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Ned Mahoney drehte fast durch, als ich ihm irgendwann mitten in der Nacht des Unfalls die ganze Geschichte darlegte.

»Und es gibt keine Kopie von dieser Nachricht, die er dir geschickt hat?«, wollte er misstrauisch wissen.

»Wie gesagt, sie hat sich selbst zerstört, Ned. Aber die Worte haben sich in mein Hirn eingebrannt.«

»Das wird nicht reichen!«

»Wenn wir meine jahrzehntelange Erfahrung im Polizeidienst und meinen guten Ruf mit in die Waagschale werfen, dann wird es reichen! Und diese abgetrennten Köpfe? Ned, die sollten wir finden, genau wie ich diese Wickr-Nachricht sehen sollte . Rivers oder M, er hat das alles ganz genau geplant. Für mich ist vollkommen klar, dass er nicht nur Mikey Edgerton, sondern auch den Metzgermeister imitiert.«

»Das kann ja sein, aber für mich ist an dieser Geschichte überhaupt nichts klar«, entgegnete Mahoney. »Ihr macht jetzt eure Aussagen, und dann geht ihr nach Hause und wartet ab, bis ich ein bisschen mehr Durchblick habe. Und bis dahin liegt die Verantwortung für diesen Schauplatz eines grausamen Verbrechens ausschließlich bei mir.«

Ich hätte am liebsten widersprochen, wäre am liebsten hiergeblieben und hätte mich an der Suche nach Indizien beteiligt, aber dann befolgte ich doch seine Anweisungen.

Schweigend fuhren wir nach Washington zurück. Trotz seiner verletzten Hände hatte Sampson darauf bestanden, sich ans Steuer zu setzen.

Ich saß auf dem Beifahrersitz und versuchte, wach zu bleiben, doch die Augen fielen mir ständig zu. Dann sah ich den abgetrennten Kopf im Spind und den zweiten, der aus Rivers’ Porsche gerollt war, vor mir, ebenso wie den, den M in der letzten Woche in unser Auto gelegt hatte.

Das Kinn sank mir auf die Brust, kurz darauf schreckte ich wieder auf. Benommen dachte ich: Er gibt den Metzgermeister, genau wie Ali …

Dann erlebte ich im Traum noch einmal, was sich vor über zehn Jahren in West Texas abgespielt hatte.

Es war ein schwüler Nachmittag, und die Behörden hatten eine Tornadowarnung ausgesprochen. Der Wind nahm bereits spürbar zu.

Blitze zuckten über den dunkler werdenden westlichen Horizont, und in der Ferne grollte der Donner, als Randall Peaks und ich über ein verriegeltes Viehgatter kletterten und einen staubigen Feldweg zwischen Beifußsträuchern und Eichengestrüpp entlanggingen. Es war eine abgeschiedene Gegend irgendwo hinter dem Mond, nordwestlich von Lubbock, Texas.

»Gibt es hier Klapperschlangen?«, wollte ich wissen.

»Mit Sicherheit«, erwiderte der Texas Ranger.

Peaks hatte sich ein Lederhalfter mit einem vernickelten Revolver, einem Colt Python, um die Hüfte geschnallt. Dazu trug er ein gestärktes, weißes Hemd, eine Bolokrawatte, einen Strohhut und verzierte Cowboystiefel, obwohl er damit in der Natur, die uns umgab, auffiel wie ein bunter Hund.

»Und was machen wir, wenn wir eine sehen?«, fragte ich weiter.

»Hochspringen wäre keine schlechte Idee«, sagte Peaks, als wir vor dem zweiten Gatter standen. »Da ist es.«

Ich blickte über das Tor hinweg auf einen großen, staubigen und überwucherten Fabrikhof. An dessen hinterem Ende stand ein zweigeschossiger Holzbau mit Wellblechdach und einer Gesamtlänge von etwa hundertzwanzig Metern. An der Seitenwand der mit Holzschindeln verkleideten Halle war ein verblasstes Schild mit der Aufschrift KING FLEISCHVERARBEITUNG zu sehen.

