Es war ein scheußlicher Nachmittag Mitte März, kalt und regnerisch. John Sampson und ich rannten zum Haupteingang des sechseckigen Greensville Correctional Center, einem Hochsicherheitsgefängnis im ländlichen Süden des US-Bundesstaates Virginia.
Wir duckten uns ins Innere des Kontrollpostens, zeigten unsere Dienstmarken und Ausweise vor und legten die Dienstwaffen ab. Ein Tor rollte beiseite, und wir gingen weiter.
Ich habe als Detective der Mordkommission bei der Metropolitan Police von Washington, D.C., sowie als FBI-Verhaltensforscher im Lauf der Jahre eine Menge Gefängnisse und Haftanstalten besucht, aber trotzdem werde ich immer noch jedes Mal nervös, wenn eines dieser Stahlstrebentore hinter mir ins Schloss fällt. Angeführt vom Gefängnisdirektor, Adrian Yates, sowie mehreren Journalisten, die bereits vor uns eingetroffen waren, mussten wir insgesamt sieben solcher Tore hinter uns bringen.
Eine Journalistin namens Juanita Flake ergriff das Wort: »Stimmt es eigentlich, dass das sein persönlicher Wunsch war?«
Der Direktor setzte seinen Weg unbeirrt fort.
»Können Sie …?«
Direktor Yates wirbelte herum und starrte sie unvermittelt an. Er schien seine Wut kaum bändigen zu können. »Ich will nicht mehr darüber sprechen, Miss Flake. Ich befürworte das alles in keiner Weise, aber es ist meine Pflicht, für eine ordnungsgemäße Durchführung zu sorgen. Wollen Sie es anders haben? Dann wenden Sie sich an den Gouverneur.«
Yates, der im Vorfeld von den Medien heftig kritisiert worden war, stellte sich vor das nächste Tor, das sich daraufhin beiseiteschob. Drei Tore später betraten wir einen Raum, der mit seinen etwa dreißig Sitzplätzen wie ein kleines Amphitheater wirkte.
Zwanzig Plätze waren bereits besetzt. Ich erkannte einen Großteil der Anwesenden, obwohl ich sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte. Und sie erkannten uns ebenfalls. Die meisten nickten zur Begrüßung und ließen ein schwaches Lächeln sehen.
Eine dicht beisammensitzende Fünfergruppe verzog verächtlich das Gesicht, und ich war mir sicher, dass sie einander hämische Bemerkungen über uns zuraunten. Diese drei Männer und zwei Frauen waren sehr viel besser gekleidet als die übrigen Besucher.
Die Männer – zwei Brüder im mittleren Alter und ihr Vater – trugen maßgeschneiderte dreiteilige Anzüge. Die Frauen – eine Mitte sechzig, die andere Mitte zwanzig – hatten sich für holzkohlegraue Chanel-Kostüme entschieden. Ihre Frisuren saßen perfekt, und die Juwelen blitzten.
Vor einem lang gestreckten rechteckigen Fenster entdeckte Sampson zwei freie Plätze. Ein zugezogener Vorhang hinter den Fensterscheiben verdeckte die Sicht.
Fast im selben Augenblick begann ich mich zu fragen, ob es wirklich die richtige Entscheidung gewesen war hierherzukommen. Natürlich gab es gute Gründe dafür. Trotzdem kamen mir jetzt erste Zweifel.
»Sie haben ihn reingelegt«, hörte ich eine Frauenstimme sagen.
Ich hob den Blick und sah die ältere der beiden Modepuppen neben mir stehen, eine zierliche Frau mit aschblond gefärbten Haaren. Ihre auffallend stramme Gesichtshaut ließ vermuten, dass ihr ein hochbezahlter Schönheitschirurg zur Verfügung stand.
