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Am frühen Nachmittag desselben Tages betraten Sampson, Bree, Special Agent Tillis und ich mit hastigen Schritten die Räume der Gerichtsmedizin.

Wir alle waren schon viele Jahre im Dienst der Strafverfolgungsbehörden und brachten entsprechende Erfahrung mit. Aber niemand von uns freute sich auf das, was uns hier erwartete. Dr. Stacy Abbott, eine leitende Gerichtsmedizinerin, ließ uns herein und führte uns an drei Obduktionssälen vorbei einen Flur entlang.

In fast jeder Leichenkammer liegt ein ganz bestimmter Geruch nach Desinfektionsmittel in der Luft, und dazu gibt es eine seltsame Mischung aus weichem und hartem Licht, die mich jedes Mal durcheinanderbringt und mir, schon bevor ich den Leichnam zu Gesicht bekomme, eine leichte Übelkeit verursacht.

Ich habe gelernt, mit diesem Gefühl zu leben, weil die Leichenkammer im Falle eines Mordes der Ort ist, wo die Toten immer noch sprechen. Es bedarf zwar einer geschulten Gerichtsmedizinerin wie Dr. Abbott, um sie auch hören zu können, aber dann geben die Körper der Getöteten in der Mehrzahl der Fälle wertvolle Informationen preis.

»Wie viele haben Sie bis jetzt untersucht?«, wandte Sampson sich an Dr. Abbott, noch bevor wir den eigentlichen Saal betreten hatten.

»Mehrere«, lautete ihre Antwort.

»Irgendwelche Parallelen?«, wollte ich wissen.

»Sie sind alle auf exakt dieselbe Weise enthauptet worden«, erwiderte Dr. Abbott. Sie war Ende dreißig, ein bisschen verschroben vielleicht, aber intelligent und gedankenschnell.

Sie führte aus, dass der erste, äußerst kraftvolle Schnitt immer von hinten geführt worden war, und zwar von links nach rechts quer durch die Kehle. Damit hatte der Täter die Hauptschlagadern, die Luft- und die Speiseröhre bis an die Wirbelsäule durchtrennt. Anschließend war auf der Rückseite ein zweiter Schnitt von rechts nach links bis zum Ansatz der ersten Wunde erfolgt.

Daraufhin war der Kopf so kräftig gedreht worden, dass die Wirbelsäule unterhalb des sechsten Halswirbels gebrochen war. Im letzten Schritt war schließlich das frei liegende Rückenmark gekappt und der Kopf vollständig abgetrennt worden.

»Haben Sie vielleicht eine Vermutung in Bezug auf das verwendete Messer?«, wollte Bree wissen.

»Eine eindeutige«, erwiderte Dr. Abbott. »Drei der Getöteten waren kräftige Männer mit muskulösen Nacken. Trotzdem waren die Schnitte sehr tief. Ich würde sagen, Sie suchen ein Messer mit einem robusten Griff und einer rasiermesserscharfen, fünfundzwanzig bis dreißig Zentimeter langen Klinge. Ein Zerlegemesser, wie es ein Schlachter benutzen würde.«

Ich machte für einen Moment die Augen zu und dachte an Tanner Oates, den Metzgermeister. Er hatte jedes seiner Opfer mit einem Schlachtermesser umgebracht und sie anschließend unterhalb des sechsten Halswirbels geköpft.

»Bereit?«, wollte Dr Abbott wissen.

»So gut es eben geht«, erwiderte Special Agent Tillis.

»Sie haben so was noch nie mitgemacht, stimmt’s?«, erkundigte sich Bree.

»Ein paarmal schon, aber nicht oft.«

»Sie schaffen das«, sagte Sampson, und dann folgten wir der Pathologin durch die Doppeltür.

Es war kühl in der Leichenkammer, einem gekachelten rechteckigen Raum. An beiden Seiten befanden sich Regale mit Kühlfächern für die Toten, jeweils drei übereinander.

»Wo soll ich anfangen?«, erkundigte sich Dr. Abbott.

»Spielt keine Rolle«, antwortete ich. »Wir wollen alle sehen.«

Abbott warf einen Blick auf eine Dateikarte, trat vor ein Kühlfach an der rechten Wand und zog es auf. Darin lag ein Indizienbeutel aus dickem, milchigem Plastik. Er enthielt einen Kopf.

»Unbekannte Tote Nummer achtundzwanzig vierzehn«, sagte Dr. Abbott und nahm den Kopf aus dem Beutel. »Weiblich, Latina, ungefähr Ende zwanzig, braune Haare, muss in zahnärztlicher Behandlung gewesen sein.«

Bree und Special Agent Tillis starrten auf einen Laptopbildschirm. Dann schüttelten sie die Köpfe. »Hier ist sie nicht dabei.«

Nachdem Abbott den Kopf wieder verpackt und das Kühlfach zugeschoben hatte, wandte sie sich einem anderen zu. Es lag weiter unten. Sie ging in die Knie und zog es auf.

»Unbekannter Toter Nummer achtundzwanzig dreiundzwanzig.« Sie nahm den Kopf aus dem Beutel. »Afroamerikaner, Mitte zwanzig, Schneidezähne mit Goldkronen, zwei Narben auf der Kopfhaut.«

Bree und Tillis sahen sich den Kopf an und starrten dann wieder auf den Laptop. »Nein«, sagte Tillis.

Abbott legte den Kopf zurück in das Fach und nahm den dritten heraus. Er hatte einem Asiaten gehört.

»Fehlanzeige«, sagte Sampson.

Und es wurde noch schlimmer. Keiner der sechs Köpfe passte zu einem der sechs kopflosen Leichname an Bord des Sexsklavenhändler-Bootes vor der Küste von Florida.

Tillis wirkte mutlos. »Ich hatte mir solche Hoffnungen gemacht.«