenzeile und machte sich aus dem Staub. Eigentlich wusste er gar nicht, warum er bei ihr hatte sein wollen. Am ehesten noch, um sich vor der animalischen Schlampe zu verstecken, die ihn jetzt ganz schön piesacken konnte. Zum Glück hatte sie sich ein paar Tage nicht mehr gezeigt, dafür hatte Mariage sich gemeldet. Der wollte Kohle, was sonst. Genau wie er angenommen hatte, aber es war schon verdammt spät, um jetzt noch zur Polizei zu gehen. Einmal hatten sie sich gegenseitig einen Dienst erwiesen und damit war der Handel erledigt. Mariage allerdings wusste überraschend viel. Geradezu verdächtig viel. Gestern Abend hatte er Gavla eine E-Mail geschrieben, aus der hervorging, dass er von allem wusste, was sich in dieser verhängnisvollen Nacht abgespielt hatte.
Zahle 30.000 und keiner wird erfaren was in Prag passiert ist. Du hast zwei Tage dafür. KS.
Die Abkürzung könnte für die Klocková stehen, aber die wäre ja wohl nicht so blöd, de facto zu unterschreiben. Aber wer sonst hätte ein Motiv, ihn mit einer Angelegenheit zu erpressen, von der nur sie zwei wussten? Und wie viele solcher Mails würde er noch bekommen? Irgendwie ging alles den Bach runter.
Grußlos stürmte er von Jana los und knallte die Tür hinter sich zu. Na warte, Püppchen, du wirst mich auch noch brauchen, da kannst du Gift drauf nehmen.
Jana schaute auf ihre Uhr, es war ein paar Minuten vor elf. Um diese Zeit rief sie immer Laura an. Sie hatte ihr noch nichts gesagt, aber Laura hatte selber mitbekommen, dass irgendetwas nicht stimmte. Jana war nicht in der Lage, ihre Erschöpfung zu verbergen. Sie könnte höchstens die Webkamera ausschalten und so tun, als ob sie kaputt wäre. Das letzte Mal hatte sie sich damit herausgeredet, dass sie müde von der Arbeit sei, an die sie jedoch gerade keinen Gedanken verschwendete. Bis jetzt hatte sie immer das Gefühl gehabt, dass es ohne sie im Magistrat nicht einen Tag laufen würde, aber wie man sehen konnte, stand der Rathausturm noch und die Sekretärin meldete sich auch nicht. Trotzdem waren Janas Nerven bis zum Zerreißen gespannt, wenn sie sich die Papierstapel vorstellte, die sich auf ihrem Schreibtisch türmten. Sie fühlte sich so schwach, dass sie kein einziges Blatt Papier anheben könnte und ihr nach der ersten Zeile der Kopf auf die Tastatur sacken würde. Reiß dich zusammen, zum Teufel noch mal!, rief sie sich zur Ordnung.
Sie kontrollierte die Uhrzeit und schaltete den Computer ein. Die Webkamera ließ sie heute lieber aus. Sie musste ein paar Minuten warten, Laura würde wohl noch in der Uni sein.
Zerstreut surfte sie durch die Nachrichtenportale, als ihr auf der linken Seite plötzlich eine kleine Überschrift ins Auge sprang. Hat die Beigeordnete etwas mit dem Verschwinden ihres Vaters zu tun? Sie klickte sofort auf die Überschrift, es öffnete sich ein Artikel mit einer Fotografie vom Stellwerk ihres Vaters, derselben, die unlängst in der Blesk abgedruckt war. Jana überflog die ersten Zeilen: Jana Bittnerová, Beigeordnete des Bürgermeisters von Ostrava, hielt über Jahre hinweg die Obdachlosigkeit ihres Vaters geheim. Nach der Aufdeckung dieses Skandals ist der Vater der Beigeordneten auf seltsame Weise verschwunden und wurde von der Polizei zur Fahndung ausgeschrieben. Steckt die Tochter hinter seinem Verschwinden?
Die Härchen an Janas Arm stellten sich auf. Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Irgendein komplexbehafteter, korrumpierter Bulle musste da ordentlich abkassiert haben. Bei denen konnte man sich auf überhaupt nichts verlassen. Aber sie könnte denen mal ein bisschen Feuer unterm Hintern machen, die richtigen Hebel dafür hatte sie ja. Nur müsste sie sich erst mal berappeln, aber das hier war ja ein guter Grund.