Quantico, Virginia
Nieselregen und leichter Nebel hingen über den kleinen, schwarzen, mit Buchstaben-Zahlen-Kombinationen versehenen Grabsteinen, die flach vor uns im Waldboden lagen.
Es duftete nach Harz. Schon längst hatte sich Dunkelheit über diesen abgelegenen Teil des Marinestützpunktes gelegt. Auf keiner Karte des riesigen, im Bundesbesitz befindlichen Geländes wurde dieses Gebiet besonders ausgewiesen – ein anonymer Friedhof inmitten des Waldes, speziell geschaffen für Verbrecher, deren Taten so niederträchtig und grauenhaft gewesen waren, dass ihre Angehörigen auf eine Beisetzung im üblichen Rahmen verzichtet hatten.
Außer mir waren noch Mahoney, zwei andere FBI-Agenten und drei Friedhofsmitarbeiter gekommen. Wir trugen Regenjacken und Gummistiefel und suchten mit unseren Taschenlampen nach Grabstein B-157, unter dem die mutmaßlichen Überreste von Kyle Craig liegen sollten.
»Wieso sind die nicht alphabetisch angeordnet?«, wollte ich wissen.
Einer der Arbeiter, ein älterer Mann namens Cecil mit leicht gebücktem Gang, erwiderte: »Der Marinekommandant, der diesen Friedhof nach dem Bürgerkrieg hat anlegen lassen, wollte verhindern, dass hier irgendwelche Pilgerstätten entstehen. Die Toten sollten möglichst schwierig zu identifizieren sein. Besonders A eins.«
Ich nahm den Blick von Grabstein C-42. »Wer liegt unter A-1?«
Nach kurzem Zögern erwiderte er leise: »John Wilkes Booth.«
Ich runzelte die Stirn. »Der Mann, der Lincoln erschossen hat? Ich dachte, der liegt auf einem Friedhof in Baltimore, unter einem unbeschrifteten Grabstein. Und die Leute legen darauf Ein-Cent-Münzen mit Lincolns Konterfei ab.«
Cecil schüttelte den Kopf. »Die Familie wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Dieser Grabstein in Baltimore, der liegt auf dem Grab seiner Schwester. Booth wurde hier begraben. Er war der Anlass für diesen unheiligen Ort.«
»Wer noch?«
»Das darf ich nicht sagen, aber es sind eine ganze Menge. Die Leute glauben, sie seien irgendwo anders bestattet worden, mit Grabstein und allem Drum und Dran, aber in Wahrheit wollen die meisten Friedhöfe ihre heilige Erde nicht durch so bösartige Tote entweihen lassen. Darum schicken sie die sterblichen Überreste hierher, und zwar ohne dass jemand was davon mitkriegt.«
Ich hatte noch nie von diesem Friedhof gehört, nicht einmal während meiner Zeit als FBI-Verhaltensanalytiker. Und dabei ist die zuständige Abteilung hier auf dem Stützpunkt angesiedelt. Es war faszinierend. »Na los«, sagte ich und blickte mich um. »Wer liegt sonst noch in diesem Wäldchen hier begraben?«
Cecil wandte sich ab.
»Ich verspreche auch, dass ich es niemandem weitersage.«
Er zögerte zunächst, doch dann erwiderte er leise: »Sie stehen keine dreißig Meter von Oswald und Ruby entfernt.«
Ich starrte ihn mit offenem Mund an. »Lee Harvey Oswald? Der Mörder von John F. Kennedy? Hier? Und Oswalds Mörder Jack Ruby auch?«
»John Wayne Gacy ist auch nicht weit. Ein echtes Horrorkabinett.«
Bevor ich etwas sagen konnte, rief Mahoney. »Hier ist es. Ich hab ihn.«
Ned war drei Reihen entfernt in die Knie gegangen und leuchtete mit seiner Maglite den Erdboden an. »Bringt die Scheinwerfer und den Bagger rüber.«
Ein FBI-Agent startete den Motor eines Pick-up-Trucks, der mit einer Batterie Bauscheinwerfer bestückt war. Cecil setzte sich in die Kabine eines kleinen Bobcat-Schaufelbaggers.
Ich sah ihm nicht zu, sondern blickte mich um. Der Wind wurde kräftiger und vertrieb den Nebel. Stärkerer Regen setzte ein.
Booth. Oswald. Ruby. Gacy.
Und nur Gott und Cecil wussten, wer sonst noch alles hier verscharrt worden war.
Ich ging zu Mahoney, und ich muss zugeben, es war verstörend – na gut, geradezu gruselig – zu wissen, dass unter meinen Füßen die Gebeine von Psychopathen, Attentätern und anderen kaltblütigen Mördern lagen.
Ein Arbeiter hob mit einem Stemmeisen den Grabstein an und legte ihn beiseite. Cecil konnte sehr gut mit dem Bagger umgehen, sodass die Schaufel schon bald die Nadelschicht des letzten Jahres durchdrungen hatte und sich in den nassen rötlichen Lehmboden fraß.
Als sie dann mit lautem Scheppern auf Metall stieß, schüttete es bereits wie aus Kübeln. Die anderen Arbeiter griffen sich einen Spaten und zwei Eisenketten und kletterten mithilfe einer Holzleiter in das Loch. Kurz darauf hatten sie die beiden Ketten um einen einfachen Stahlsarg geschlungen und an der Baggerschaufel festgemacht. Cecil zog an einem Hebel. Der Sarg schwebte mühelos nach oben, bis er schließlich über dem Loch baumelte.
»Da passt ja gerade mal ein Kind rein«, sagte Mahoney kopfschüttelnd.
Ich dachte an meine letzte Begegnung mit dem Mann zurück, den ich für Kyle Craig gehalten hatte, kurz bevor seine ganze jämmerliche Existenz explodiert und verbrannt war.
»Viel ist nicht von ihm übrig geblieben«, sagte ich. »Zwei verkohlte Arme und ein Bein.«