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Mahoney richtete sich zu voller Größe auf und stürmte direkt auf sie zu. »Weg da. Zurück! Sofort. Das ist ein Tatort. Der muss sofort abgeriegelt werden!«

Noch während die Reporter zurückwichen, sagte die junge Frau: »Wir haben das Recht auf Antworten.«

»Nein. Sie haben das Recht, Fragen zu stellen.« Mahoney baute sich dicht vor ihr auf. »Aber ich entscheide, ob ich sie beantworte. Und die Wahrscheinlichkeit, dass ich das tue, wird größer, wenn Sie mir ein bisschen Spielraum lassen, um eine gefährliche und dynamische Situation unter Kontrolle zu bekommen. Okay?«

Die Anspannung wich aus ihrem Gesicht, und sie nickte. »Okay. Lisa Sutton. Channel Six News. Wir ziehen uns zurück, aber ich gehe davon aus, dass ich Antworten auf meine Fragen bekomme.«

Mahoney hob beide Hände. »Gehen Sie aus, wovon Sie wollen, aber verschwinden Sie von meinem Tatort. Sofort!«

Die Reporter wichen noch ein paar Schritte zurück, und Mahoney griff zu seinem Telefon, um den örtlichen Sheriff zu verständigen und die Kriminaltechnik anzufordern.

Ich trat zu unserem Fahrzeug und betrachtete den Finger sowie den Kopf der Asiatin. Wer war sie? Und warum hatte ihr jemand Gummibärchen in den Mund gestopft?

Was, zum Teufel, hatte M bloß mit diesen verdammten Gummibärchen am Hut?

Meine Gedanken wanderten in die Vergangenheit, zwölf Jahre zurück. Damals hatte ich das erste Mal eine Botschaft von M erhalten.

Ich hatte deutlich vor Augen, wie John Sampson und ich südlich des winzigen Örtchens Rupert, West Virginia, aus einem Zivilfahrzeug stiegen.

Wir waren von einer schlammigen Fahrstraße abgefahren und hatten vor einer Kette angehalten, die sich quer über einen überwucherten Schotterpfad spannte. Daran hing ein Schild mit der Aufschrift ZUTRITT VERBOTEN. Und an einer Fichte baumelte ein verblasstes ZU-VERKAUFEN-Schild.

»Wieso hat es hier so viele Insekten?«, knurrte Sampson missmutig und schlug nach den dichten Mücken- und Moskitoschwärmen, die um unsere Köpfe schwirrten.

»Billiger als Wachhunde«, erwiderte ich und ließ die Hand auf meinen Hals klatschen.

»Sieht nicht besonders viel versprechend aus, oder?«

Hinter der Kette waren keine Reifenspuren oder Fußabdrücke zu entdecken.

Sampson sagte: »Wir hätten auch den zuständigen Polizeiposten bitten können, sich hier mal umzusehen, anstatt vier Stunden lang im Auto zu sitzen und hier runterfahren.«

»Ich lasse nur ungern andere meine Arbeit machen«, erwiderte ich und schwang meinen Fuß über die Kette.

Sampson zögerte. »Wir haben keine Durchsuchungsgenehmigung.«

»Seit wann bist du unter die Pfadfinder gegangen?« Ich zeigte auf das ZU-VERKAUFEN-Schild. »Wir denken darüber nach, uns ein altes Fischer-Camp zuzulegen, für den Ruhestand.«

»Dafür bin ich noch ein bisschen zu jung.«

»Hast du schon mal Werbung von irgendwelchen Finanzberatern gesehen?«, gab ich zurück. »Es ist nie zu früh, an den Ruhestand zu denken.«

Sampson spitzte die Lippen, zuckte mit den Schultern und stand nach einem großen Schritt auf der anderen Seite der Kette. Zikaden schwärmten aus dem dichten Gebüsch zu beiden Seiten des Pfades, und irgendwo weiter vorn krähten Krähen.

Ich hielt den Blick auf den schlammigen Untergrund gerichtet. Vielleicht konnte ich ja doch irgendwo ein Anzeichen dafür entdecken, dass hier in letzter Zeit ein Fahrzeug entlanggefahren war. Aber in den letzten drei Tagen waren zahlreiche Gewitter niedergegangen, und abgesehen von unseren eigenen Spuren wirkte der Untergrund vollkommen unberührt.

»Sieht ja nicht besonders romantisch aus«, sagte Sampson.

»Die Geschmäcker sind halt verschieden«, erwiderte ich.

Wir waren auf der Suche nach einer vermissten Person, einer gewissen Arlene Duffy, siebenunddreißig Jahre alt und Geschäftsführerin eines erfolgreichen Filialunternehmens mit zahlreichen Kindertagesstätten. Sie war eine besessene Arbeiterin und hatte immer ein Glas mit Gummibärchen auf dem Schreibtisch stehen.

Obwohl sie alleinstehend war und nach Angaben ihrer Mitarbeiterinnen in letzter Zeit auch keine Verabredungen gehabt hatte, hatte Duffy am Tag ihres Verschwindens frühzeitig Feierabend gemacht und sich in einer Victoria’s-Secret-Filiale in einem Einkaufszentrum in Falls Church ein Korsett, Modell »Fröhliche Witwe«, gekauft. Acht Tage später hatte ihr Wagen immer noch dort auf dem Parkplatz gestanden.

Die Bilder aus den Überwachungskameras hatten gezeigt, wie Miss Duffy in einen schwarzen Chevy Tahoe mit getönten Fensterscheiben eingestiegen war. Die Kennzeichen hatten sich als gefälscht erwiesen.

Doch mithilfe von aufwändigen Bildbearbeitungsprogrammen war es uns gelungen, den Aufkleber auf der Stoßstange des Fahrzeugs zu entziffern. Er warb für SPELLMAN’S KÖDER UND ANGELZUBEHÖR.

Sampson und ich gelangten nun auf eine zugewucherte Lichtung. Dahinter befand sich ein See. Überall hatten sich Dornenranken ausgebreitet, und dazwischen lagen mehrere mit Brettern verbarrikadierte Hütten.

Sampson deutete auf die größte dieser Hütten. Das Dach der Eingangsterrasse war eingestürzt, und an einem einzigen Nagel hing ein rostiges Schild mit der Aufschrift SPELLMAN’S KÖDER UND ANGELZUBEHÖR.

Wir gingen zum Wasser hinunter.

»Hier müsste aber noch eine Menge gemacht werden«, sagte ich. »Bis auf die wenigen Hütten da drüben gibt es ja gar nichts.«

»Was willst du damit sagen? Dass das tatsächlich was für den Ruhestand sein könnte?« Während Sampson das sagte, fingen irgendwo im Wald ein paar Krähen an sich zu streiten.

»Wunderschönes Plätzchen«, erwiderte ich und sah, wie eine Krähe hinter dem zerfallenen Anglerladen ins Gras stürzte, gefolgt von einer zweiten. Lautes Kreischen ertönte, dann kamen sie alle beide wieder hervor. Sie wirkten sehr aufgebracht.

Ich ging in die Richtung, entdeckte einen Wildpfad und folgte ihm. Nach etwa fünfzehn Metern blieb ich stehen und rief Sampson zu mir.

Er kam mit schnellen Schritten näher und starrte den bunten Haufen an, der da auf dem Pfad vor uns lag. »Gummibärchen?«