Um drei Uhr nachmittags stieg ich auf die Tribüne am Rand der Laufbahn der Coolidge High School. Ich hatte immer noch das Gefühl, als wäre ich während meines Gesprächs mit Martin Forbes in einer Art Zwischenwelt gelandet.
M?
Schon wieder?
Wie ist das überhaupt möglich?
Aber diese sechs Toten waren … genau wie …
»Alex?«
Ich hob den Blick und sah, dass Nana Mama mir zuwinkte. Sie trug eine Wollmütze und eine Wolljacke und hatte sich eine dicke Decke über die Beine gelegt. Es nieselte zwar nicht mehr, aber die Luft war immer noch kalt und feucht. Ali saß neben ihr und starrte fasziniert auf das Display seines Smartphones.
»Was habt ihr für einen Eindruck von ihr?«, erkundigte ich mich und setzte mich neben die beiden.
»Hab sie noch nicht gesehen«, erwiderte Ali, ohne einmal aufzublicken.
»Im Ernst?« Ich ließ den Blick über die Laufbahn und die Rasenfläche schweifen, wo die Athletinnen und Athleten aus unterschiedlichen Highschools sich gerade warm machten. »Das sieht ihr aber gar nicht ähnlich.«
»Ist dir eigentlich aufgefallen, wie müde sie immer ist?«, sagte Nana. »Sie bekommt nicht genügend Schlaf.«
»Sie ist siebzehn Jahre alt. Da ist es unmöglich, genügend Schlaf zu bekommen.«
»Dad«, meldete Ali sich zu Wort. »Kannst du mir dein Handy leihen? Meins ist ausgegangen.«
»Willst du etwas spielen?«
Er sah mich entrüstet an. »Nein. Ich will ein Buch lesen.«
Ich gab ihm mein Smartphone. »Was für ein Buch denn?«
Seine Daumen huschten bereits über das Display meines Handys. »Polizeiliche Ermittlungen: Eine Einführung in Grundlagen und Praxis , von Peter Stelfox.«
»Wo hast du das denn gefunden?«, wollte ich wissen.
»Online.«
»Du solltest lieber Bücher lesen, die deinem Alter entsprechen«, sagte Nana.
»Bücher, die meinem Alter entsprechen, finde ich langweilig.« Ali hob nicht einmal den Kopf.
Meine Großmutter warf mir einen durchdringenden Blick zu. Offensichtlich war sie der Meinung, dass ich eingreifen sollte. »Manchmal würde ich mir ein wenig Unterstützung wünschen«, sagte sie schließlich.
Bevor ich etwas entgegnen konnte, betrat Jannie die Laufbahn und trabte los. Sie trug eine Jogginghose und hatte die Kapuze ihres Shirts bis in die Stirn gezogen. Normalerweise waren die Schritte meiner Tochter von einer auffälligen Leichtigkeit und Elastizität, als würde sie bei jeder Berührung des Bodens zurückfedern. Mit dieser natürlichen Schnellkraft hatte sie das ernsthafte Interesse etlicher Trainer aus der ersten Division der National Collegiate Athletic Association, also des US-amerikanischen Hochschul-Sportverbandes, auf sich gezogen, und jeder einzelne hatte versucht, sie mit einem Stipendium zu locken.
Doch während Jannie das Tempo ihres Aufwärmlaufs kontinuierlich steigerte, sah ich, dass sie sich nicht mit den Ballen vom Boden abstieß, sondern den Fuß etwas weiter hinten aufsetzte. Dadurch wirkten ihre Bewegungen schwerfällig, aber Schwerfälligkeit war etwas, was man bei Jannie eigentlich niemals zu sehen bekam.
»Ist sie denn schon wieder am Fuß verletzt?«, wollte Nana Mama besorgt wissen.
»Hoffentlich nicht.« Ich stand auf und starrte durch das Fernglas, um sie besser sehen zu können.
Jannie hatte ein schwieriges Jahr zu überstehen gehabt, nachdem sie sich eines der beiden Sesambeine im rechten Fuß gebrochen hatte. Sie war operiert worden, und lange Zeit war unklar gewesen, ob sie sich vollständig davon erholen würde. Doch dann hatte sie sich nach dem Ende ihrer Leidenszeit in der Hallensaison mit ein paar beeindruckenden Zeiten zurückgemeldet.
Jetzt war ihr jedoch eindeutig anzusehen, dass irgendetwas nicht stimmte. Obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass es nichts mit dem Fuß zu tun hatte. Sie hielt die Schultern waagerecht, und auf ihrer Miene waren keinerlei Anzeichen für Schmerzen zu erkennen.
Nur der Funke, der normalerweise in ihr brannte, der war nicht zu sehen.
»Hat sie vielleicht mal durchblicken lassen, dass es in der Schule nicht so gut läuft?«, fragte ich Nana Mama, als Jannie ihre Schritte verlangsamte und mit gesenktem Kopf, die Hände in die Hüften gestemmt, weiterging.
»Lauter Einsen bis jetzt.«
»Jungs?«
Ali kicherte. »Jannie verscheucht sie doch alle.«
Jetzt setzte sich Bree auf den freien Platz neben mir. »Habe ich sie verpasst?«
»Nein.« Erneut nahm ich das Fernglas und beobachtete meine Tochter. Mit unkonzentrierter, fast schon apathischer Miene ging sie zu ihrem Team.
Ich ließ das Fernglas sinken und umarmte und küsste Bree zur Begrüßung. »Schön, dass du’s geschafft hast.«
»Finde ich auch.« Sie lächelte. »Du hast geschrieben, dass du mir etwas Verrücktes erzählen willst?«