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Gegen ein Uhr morgens fing der Hund an zu bellen, laut und beharrlich, immer im selben nervtötenden Rhythmus.

Jetzt reichte es. Ich konnte nicht noch eine schlaflose Nacht ertragen, also stand ich auf, zog mich an und machte mich auf die Suche nach dem Köter.

Aber ich fand ihn nicht.

Als ich auf der Terrasse stand, hörte es sich an, als würde das Gekläffe von der Rückseite des Hauses kommen. Doch als ich dann in der rückwärtigen Gasse angelangt war, hätte ich schwören können, dass es aus südlicher Richtung kam.

Also ging ich nach Süden, doch das Gebell schien sich ununterbrochen von mir weg zu bewegen. Mit einem Mal verstummte es. Erst, als es wieder losging, konnte ich das Vieh lokalisieren.

Es stand auf der Gartenterrasse eines kleinen unbeleuchteten Häuschens, ungefähr anderthalb Häuserblocks entfernt, auf der gegenüberliegenden Straßenseite der Caseys. Das waren alte Freunde meiner Großmutter. Schemenhaft konnte ich seine Umrisse erkennen, konnte sogar sehen, wie er bellte. Es war ein relativ kleiner Hund, verglichen mit dem Krach, den er veranstaltete, eine Art Terrier oder so.

Als ich gerade an die Haustür klopfen wollte, wurde auf der Rückseite des Hauses eine Tür geöffnet, und der Hund verschwand im Inneren.

Dann stand ich zehn, fünfzehn Minuten lang nur da und wartete, bis ich sicher war, dass das Tier nicht wieder nach draußen kommen würde. Anschließend ging ich nach Hause. Auf dem Weg in den ersten Stock nahm ich mir fest vor, gleich weiterzuschlafen.

Doch vor der Schlafzimmertür angekommen wurde mir klar, dass ich hellwach war. Also beschloss ich, noch einmal nach unten in die Küche zu gehen. Vielleicht sollte ich mir einen von diesen Magnesiumdrinks anmischen, die das Einschlafen erleichtern sollen, weil sie angeblich die Ausschüttung von Stresshormonen hemmen oder ähnlichen Quatsch?

Stattdessen machte ich mich, ohne es bewusst zu wollen, auf den Weg in den zweiten Stock. Dabei dachte ich an Alis aufmerksame Beobachtung, dass M tatsächlich Züge eines Nachahmers aufwies. Ob ich in seinem Alter auch darauf gekommen wäre?

Wohl kaum. Mit zehn Jahren hatte ich hauptsächlich Sport im Kopf gehabt. Außerdem war ich vor allem damit beschäftigt gewesen, mich in Washington einzuleben, nachdem Nana Mama mich, als meine Mutter gestorben war, zu sich in die Hauptstadt geholt hatte. Nein, mein Leben war damals viel zu turbulent gewesen, als dass ich zu solchen Gedanken wie Ali in der Lage gewesen wäre.

Ich knipste das Licht in meiner Dachkammer an und setzte mich an den Schreibtisch. Bree hatte recht. Es war wirklich nicht gut für einen zehnjährigen Jungen, sich so auf finstere, kriminelle Verhaltensweisen zu fixieren.

Und doch gab es eine Stimme in mir, die gerne mit ihm geprahlt hätte.

Ali hatte mit seinen gerade mal zehn Jahren etwas festgestellt, was sämtlichen Journalisten, die über M und Diane Jenkins berichteten, entgangen war. Sie hatten weder die Parallelen zwischen ihrer Entführung und Arlene Duffys Tod vor vielen Jahren noch die zwischen dem abgetrennten Frauenkopf und dem Metzgermeister bemerkt. Aber Ali sehr wohl.

Wie kam so etwas zustande? Woher hatte er diese Einfälle?

Nachdem ich ein paar Augenblicke lang darüber nachgegrübelt hatte, wuchs meine Besorgnis. Was, wenn Ali immer weiter nachforschte, vor allem, wenn er sich weiter mit dem Fall Mikey Edgerton beschäftigte?

Wer konnte sagen, was er dann alles ausgraben würde?

Ich wandte meine Aufmerksamkeit einer anderen Ecke meines Arbeitszimmers und anderen Kartons mit alten Ermittlungsunterlagen zu. Wo hatte ich die Edgerton-Akten untergebracht?

Ich wusste es nicht mehr genau, und das machte mich aus irgendeinem Grund leicht nervös. Also stand ich auf und fing an zu suchen. Sie waren nicht dort, wo ich sie vermutete, nämlich bei Kissys Unterlagen, und ich verfiel in leichte Panik.

Was, wenn Ali hier oben war und sich die Akten vorgenommen hat? Was, wenn er sie mit in sein Zimmer genommen hat, um sie durchzulesen? Wie aufnahmefähig kann ein Zehnjähriger sein?

Doch dann hob ich eine alte Decke aus Armeebeständen hoch, und da waren sie. Vier Kartons, beschriftet mit den Buchstaben M.E.

Einerseits hätte ich die Decke am liebsten wieder über die Mikey-Edgerton-Akten gebreitet und das alles in Ruhe gelassen, so wie all die Jahre über schon. Doch die Vorstellung, dass Ali sie womöglich entdecken könnte, ließ mir keine andere Wahl. Ich schlug die Decke zurück und stellte die Kartons neben meinen Schreibtisch.

Als das erledigt war, überlegte ich, was ich damit anstellen sollte. Warum hatte ich sie überhaupt noch hierbehalten? Ich hätte sie schon vor Jahren verbrennen sollen, um die darin verborgenen Geheimnisse in Asche und Rauch zu verwandeln,

Doch das hatte ich nicht getan.

Im Gegensatz zu John Sampson. Zwei Monate nach Edgertons Verurteilung hatte er mir erzählt, dass er den ganzen Stapel zu einem Freund in den Pocono Mountains mitgenommen und die Akten, eine nach der anderen, in ein loderndes Feuer geworfen habe. Dass er alles hinter sich gelassen habe.

Doch sosehr ich es auch versucht hatte, ich hatte es nicht fertiggebracht, auch wenn ich nicht genau sagen konnte, weshalb.

Irgendetwas hatte mich davon abgehalten, den Inhalt dieser Kartons, die Schuldbeweise ebenso wie die Unschuldsbeweise, zu vernichten. Und das hatte nichts mit Scham oder Reue zu tun, weil ich in Bezug auf Mikey Edgerton nichts dergleichen empfand.

Aber was war es dann?

Ich starrte die Kartons an und sagte mir, dass ich wieder ins Bett gehen musste. Aber tief im Inneren meldete sich eine zweite Stimme zu Wort und flüsterte mir zu, dass in diesen Kartons Antworten auf einige meiner Fragen verborgen sein könnten, vielleicht auch Hinweise darauf, wie ich an M herankommen konnte.

Oder mich ins Verderben stürzen.

Nachdem ich diesen Satz gedacht hatte, konnte ich nicht mehr weitermachen. Ich warf die Decke über die Kartons und ging nach unten.