»Gut, dass ich gerade in der Gegend war«, sagte Craig in sachlichem Tonfall. Es klang kein bisschen selbstgefällig. »Sonst wäre die junge Dame vermutlich jetzt tot. Oder einer von euch.«
Vollkommen verblüfft ließen wir unsere Waffen sinken.
»Mein Gott, Kyle«, sagte Sampson. »Wo kommst du denn plötzlich her?«
»Von dahinten«, erwiderte er und ging auf den Toten zu. »Ich habe den Kerl beschattet. Aber ich hatte keine Ahnung, was er vorhatte, nachdem er durch diese Hecke verschwunden war.«
»Moment mal«, sagte ich. »Du hast ihn beschattet?«
»Gestern Abend und heute auch den ganzen Tag.«
»Du weißt also, wer das ist?«, erkundigte sich Sampson.
»Auf jeden Fall«, entgegnete Craig, steckte seine Waffe in das Halfter, zog eine Taschenlampe hervor und leuchtete damit in das Gesicht des Toten. Er nahm ihm die Maske ab und sagte: »Ist ein Kumpel von dir, Sampson.«
Mit offenen Mündern starrten wir Bernard Mountebank an, den Besitzer des Krawattenladens, der uns so herablassend behandelt hatte.
»Was?«, stieß Sampson entgeistert hervor.
»Nicht wahr?« Craig war ausgesprochen zufrieden mit sich.
In der Ferne waren bereits die ersten Sirenen zu hören. Das war natürlich Craigs Schüssen zu verdanken. Ich sagte: »Wie bist du ihm auf die Schliche gekommen?«
»Ich wusste von Anfang an, dass mit ihm was nicht stimmt. Ich habe es irgendwie gerochen, vor allem, nachdem er uns alle zu diesem alten Mann in diesem Cupcake-Laden geschickt hat. Also habe ich ein bisschen recherchiert. Er heißt gar nicht Bernard Mountebank, und er kommt auch nicht aus England. Darf ich vorstellen: Gerald St. Michel. Er stammt von den British Virgin Islands und steht im Verdacht, zahlreiche Sexualdelikte begangen zu haben.«
Er berichtete uns, dass St. Michel durch die Heirat mit einer Frau aus dem Norden Virginias eine Aufenthaltsgenehmigung für die Vereinigten Staaten erhalten hatte. Sie hatte genauso wenig von seiner kriminellen Vergangenheit gewusst wie die Behörde, bei der er die Aufenthaltsgenehmigung beantragt hatte, oder sein Geschäftspartner Nathan Daniels.
Doch Craig hatte mithilfe einer FBI-Datenbank Dokumente entdeckt, die zeigten, dass St. Michel ein Jahr vor Verlassen der Virgin Islands seinen Namen zu »Mountebank« geändert hatte. Und er besaß Kontakte auf die Inseln, die ihn zu einem Detective vor Ort geführt hatten.
»Der Kollege hatte noch gar nichts davon gewusst, dass St. Michel eine Green Card beantragt und bekommen hatte«, berichtete Craig. »Niemand hatte mit den British Virgin Islands Kontakt aufgenommen. Wäre das geschehen, dann hätte der Detective ausgesagt, dass St. Michel dort verdächtigt wird, mehrere Sexualdelikte begangen zu haben, überwiegend an Touristinnen.«
Der Detective war überzeugt, dass St. Michel im Verlauf von sieben Jahren fünf junge Frauen entführt hatte. Jedes Mal hatte er sie drei Tage lang als Sexsklavinnen gehalten, anschließend mit starken Medikamenten betäubt und wieder freigelassen.
»Er hat immer eine Maske getragen.« Craig deutete auf die Maske, die er neben den Kopf des Toten gelegt hatte. »Und er hat die Frauen jedes Mal sehr sorgfältig gewaschen. Trotzdem ist der Kollege felsenfest davon überzeugt, dass St. Michel der Täter war.«
»Und du glaubst, dass er auch Kissy Raider getötet hat?«, wollte Sampson wissen.
»Es sieht meines Erachtens alles danach aus«, erwiderte Craig.
Ich holte eine Taschenlampe aus meiner Tasche und leuchtete ins Innere des Lieferwagens, wo eine komplette Ausstattung bereit lag: einzelne Streifen Paketband für den Mund und die Füße des Opfers über einem Paar Handschellen, das in einer an der Wand des Lieferwagens festgeschweißten Halterung hing.
»Er hatte alles vorbereitet. Sieht wirklich genauso aus wie bei Kissy«, meinte Sampson.
»Ist es aber nicht«, widersprach ich. »Kissy ist mit Nylonschnüren und Ringbolzen gefesselt worden.«
»So groß ist der Unterschied nicht«, meinte Craig.
»Kann sein.« Ich machte die Beifahrertür des Lieferwagens auf.
Die Innenbeleuchtung war ausgeschaltet, aber ich leuchtete mit meiner Taschenlampe unter die Sitze, über das Armaturenbrett und in das Handschuhfach.
Als dann die ersten Streifenwagen des zuständigen Sheriffbüros auf den Parkplatz rollten, durchsuchte ich St. Michels Taschen. Ohne Ergebnis.
»Ist das der Kerl, den wir suchen?«, wollte Sampson wissen, nachdem ich ein, zwei Schritte zurückgetreten war.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte ich. »Falls ja, wo ist das Bleichmittel? Und noch wichtiger: Wo ist die Krawatte, mit der er sie erdrosseln wollte?«