»Da ist es passiert?«, wandte ich mich an Peaks. »Die ersten beiden? Die Eltern?«

Peaks nickte. »Dale und Lucy King. Sie haben damals so eine Art Gesamtpaket für Viehhändler angeboten. Schlachthaus und Fleischverarbeitung in einem. Sehr erfolgreich zu seiner Zeit.«

Damals war ich bereits zehn Monate lang mit den Ermittlungen zum Metzgermeister beschäftigt gewesen. Angefangen hatte alles mit einem enthaupteten, nackten Mann in einem verlassenen Lieferwagen auf einem leeren Parkplatz in Southwest Washington.

Es war nicht das erste Mal, dass ich einen kopflosen Leichnam zu Gesicht bekommen hatte, aber noch nie einen, dessen Oberkörper, Arme und Beine mit zahlreichen schwarzen Filzstiftstrichen in verschiedene Segmente aufgeteilt worden waren.

Zwei Wochen später wurde in einem Kofferraum ein zweiter Leichnam gefunden. Dieses Mal handelte es sich um eine Frau, und auch ihr Körper war mit ganz ähnlichen Strichen in unterschiedliche Bereiche aufgeteilt worden. Irgendwann kamen wir darauf, dass diese schwarzen Striche eine Art Schnittmuster waren, wie es ein Schlachterlehrling vielleicht zu Anfang benötigte, um ein Rind in Steaks und Koteletts aufzuteilen.

Wir verfassten eine Fahndungsmeldung, in der wir die Enthauptungen und die Linien genau beschrieben und bekamen schnell Rückmeldungen aus sieben anderen US-Bundesstaaten, darunter auch Texas, sowie von drei ausländischen Strafverfolgungsbehörden.

Es stellte sich heraus, dass im Verlauf der vergangenen sieben Jahre insgesamt elf enthauptete Leichname mit sehr ähnlichen Zeichnungen entdeckt worden waren. Zwei weitere waren bereits vor dreizehn Jahren aufgetaucht.

»Aber keine einzige eindeutige Verbindung zu Tanner Oates?«, wollte ich wissen.

Peaks schüttelte den Kopf, kniff sich ein Stückchen Kautabak ab und schob es sich zwischen Wange und Zahnfleisch. »Oates hatte zwar eine Zeit lang als Pflegekind bei den Kings gelebt, aber das war schon viele Jahre her. Und er hatte ein sicheres Alibi. Bis die Dame praktischerweise ein paar Jahre später bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist.«

»Aber Sie sind überzeugt, dass Oates der Metzgermeister ist?«

»Das bin ich.« Peaks spuckte aus. »Wie immer er sich dieser Tage auch nennen mag. Wollen Sie sehen, wo es passiert ist?«

»Ich bin den ganzen Weg bis hierher gekommen, um ihn besser zu verstehen.«

Wir kletterten über das zweite Tor und gingen durch hohe Gräser. Der Wind pfiff uns um die Ohren.

»Woher wissen wir, wann ein Tornado auf uns zukommt?«, wollte ich wissen.

»Hoffentlich sehen wir ihn zuerst«, erwiderte Peaks und spuckte erneut ein paar Tabakreste aus. Dann standen wir vor einer mit einer Kette und einem Vorhängeschloss gesicherten Tür. »Wenn wir ihn hören können, bevor wir ihn sehen, dann haben wir Pech gehabt.«

»Sie sind ja ein Füllhorn der guten Nachrichten.«

»Ich sag nur, wie’s ist.«

An der Tür klebte ein Zettel, auf dem stand, dass das Gebäude für den Abbruch vorgesehen und Betreten verboten war. Der Ranger achtete nicht darauf, sondern griff nach dem Schloss und gab die Kombination ein, die er von der Bank in Lobbock erhalten hatte. Bei ihr lag auch das Recht zur Zwangsversteigerung des Grundstücks.

Peaks stieß die Tür auf, und wir traten mit eingeschalteten Taschenlampen ein. Der Wind frischte jetzt noch einmal auf. Die Böen pfiffen nicht mehr, sondern heulten und jaulten durch die Dachbalken der alten Schlachthalle.