Kurz vor Mitternacht kam ich nach Hause. Ich war völlig durchgefroren und wollte nur noch heiß duschen und anschließend ins Bett. Bree erwartete mich im Schlafzimmer. Als ich eintrat, sagte sie kein Wort, aber ihre Miene sprach Bände.
»Ich weiß, ich hätte dich anrufen müssen«, sagte ich. »Aber immerhin habe ich dir geschrieben, dass ich nach Quantico muss.«
Bree gab keine Antwort, sondern saß nur mit versteinertem Gesicht da.
Ich setzte mich auf die Bettkante. »Bitte, ich musste heute jemanden sprechen, der nicht ganz in der Nähe wohnt, und ich musste ihn unter Druck setzen. Und weil ich nicht wollte, dass du irgendetwas damit zu tun hast, habe ich dir nichts davon gesagt und mein Handy ausgeschaltet. Ich habe niemandem Bescheid gesagt. Und als ich dann wieder da war, hat Ned mich nach Quantico geholt und mir einen Ort gezeigt, den es eigentlich gar nicht geben dürfte.«
Sie schwieg noch etliche Augenblicke, dann sagte sie: »Dann gibt es also doch eine Seite von Alex Cross, von der seine geliebte Ehefrau nichts wissen darf.«
Ich merkte, dass es keinen guten Ausweg aus dieser Situation gab. Also gab ich auf und erzählte ihr von Dr. Bombay und von dem Friedhof in Quantico.
»John Wilkes Booth?«
»Genau meine Reaktion«, sagte ich.
Alle Verbissenheit war aus ihren Zügen gewichen und von aufrichtigem Interesse abgelöst worden.
»Und was ist mit Ted Bundy? Liegt der auch da?«
»Wenn wir es wirklich genau wissen wollen, müssen wir einen Friedhofswärter namens Cecil ausfindig machen. Aber ich würde sagen, die Chancen stehen ziemlich gut.«
Bree schüttelte den Kopf. »Unglaublich. Und niemand weiß davon?«
»Nur einige wenige Auserwählte.«
»Glaubst du, dass wirklich Craigs sterbliche Überreste in dem Sarg liegen?«
»Mir ist so kalt, und ich bin so übermüdet, dass ich gar nicht mehr weiß, was ich glauben soll.«
»Mein armer Schatz«, sagte sie. »Dann geh duschen und komm ins Bett.«
Ich gab ihr einen Kuss. »Danke für dein Verständnis.«
Als ich mich erhob, kehrte wieder etwas Nüchternheit in ihre Miene zurück.
»Aber glaub ja nicht, dass ich die Begründung, mit der du mir deinen Miami-Kurztrip verschwiegen hast, akzeptiere. Wir sind schließlich Lebenspartner, Seelenverwandte, also viel mehr als nur ein Team.«
»Ich entschuldige mich dafür. Es wird nicht wieder vorkommen.«
»Dann betrachte das Ganze als erledigt und vergessen«, sagte sie und knipste ihre Nachttischlampe aus.
Die Dusche war herrlich. Sie wärmte mir nicht nur die Knochen, sondern spülte auch alles andere den Abfluss hinunter, angefangen bei abstoßenden Zehennägeln bis hin zu Stahlsärgen.
Ich legte mich ins Bett, ließ den Tag weit hinter mir und glitt in einen traumlosen Schlaf.
Als wir am nächsten Tag aufwachten, beschlossen wir, uns ein Familienwochenende zu gönnen.
Gemeinsam mit Ali machten wir uns auf den Weg zum Tidal Basin. Während Bree und ich unsere normale Samstagvormittags-Joggingrunde absolvierten, war er mit seinem Fahrrad unterwegs. Es wurde schnell deutlich, dass er sich durch die Trainingsfahrten mit den Wild Wheels verbessert hatte, sowohl was die Kraft, als auch was die Technik anging.
Das sagte ich ihm auch, als er zu uns zurückkam.
»Heißt das, ich darf zu diesem Rennen in Pennsylvania fahren?«, wollte er wissen.
»Ich habe mir den Zettel durchgelesen, den du mit nach Hause gebracht hast, und das sieht alles gut aus. Ich will vorher noch mit dem Trainer sprechen, aber ich denke schon, dass du mitfahren kannst.«
Er stieß einen Freudenschrei aus und sauste davon, als Bree und ich gerade bei den ersten japanischen Kirschbäumen am Rand des Wasserbeckens angelangten.
»Siehst du das?«, keuchte Bree und zeigte auf die Kirschbäume. »Die Knospen sind kurz vor dem Platzen.«
»Stimmt. Fast eine Woche früher als letztes Jahr.«
Wir schnauften am Jefferson Memorial vorbei und stießen bei der Ampel an der Maine Avenue wieder auf Ali. Er hatte auf uns gewartet und streckte uns aufgeregt sein Handy entgegen.
»Captain Abrahamsen ist gestürzt!«, sagte er.
»Was?«
»Gestern ist er beim Training am Ostufer auf Schotter geraten und mit eingerasteten Schuhen über den Lenker geflogen. Er hat sich an der Schulter verletzt. Und die Woche über muss er auf einem Army-Stützpunkt in San Antonio arbeiten.«
»Woher weißt du das denn alles?«, erkundigte sich Bree.
Ali berichtete, dass er dem Captain geschrieben habe, um ihm zu sagen, dass er an dem Rennen teilnehmen durfte, und ihn zu fragen, ob sie davor noch einmal zusammen trainieren könnten. Abrahamsen hatte geantwortet, dass es ihm leidtäte, aber dass er am Morgen erst zum Arzt musste, um seine Schulter untersuchen zu lassen, und anschließend weiter nach Texas.
»Er sagt, dass es mindestens zwei Wochen dauern wird, bis er wieder ans Fahrradfahren denken kann.«
»Wie schade«, sagte ich. Dann sprang die Ampel auf Grün, und Ali fuhr voraus, während wir die Maine Avenue und anschließend die Independence Avenue überquerten. »Und wann findet das Rennen statt?«
Ali rief über die Schulter zurück: »In vier Wochen!«
»Na bitte«, erwiderte Bree. »Dann hat er doch genügend Zeit, um wieder fit zu werden.«
Während des ganzen restlichen Wochenendes hatten wir das Gefühl, jede Menge Zeit zu haben. Und zwar alle gemeinsam. Am Sonntag regnete es, und wir blieben zu Hause, schauten uns das Finalturnier im College-Basketball an und genossen Nanas Kochkünste.
Nachdem ich Ali ins Bett gebracht hatte, lag Bree schon im Schlafzimmer und las ein Buch. Ich seufzte. »So ein Wochenende habe ich gebraucht. Einfach ein bisschen Raum, damit wir wieder mal ganz wir selbst sein können.«
»Ich auch«, erwiderte sie, legte ihr Buch beiseite, knipste das Licht aus und kuschelte sich an mich.
»Gute Nacht, Baby«, sagte ich und küsste sie.
»Wer sagt denn, dass das Wochenende schon vorbei sein muss?«, sagte sie und erwiderte meinen Kuss.