XXI.
Der Postbotin öffnete der Vater die Tür nie. Wegen eines blödsinnigen Briefs würde er doch nicht von der Glotze aufstehen. Der Vater war wütend auf Pavel, weil der sich schon wieder zwei Tage lang nicht zu Hause gezeigt und sich um nichts gekümmert hatte. Er selbst hatte keinen Grund rauszugehen und wollte auch nicht, dass irgendjemand zu ihm nach Hause kam. Die Außenwelt interessierte ihn nicht, auch keine Briefe mit blauen oder roten Streifen. In seinem Gesicht sprossen graue Bartstoppeln und am Leib trug er ein Unterhemd undefinierbarer Farbe, in dem er die ganze Woche zugebracht hatte, die Tage und auch die Nächte.
Aber wenn Pavel nicht bald auftauchte, würde er zum Einkaufen raus müssen. Auch Šárka hatte er lange nicht mehr gesehen und keine Nachricht von ihr. Die eigenen Gören husteten ihm was und ließen ihn verhungern wie eine Ratte. Das verdarb ihm gehörig die Laune.
Er machte das letzte Bier auf und aß das letzte Stück Wurst, das er sorgfältig in kleine Würfel schnitt, damit es möglichst lange reichte. Im Kühlschrank fand er noch eine Suppe von letzter Woche. Sie roch nicht mehr so gut, aber er aß sie auf. Er müsste sich auch mal wieder rasieren, sein Gesicht juckte schon, aber das Wasser machten immer Pavel oder Šárka warm. Im Abwasch türmte sich ein riesiger Berg Geschirr, über dem eine lästige Schmeißfliege kreiste. An den Essenresten wucherte Schimmel. Er kehrte lieber wieder zu seinem Fernsehsessel zurück, wo er schon eine Kuhle ausgesessen und die Armlehnen abgegriffen hatte, ihre ursprüngliche Farbe hatte sich längst verloren.
Der Fernseher war so laut eingestellt, dass er den Schlüssel im Schloss nicht hörte. Erst das Klappen der Tür riss ihn aus seiner Fernsehwelt. Er hatte Mühe, den Kopf in Richtung Flur zu drehen.
– Bisdus, Šarina?, rief er über die Schulter zur Tür hin.
An der langen Stille erkannte er, dass Pavel gekommen war, was ihn etwas enttäuschte. Er setzte sich in seinem Sessel zurecht und verfolgte weiter die Nachmittagsshow.
– Hier ist ein Brief für dich. Pavel warf einen Umschlag mit einem roten Streifen auf den Tisch. – Ich hab die Postfrau im Hausflur getroffen, sie hat gesagt, dass du nicht aufgemacht hast. Und gefragt, ob dir irgendwas passiert ist …
– Wo bistn gewesen?
Pavel zuckte die Schultern. Diese Unterhaltung wiederholte sich immer wieder von vorn. Der Vater erwartete eigentlich gar keine Antwort, es war also vollkommen egal, was Pavel sagte.
– So verschieden eben.
Der Vater schmatzte und wandte seinen Blick nicht von der Glotze ab. Pavel sah sich in der Wohnung um, wo ein immer größeres Chaos herrschte und es immer mehr stank. Von dem Geschirr im Abwasch wurde ihm ganz übel, er hätte es am liebsten gleich in die Mülltonne geworfen. Er verkroch sich in seinem Zimmer, wo seine Zudecke noch immer so aufgeschlagen im Bett lag, wie er sie vor einigen Tagen verlassen hatte. Auf dem Nachttisch stand ein angefangener Saft, auf dessen Oberfläche sich eine kompakte Schicht Schimmel gebildet hatte. Noch in Schuhen streckte er sich auf dem Bett aus.
– Komm her und lies mir das vor. Ich weiß nicht, wo meine Brille ist, hörte er den Vater aus dem Nebenzimmer. Pavel rührte sich nicht.
– Die haben Šarina umgebracht, rief er dem Vater zu. Sein Ton war absolut unbeteiligt. Er fixierte dabei einen großen Fleck an der Zimmerdecke. Seit dem letzten Mal schien er größer geworden zu sein und sah jetzt ein bisschen so aus wie eine Karte von Afrika. Er hörte, wie der Vater den Fernseher ausschaltete und sich ächzend aus dem Sessel erhob. Ein paar schlurfende Schritte, begleitet vom Klopfen des Stocks, und der Vater stand auf der Zimmerschwelle.
– Wie? Was schwafelst du da wieder? Wie, die haben Šarina umgebracht? Was ist das für blödes Gelaber?
– Ich war bei den Bullen, weil jemand Šarina umgebracht hat. Wahrscheinlich jemand, mit dem sie gefickt hat, bemerkte er ohne jegliche Emotion. – Die waren wohl zweimal hier bei dir, aber du öffnest ja nie die Tür.
