Du kannst mich M nennen.
Das war der Satz, der Mahoney und mich letztendlich veranlasst hatte, uns in dieses Flugzeug nach Ohio zu setzen. Und er klang mir in den Ohren, als die Aufnahme mit Diane Jenkins’ verzweifeltem Weinen und ihrem Flehen, ihr Mann möge das Lösegeld bezahlen, schon lange beendet war.
»Fünf Millionen in Ethereum?«, fragte Mahoney.
»Ich musste das auch erst nachschlagen«, erwiderte Jenkins. »Das ist eine dieser Kryptowährungen. Man muss einen endlos langen Anmeldeprozess durchlaufen, der ungefähr einen Monat dauert, bevor man überhaupt Geld auf ein Konto überweisen darf, mit dem man dann Ethereum käuflich erwerben kann.«
Special Agent Rowe sagte: »Das stimmt, Sir. Es gibt keine Möglichkeit, in der kurzen Zeit, die Mr. Jenkins zur Verfügung steht, so einen hohen Betrag in die Kryptowährung umzutauschen.«
»Es sei denn, wir bekommen von einer hochrangigen Stelle im Finanzministerium eine Genehmigung«, erwiderte ich.
Mahoney sagte: »Normalerweise raten wir den Leuten eher ab, ein Lösegeld zu bezahlen, aber ich könnte natürlich anfragen … vorausgesetzt, Sie entschließen sich zu bezahlen, Mr. Jenkins. Ich meine, falls Sie überhaupt so viel Geld haben.«
»Nicht flüssig«, antwortete Jenkins, zögerte und fügte hinzu: »Aber vielleicht kann ich die Kreditlinie meiner Firma dafür nutzen. Ich könnte mir das Geld leihen und es irgendwann wieder zurückzahlen.«
»Ich setze mich mal ans Telefon. Wissen Sie schon, welche Währungsbörse Sie nutzen wollen?«
»Kraken?«, erwiderte Jenkins.
Ned nickte und verließ das Zimmer. Jenkins sah mich an. »Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten, Dr. Cross? Ich wollte sowieso gerade einen machen.«
»Ich komme mit«, sagte ich. »Ich habe heute schon viel zu lange gesessen.«
Wir gingen durch einen schmalen Flur. An den Wänden hingen zahlreiche Bilder von Jenkins, seinen Kindern und seiner Frau. Sie sah gut aus, hatte braune Haare und ein strahlendes, herzliches Lächeln. Vor einem Foto, das Diane Jenkins allein auf einer Klippe hoch über einem tropischen Gewässer zeigte, blieb ich stehen.
Sie sah überglücklich aus, und ich fragte mich unwillkürlich: Warum will M mit ihr ein Lösegeld erpressen? So etwas hat er noch nie zuvor gemacht. Wofür braucht er das Geld?
»Auf dieser Aufnahme ist sie so wunderschön«, sagte Melvin Jenkins. »Und glücklich wie nie. Das war auf Fidschi. Sie hat immer davon geträumt, da einmal hinzureisen.«
»Haben Sie das Foto gemacht?«
Er nickte.
»Man kann ihre Liebe spüren, in ihrem Blick«, sagte ich.
Jenkins’ Kinn fing an zu zittern. Er nickte noch einmal, wandte sich ab und schniefte leise.
Wir betraten eine niedrige Küche mit dunklen Deckenbalken und einer gemütlichen Atmosphäre. Hier schien er ein wenig Trost zu finden und setzte einen Kaffee auf.
Mein Smartphone gab einen seltsamen Piepston von sich. Ich zog es aus der Tasche und las die Nachricht auf dem Display: Hallo, Dad!
Dann verschwand die Schrift. Stirnrunzelnd steckte ich das Handy wieder ein.
»Sind Sie verheiratet, Dr. Cross?«, erkundigte sich Jenkins, während er mir eine Tasse Kaffee einschenkte.