»Mrs. Edgerton«, erwiderte ich müde. »Das hat Ihr Sohn schon während des Prozesses und in den Berufungsverhandlungen behauptet.«
»Berufungsverhandlung , nicht Verhandlungen «, zischte Margaret Edgerton mir zu. »In diesem primitiven, mordlüsternen Bundesstaat steht einem ja nur eine zu.«
»Und der Oberste Gerichtshof von Virginia hat das Urteil wie auch das Strafmaß bestätigt, Madam.«
Sie bebte vor Wut. »Ich weiß nicht, wie Sie das angestellt haben, aber Sie haben es getan, so wahr ich hier stehe. Und ich bete zu Gott, dass Sie in der Gewissheit sterben müssen, einen unschuldigen jungen Menschen auf die andere Seite dieses Vorhangs gebracht zu haben.«
»Nein, Madam, dafür hat Ihr Sohn ganz alleine gesorgt, und zwar schon vor langer Zeit«, erwiderte ich.
»Er ist unschuldig.«
Direktor Yates sagte: »Wir müssen anfangen.«
»Mein Sohn ist unschuldig!«, rief Mrs. Edgerton. »Das können Sie nicht machen!«
»Das Gesetz zwingt uns dazu«, erwiderte Yates. »Aber ich habe volles Verständnis, wenn Sie nicht dabei sein wollen.«
Dann verließ er den Raum.
Sie funkelte mich wütend an. »Vergessen Sie diesen Augenblick niemals. Es ist der Augenblick, an dem Sie Ihre Seele verdammt haben. Sie werden in der Hölle schmoren.«
Damit stürmte sie davon und brach schluchzend an der Seite ihres Mannes zusammen.
Einige Bundesstaaten überlassen dem Verurteilten die Wahl der Hinrichtungsmethode. In Virginia kann man sich zwischen einer Giftspritze oder dem elektrischen Stuhl entscheiden. Der Vorhang wurde zurückgezogen und gab den Blick nicht etwa auf eine Trage, sondern auf einen schweren Eichenstuhl mit Arm-, Bein und Brustgurten frei.
Zwei Gefängnisbeamte betraten die Todeskammer, gefolgt von Direktor Yates. Dieser sah zu, wie seine Beamten die einzige andere Tür des Hinrichtungsraums öffneten.
Ein Mann Anfang vierzig mit rasiertem Schädel trat hervor. Er war groß und schlaksig und wirkte ein wenig benommen, als hätte man ihm ein Beruhigungsmittel verabreicht. Ohne den elektrischen Stuhl zu beachten, blickte er durch das Fenster zu uns nach draußen.
Dann richtete Michael »Mikey« Edgerton sich zu voller Größe auf und ging ohne Aufforderung zum Stuhl. Es war, als würde er das, was gleich geschehen würde, gutheißen.
»Mom, Dad, Delilah, Pete und Joe, wisst ihr, wieso ich mich für die Funkenmarie entschieden habe?«, war Edgertons Stimme durch die Sprechanlage zu hören. Er setzte sich, lachte und blickte mir anschließend direkt in die Augen. »Weil ich nicht wie ein kleines Kind einfach einschlafen will. Ich will, dass Cross und Sampson und alle anderen, die mich so dermaßen reingelegt haben, sehen, wie die Funken sprühen, wie der Rauch aus meinem Schädel quillt, wie die Haut an meinen Armen und Beinen aufplatzt, sobald sie mich mit ihren Stromschlägen quälen … mich, einen unschuldigen Menschen.«
Seine Mutter, sein älterer Bruder und seine Schwester brachen in Tränen aus. Nur sein Vater und sein jüngerer Bruder verharrten regungslos auf ihren Stühlen.
»Du hast es getan!« Das war eine Frau im mittleren Alter, die ganz in unserer Nähe saß. Sie trug eine Jeans und ein Sweatshirt mit dem Emblem des Georgia Institute of Technology. Jetzt sprang sie auf. »Du hast es getan, und du hast die Strafe verdient! Ich hoffe, du zerfällst zu Asche, sobald sie den Schalter umlegen, du krankes Arschloch!«