Er richtete sich auf und beobachtete den Vater, der ihn mit offenem Mund ungläubig anstarrte: Er sah wütend aus; so ein Gesicht zog er immer dann, wenn er drauf und dran war, Pavel zu vermöbeln. Er hörte, wie der Vater röchelnd atmete, dann kehrtmachte, langsam zum Sessel zurückschlurfte und sich hineinfallen ließ. Mit dem Stock klopfte er auf den Fußboden.
– Was ham die Bullen gesagt?
Pavel zuckte die Schultern.
– Nix.
Der Vater stieß laut seinen Stock auf den Boden und wurde puterrot.
– Irgendwas müssen die ja wohl gesagt haben! Haste nich ma gefragt, was passiert ist? Bist du so bekloppt, dass du nicht mal fragen kannst, wer sie umgebracht hat und warum? Ich will wissen, was passiert ist!
– Hab ich dir doch gesagt, dass sie wahrscheinlich einer von ihren Typen umgebracht hat.
Er sah, dass seinen Vater die Wut packte, und das waren die Momente, in denen sich Pavel vor ihm zu fürchten begann. Ihn überkam eine irrationale heilige Angst, die aus der Kindheit herrührte, als der Vater noch voll bei Kräften war und Pavel so sehr verdrosch, dass er nicht mal mehr laufen konnte. Heute würde er den Vater wohl besiegen, aber die Angst tief in seinem Inneren erlaubte ihm nicht den geringsten Widerstand. Auch keinen verbalen.
– Glaubst du das oder ham die das gesagt?
– Das haben die gesagt. Er senkte den Kopf und starrte zu Boden, um nicht das wutrote Gesicht seines Vaters sehen zu müssen.
Der Vater überlegte einen Moment. Er sah aus dem Fenster und sein Kinn zitterte. Pavel bemerkte, dass Tränen in seinen Augen glänzten.
– Wie lange ist sie schon tot?, flüsterte der Vater mit zitternder Stimme.
Pavel überlegte.
– Drei Tage ungefähr.
– Wo ist sie jetzt?, stieß er hervor, sobald er die Tränen unterdrückt hatte.
Wieder zuckte Pavel nur mit den Schultern. Er hatte nicht genau verstanden, wie der Vater die Frage meinte. Wo sollte sie schon sein, wenn sie tot war? In der Hölle wohl, aber das wollte sein Vater wahrscheinlich nicht hören.
Der Vater explodierte.
– Du bist so ein Scheißkerl. Ich will wissen, wo die sie hingetan haben, weil das Begräbnis organisiert werden muss, aber du bist so bekloppt, dass wieder ich mich um alles kümmern muss. Ich kann nicht laufen, ich bin krank, aber auf dich kann ich mich nicht verlassen, denn du bist ein Scheißkerl. Manchmal glaube ich, dass die dich im Kreißsaal vertauscht haben, anders ist es doch nicht zu erklären, dass ich so einen Trottel im Haus habe, wütete er und ächzte, so sehr regte er sich auf. Er stand aus dem Sessel auf und lief humpelnd durchs Zimmer, um sich zu beruhigen.
– Warum bist nicht lieber du abgekratzt? Du taugst doch sowieso zu gar nichts. Irgendwelches Zeugs schnüffeln, an Glücksautomaten spielen, das kannste, aber einen Job behalten, das packste nicht. Du kriegst nichts auf die Reihe, hast nur lauter Scheiße im Kopp. Scheiße, nur Scheiße. Nach seinem Ausbruch war der Vater so außer Atem, als hätte er einen hohen Berg bestiegen. Ganz rot im Gesicht und kaputt gab er sich endlich seiner Trauer hin, schluchzte und ließ seinen Tränen freien Lauf.
Alle schienen ihn verlassen zu haben. Erst seine Frau und jetzt Šárka. Zwei Raubkatzen, die sich immer zu helfen wussten. Drachinnen, die keine Furcht kannten, die sich nie unterkriegen ließen. Sie hatten Haare auf den Zähnen und spitze Krallen, wussten sich zu verteidigen. Solche Frauen achtete er, solche mochte er.
Nebenan im Zimmer fläzte nur Pavel auf dem Bett herum, schwach und weich wie Butter. Ängstlich und unfähig. Alles, was er sagte und tat, war wertlos. Nicht mal seine eigene Mutter hatte ihn je in Schutz genommen, sie sah selbst, dass ihr Sohn ein Trampel war und ein paar Ohrfeigen ihm nur guttun konnten. Eigentlich hatten sie kein zweites Kind mehr gewollt, aber für einen Abbruch hatten sie kein Geld und außerdem hätte es Ärger mit den Ämtern geben können. Da konnte man nun mal nichts tun, sie mussten sich damit abfinden, dass sie ein Gör mehr haben würden.