»Das bin ich.«
»Kinder?«
»Drei. Wo sind eigentlich Ihre Töchter?«
»Bei meiner Schwester. Ich wollte nicht, dass sie hier sind, wenn die Medien Wind von der Entführung bekommen. Dann bricht hier das Chaos aus, und das will ich ihnen unter gar keinen Umständen zumuten.«
»Das verstehe ich vollkommen. Ich habe so etwas auch schon durchgemacht. Die würden einen bei lebendigem Leib auffressen, nur um Quote zu machen.«
»Oh ja, ich weiß«, erwiderte Jenkins. »Diane hat früher als Live-Reporterin gearbeitet, bis sie das Ganze irgendwann so angewidert hat, dass sie gekündigt hat.«
»Das klingt nach einer starken Frau.«
»Sie haben ja keine Ahnung.« Sein Lächeln erstarb schnell wieder. »Hat dieser M schon mehrere Verbrechen begangen? Ich meine, wenn Sie in Ihrer Datenbank einen Kidnapper namens M suchen, bekommen Sie dann einen Treffer?«
»Ja.«
»Aha.« Jenkins’ Miene hellte sich auf. »Das heißt also, er lässt seine Opfer wieder laufen?«
Ich wollte nicht, dass Jenkins die Hoffnung verlor. Um die kommenden Tage zu überstehen, musste er mehr Stärke zeigen als jemals zuvor, und ich wollte ihn auf keinen Fall irgendwie schwächen.
Letzten Endes aber sagte ich ihm die Wahrheit. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass einem jede Lüge, selbst wenn sie in bester Absicht geschieht, irgendwann sehr schmerzhaft auf die Füße fällt. Und außerdem schätzte ich Jenkins als jemanden ein, der wissen wollen würde, mit welchem Gegner er es zu tun hatte.
Als ich fertig war, starrte er zunächst auf den Holzfußboden und dann hinauf zu den Dachbalken.
»Das hier war Dianes Idee.« Er ließ den ausgestreckten Arm kreisen. »Sie hat den Raum nach dem Vorbild der Farmküche ihrer Großmutter gestaltet. Dort hat sie als Kind ihre glücklichste Zeit erlebt.«
»Sie ist wunderschön«, sagte ich.
»Finde ich auch«, stieß er mühsam hervor. »Meine Mädchen. Ich … ich weiß nicht, was ich ihnen sagen soll.«
Jenkins sank in sich zusammen und ließ den Kopf hängen.
»Mr. Jenkins, Sie müssen weiter positiv bleiben.« Ich legte ihm einen Arm um die Schulter. »Es besteht immer die Möglichkeit, dass M sein Tatmuster verändert.«
Jenkins verspannte sich. »Bei dem allem geht es doch um Sie , oder nicht? Ich meine, M hinterlässt Nachrichten für Sie . Er hat gewusst, dass Sie irgendwann hinzugezogen werden.«
»Ich denke, davon kann man ausgehen, Mr. Jenkins.«
»Heißt das, dass meine Diane eine Art Pfand in irgendeinem verkorksten Spiel ist, dass Sie mit diesem Kerl spielen?«
»Ich bin in dieses Spiel nicht freiwillig eingestiegen. Er hat mich da hineingezogen.«
»Seit zwölf Jahren?«, sagte er. »Wer macht denn so was? Warum Sie?«
»Ich weiß es nicht.«
Wieder gab mein Handy diesen seltsamen Piepston von sich.
Ich rührte keinen Finger.
»Wird er meine Frau umbringen, nur um Sie zu bestrafen?«, fragte Jenkins weiter.
»Diese Frage kann ich nicht beantworten. Aber ich weiß, dass er bis jetzt noch nie Geld gefordert hat. Und das ist ein gutes Zeichen. Geld lässt sich immer zurückverfolgen.«
»Diese Kryptowährungen nicht«, erwiderte Jenkins. »Ich habe inzwischen einiges darüber gelesen. Sie lassen sich eben nicht verfolgen. Deshalb hat China sie auch verboten.«
»Sie lassen sich so gut wie nicht verfolgen«, verbesserte ich ihn. »Mehrere Spezialisten aus Quantico sind bereits unterwegs hierher. Was diese Cybersachen angeht, da können sie wahre Wunderdinge vollbringen. Wenn überhaupt jemand den Weg des Lösegeldes nachverfolgen kann, dann sie.«
Mein Handy plingte ein drittes Mal.
»Bitte entschuldigen Sie«, sagte ich. Ich ging in den Flur und holte mein Smartphone aus der Tasche: Ich bin’s, Dad! Ali! Geh auf deinem Handy zu Wickr und schick mir eine Antwort. Wir können Spione sein!