17 

Wir hatten uns in eine Sitzecke im hinteren Teil des Hooters zurückgezogen. Dann konnte Carol Patrick sich nicht länger beherrschen.

»Kissy hat gesagt, dass er ein Irrer ist«, presste sie zwischen einzelnen Schluchzern hervor. »Sie hat gesagt, dass sie es in seinem Blick erkennen kann und dass sie sich aus dem Staub machen muss.«

Wir baten sie, uns alles zu sagen, was sie wusste. Nachdem sie sich wieder einigermaßen im Griff hatte, berichtete sie uns von einem Mann Mitte dreißig, sehr gut gekleidet, der mehrfach ins Restaurant gekommen war und immer von Kissy bedient werden wollte.

»Einmal ist er ihr abends auf dem Weg nach Hause gefolgt«, berichtete Carol Patrick. »Kissy hat gesagt, dass sie wie eine Irre gefahren ist und ihn abhängen konnte, aber sie hatte fürchterliche Angst. Sie hatte keine andere Wahl mehr, als zu kündigen.«

»Hat der Mann einen Namen?«, wollte Sampson wissen.

»Ich glaube, den kannte sie auch nicht genau. Sie hat ihn immer nur Grusel-Mike genannt, glaube ich.«

»Mike.« Ich machte mir eine Notiz. »Kein Nachname?«

»Nur Grusel-Mike mit den toten Augen. Und er hat ein Toupet getragen.«

»Hat er mit Kreditkarte bezahlt?«, erkundigte sich Sampson.

»Nein. Das weiß ich genau. Er hat jedes Mal bar bezahlt und ihr ein üppiges Trinkgeld dagelassen.«

»Und wie oft, ungefähr?«, fragte ich sie.

»Sie hat ja nur … Wie lange? … drei Wochen hier gearbeitet. Dann war er insgesamt vielleicht viermal da.«

»Und nachdem sie gekündigt hatte?«

Patrick überlegte. »Ich bekomme nicht jeden mit, der zur Tür reinkommt.«

»Aber ihn schon?«

»Ja. Zweimal.«

»Und haben Sie ihn lange genug sehen können, sodass Sie sich mit einem unserer Phantomzeichner zusammensetzen könnten?«, wollte Sampson wissen.

»Ich schätze schon. Na klar, und …« Anscheinend war ihr etwas eingefallen.

»Was denn?«, erkundigte ich mich.

»Das kann doch wohl nicht … Ich glaube, ich muss Sie mit jemandem bekannt machen.«

Patrick stand auf und kam mit einer Hooters-Bedienung wieder zurück. Sie hieß Marlene Rogers, war Ende zwanzig, knapp einen Meter sechzig groß und eine üppige, hübsche Blondine.

»Sie könnte glatt Kissys Schwester sein, oder nicht?«, sagte Carol Patrick. »Das habe ich von Anfang an gesagt.«

Wir kannten nur Kissys Schwester, und sie hatte keinerlei Ähnlichkeit mit Miss Rogers, aber Marlene war zweifellos genau derselbe Typ wie Kissy Raider, Althea Marks und Samantha Bell.

»Erzähl’s ihnen, Marlene«, sagte Patrick. »Genau das, was du mir letzte Woche erzählt hast.«

»Ich weiß auch nicht.« Marlene Rogers wickelte sich eine Haarsträhne um den Finger. »War ja nur so ein Gefühl.«

»Was denn für ein Gefühl?«, fragte ich behutsam nach.

»Als würde mich jemand beobachten. Und mich vielleicht auch verfolgen.«

»Wer?«

»Ich … das weiß ich nicht sicher, aber ich könnte schwören, dass es derselbe Typ ist, der mal vor sechs Wochen zum Mittagessen hier war. Vielleicht ist es auch schon länger her.«

»Schicke Klamotten«, warf Patrick ein. »Und ein ziemlich schlechtes Toupet, stimmt’s?«

Rogers runzelte die Stirn. »Nein, kein Toupet. Aber eine Halbglatze. Er war groß und schlank, und ja, stimmt, er hatte ziemlich schicke Klamotten an.«

»Worüber hat er gesprochen?«, wollte Sampson wissen.

»Er wollte alles über mich erfahren.«

»Was denn konkret?«

»Ob ich verheiratet bin. Und ob ich Kinder habe.«

»Sind Sie das? Haben Sie Kinder?«

»Mein Mann ist im Irak ums Leben gekommen, und ich habe einen kleinen Jungen. Eddie.«

»Wie alt ist er?«, fragte ich sie.

»Vier.«

Eine blonde, vollbusige, alleinerziehende Mutter mit einem kleinen Sohn.

Wir erkundigten uns, ob sie sich noch an etwas Bestimmtes erinnern konnte, abgesehen davon, dass er schlank und elegant gekleidet war. Sie erwiderte, dass sie sich jedes Mal, wenn sie an seinen Tisch gekommen war, unwohl gefühlt hatte, weil er sie mit einem strahlenden Lächeln angeschaut hatte. »Und seine Augen waren total seltsam. Viel zu blau, richtig unecht. Als würde er Kontaktlinsen tragen.«

An die genauen Daten konnte sie sich nicht mehr erinnern, aber sie war sich sicher, dass es schon länger als einen Monat her war. Carol Patrick bedauerte, dass sie die Aufnahmen aus den Überwachungskameras nicht länger als dreißig Tage lang aufbewahrten. Aber das sei Firmenpolitik.

Die Kellnerin erklärte sich, wie ihre Chefin, sofort bereit, sich mit einem Phantomzeichner zusammenzusetzen.

»Das hilft uns weiter, vielen Dank«, sagte ich. »Darf ich Ihnen noch eine letzte Frage stellen?«

»Na klar.«

»Wann haben Sie sich das letzte Mal beobachtet oder verfolgt gefühlt?«

»Also, eigentlich an jedem Abend seither. Ich sehe mich ständig um.«

Wir gaben den beiden unsere Visitenkarten und baten Miss Rogers, uns zu verständigen, falls dieser Gast noch einmal das Restaurant besuchte oder sie ihm sonst irgendwo begegnete.

»Sie können uns jederzeit anrufen«, sagte ich. »Tag und Nacht.«

Während der ganzen Fahrt nach Hause, ja, selbst als ich schon kurz vor dem Einschlafen war, ging mir ein Gedanke durch den Kopf: Wenn das derselbe eklige Typ war, von dem Kissy Raider sich verfolgt gefühlt hatte, dann klang das alles sehr nach einem Raubtier.

Und einen besseren Köder als Marlene Rogers würden wir wahrscheinlich nie wieder bekommen.