Pavel setzte sich auf. Seine Hände waren ganz schwitzig vom ewigen Reiben, während der Vater seine Wut und Trauer rausließ. Am liebsten hätte er sich in einer Zimmerecke zusammengekauert und sich in aller Stille ausgewütet. All seine Wut auf den Vater würde er in die Wände flüstern, alle Gefühle von Demütigung und Verlassensein in den Putz kratzen. Nur war er ja kein kleiner Junge mehr, der nachts in sein Kissen weinte. Er stand lieber auf und öffnete den Briefumschlag. Er las das amtliche Schreiben, in dem seinem Vater mitgeteilt wurde, dass seine Tochter Šárka Klocková einem Verbrechen zum Opfer gefallen war und in dem er aufgefordert wurde, sich zu einer Vernehmung einzufinden. Die zwei einfachen Informationen waren in mehrere Absätze einer merkwürdig unpersönlichen Amtssprache verpackt. Pavel kürzte den Inhalt des Briefes auf die nötigsten Mitteilungen. Er hätte ihn gar nicht lesen müssen, er hatte von vornherein gewusst, was drinstehen würde.
Der Vater rührte sich nicht, er stand da wie eine Statue. Schwer zu sagen, was ihm durch den Kopf ging. Emotionslos beobachtete ihn Pavel. Er spürte keine Gefühlsregung, nichts. Nur Leere. Ihm kam es so vor, als würde ihn der Tod seiner Schwester ungefähr so berühren, wie wenn man eine Mücke an der Wand zerquetschte. Eigentlich verspürte er vor allem eine riesige Genugtuung, dass auch der Vater endlich mal einen Schmerz fühlte. Er betrachtete ihn und verzog das Gesicht. Das hast du davon, du Schwein!
Bald jedoch unterdrückte der Vater seinen Schmerz und beruhigte sich. Nach einer Weile war er in der gleichen Verfassung wie einige Stunden zuvor, als er noch nicht von Šarinas Tod wusste. So ist das Leben und nichts dauert ewig. Auch an die Abwesenheit seiner Frau hatte er sich bald gewöhnt und im Grunde genommen lebte er schon lange allein, er brauchte keinen. Nur Pavel schmarotzte von ihm. In dem Augenblick überkam ihn eine solche Wut, dass er ihn am liebsten totgeschlagen hätte. Diesen verdammten Glücksspieler, Parasiten und Drückeberger. Ungelenk wedelte er mit seinem Arm und schlug mit dem Stock nach Pavel. Er traf ihn genau am Kopf. Pavel hatte den Schlag überhaupt nicht erwartet, der Stock hatte seine Nasenwurzel getroffen. Er sank in den Sessel, kauerte sich zusammen und wartete auf einen weiteren Hagel von Schlägen. Der Vater prügelte auf seinen Rücken, den Kopf und die Schultern ein.
– Das alles ist deine Schuld! Nur deine! Du hast dich nicht um Mama gekümmert, du hast Šarina nur die Kohle abgeknöpft, deinetwegen hat sie mit allen möglichen Typen gepennt, damit du Knete hast für die Scheißautomaten! Du bist ein Wichser, und es wäre besser, wenn es dich gar nicht gäbe.
Pavel spürte, wie der Stock gegen seine Arme schlug, mit denen er seinen Kopf schützte. Nach vorn gebeugt, schlich er sich aus der Reichweite des Vaters. Der hatte schon lange nicht mehr so viel Kraft und Ausdauer wie früher. Ein paar Hiebe genügten und er schwankte müde fort und fiel in seinen Sessel, japste und sah aus, als würde ihn gleich der Schlag treffen. Pavel verzog sich in die Diele. Wie ein Tier in seinem Versteck beobachtete er den Vater eine Zeit lang von dort. Er hatte ihn schon einmal angegriffen, das war Selbstverteidigung, aber damals war er noch sehr jung gewesen und der Vater noch immer kräftig. Wenn er ihn jetzt anspringen würde, wäre Pavel bestimmt auch imstande, ihn zu töten, aber das war ganz sicher nicht seine Absicht. Sollte er hier nur in seiner eigenen Scheiße verfaulen, sollten die Ratten ihn fressen. Er würde sich nie wieder hier blicken lassen, und eines Tages würde jemand den toten Vater finden, der Körper zersetzt und stinkend, weil es niemanden gab, der sich um ihn kümmerte und sich für ihn interessierte. Mit dieser Vorstellung ging Pavel fort. Es würde nicht lange dauern und er hätte genügend Kohle, notfalls könnte er ins Obdachlosenasyl gehen oder ins Wohnheim. Oder er würde sich endlich eine Frau suchen.