Ich schnappte mir ein Kapuzenshirt und ging hinaus auf die Eingangsterrasse. Die Temperatur lag bei siebzehn, achtzehn Grad Celsius, die Luft duftete nach Blumen – es war ein wunderschöner Märzabend.
Doch als ich mich in Nanas Hollywoodschaukel setzte, war mir das Herz sehr schwer.
Bree kam nach draußen und setzte sich neben mich.
»Wir können es einfach nie wissen, stimmt’s?«, sagte sie.
»Wie meinst du das?«
»Die Wendungen, die das Leben uns zumutet.«
»Jannie?«
»Ja. Sie hat es immer noch nicht ganz verkraftet. Und du?«
»Damit komme ich gut klar.«
»Du siehst aber nicht danach aus.«
»Sampson«, erwiderte ich, und dann erzählte ich ihr alles.
Als ich fertig war, meinte Bree: »Er hat recht. Und es war auch richtig, dass er es dir gesagt hat.«
»Ich weiß, und jetzt habe ich ein richtig schlechtes Gewissen … aber im Eifer des Gefechts habe ich eben das getan, was ich für das Richtige gehalten habe.«
Sie beugte sich zu mir und legte mir den Arm um die Schultern. »Du hast die Initiative ergriffen, weil du eine Gefahr gesehen hast und etwas dagegen tun wolltest. Das ist mehr, als neunundneunzig Prozent der Bevölkerung getan hätten.«
»Aber was ich getan habe, war schlimmer, als einfach nur in die falsche Richtung zu laufen, Bree.«
»Nein, war es nicht. Oder hast du Sampson etwa absichtlich in eine Situation gebracht, die ihn den Job hätte kosten können?«
»Nein.«
»Na also.« Bree schloss mich fest in ihre Arme. »Nur kurz die Orientierung verloren. Keine Havarie. Ein kleiner Fehler in der Navigation, mehr nicht.«
Ich grinste. »Mein Leben als Schiffsreise?«
Sie lachte und drückte mir ein Küsschen auf die Wange. »So was in der Art.«
»Danke«, sagte ich und erwiderte ihren Kuss.
»Wofür?«
»Dass du mir so sehr vertraust.«
»Für immer und ewig, Alex Cross.«
Jetzt hatte ich, was mich und Bree anging, schon ein sehr viel besseres Gefühl. Nur das mit Sampson und mir war noch nicht wieder im Lot. Der Konflikt war mir wohl deutlich anzusehen, jedenfalls sagte Bree: »Du musst unbedingt mit John sprechen.«
»Dir entgeht aber auch wirklich gar nichts, oder?«
»Habe ich mir bei einem guten Bekannten abgeschaut.«
»Ich fahre mal rüber zu ihm. Rücke das wieder gerade.«
Bree tätschelte mir die Brust. »Wenn du dadurch besser schlafen kannst.«
»Bestimmt.«
»Dann los«, sagte sie. »Ich bleibe so lange auf.«
Ich setzte mich in unseren alten Mercedes, schaltete die Scheinwerfer ein und fuhr die Fifth entlang.
Ein Scheinwerfer huschte durch meinen Rückspiegel. Ich warf einen Blick hinein und bemerkte einen kleinen schwarzen SUV, der einen halben Straßenzug weiter hinten aus seiner Parklücke ausgeschert war.
Die Strecke zu Sampsons Haus kannte ich im Schlaf oder zumindest so gut, dass ich nicht darüber nachzudenken brauchte, und das war auch gut so. Denn heute Abend war ich mit ganz anderen Dingen beschäftigt.
Der Screenshot von Ms letzter Nachricht lag im Speicher des alten Handys in meiner Tasche, aber ich musste das Ding nicht erst herausholen, um den Text vor Augen zu haben. Die ersten drei, vier Zeilen, der spöttische Tonfall, die höhnischen Wortspiele mit den rollenden Köpfen, alles das sollte mich verunsichern. Es sollte mir noch einmal vor Augen führen, welch seltsamer und unberechenbarer Charakter M war, und dass er es eindeutig auf mich abgesehen hatte. Er wollte den Druck hoch halten, aber das konnte ich abschütteln, indem ich diesen Teil seiner Botschaft einfach nicht beachtete.
Mit den letzten Sätzen war das jedoch nicht so einfach.
Jetzt wird es langsam interessant, Cross. Bald schon fügen sich die Puzzleteilchen ganz reibungslos zu einem Bild zusammen.
M steht für …
Ich nahm an, dass er mich mit dieser Anspielung auf die immer knapper werdende Zeit verunsichern wollte. Ich sollte meine geistige Energie darauf verwenden, mir über seinen nächsten Zug den Kopf zu zerbrechen. Aber es steckte noch mehr dahinter.
»Er weiß, dass dieses ganze M-Gerede mich nervös macht«, murmelte ich vor mich hin, als die Ampel an der Pennsylvania Avenue von Gelb auf Rot sprang und ich meine Fahrt verlangsamte. »Dass ich wissen will, wofür es steht. Wer er in Wirklichkeit ist.«
Aus reiner Gewohnheit warf ich einen Blick in den Rückspiegel und registrierte auf der Nebenspur fünf Fahrzeuge – einen Lieferwagen, einen Pick-up-Truck, einen Minivan, einen weißen Jeep und einen kleinen schwarzen SUV.
Die Ampel sprang auf Grün. Ich steuerte den Autobahnring an, der die Hauptstadt unseres Landes umschloss, und kehrte erneut zu diesem letzten Satz zurück: M steht für …
Moriarty.
Das kam mir einfach in den Sinn, ein Überbleibsel von meinem Gespräch mit Rivers am Nachmittag. Und dann, auch wenn ich wusste, dass das unmöglich war, drängte sich ein weiterer Gedanke in mein Bewusstsein …
Meisterhirn.
M steht für Meisterhirn. Kyle Craigs Decknamen.
Auf dem I-295 in Richtung Norden verwarf ich die Vorstellung, dass Craig noch am Leben sein könnte und immer noch irgendein langes und tödliches Spiel mit mir trieb. Aber irgendjemand tat genau das. Oder war es eher das Spiel einer Katze, die der Maus ab und zu einen Stupser versetzt und sich noch ein bisschen Spaß mit ihrem Opfer gönnt, bevor sie es verspeist?
Hinter mir ertönte eine Hupe und riss mich aus meinen Gedanken. Ich starrte in den Rückspiegel und sah den Lieferwagen in der Spur neben mir die Ausfahrt zur East Capitol Street nehmen. Dahinter kam ein schwarzer BMW-SUV zum Vorschein.
Es hätte auch ein anderer Wagen sein können, einfach ein Zufall, aber mein Instinkt sagte mir, dass ich beschattet wurde.
Ich beschloss, meine innere Stimme auf die Probe zu stellen, und trat eingangs einer Kurve auf das Gaspedal.
Am Kurvenausgang sah ich, dass der vor mir liegende Streckenabschnitt so gut wie leer war, dann richtete ich alle Aufmerksamkeit voll und ganz auf meinen Rückspiegel.
Der BMW kam schneller als erwartet aus der Kurve gerast. Er befand sich jetzt dicht hinter mir auf meiner Spur. Das ganze ausgeklügelte Beschattungsmanöver schien mit einem Schlag vergessen zu sein.
Wer immer da am Steuer saß, es kümmerte ihn nicht mehr, ob er entdeckt wurde oder nicht.
Er war mir auf den Fersen.
Und zwar schnell.