McLean, Virginia
Am nächsten Morgen fuhren Ned Mahoney und ich auf ein Tor in einem knapp zwei Meter hohen schmiedeeisernen Zaun zu. Der Zaun umgab ein Anwesen mitten im westlich von Washington gelegenen so genannten »Horse Country« Virginias. Das weitläufige, weiß gestrichene Wohnhaus im Kolonialstil besaß grüne Fensterläden und Zierleisten und lag ein ganzes Stück von der Straße entfernt.
»Ich finde nach wie vor, dass du nicht mitkommen solltest, Alex«, sagte Mahoney, als der Pick-up-Truck vor uns abbog und auf das Tor zurollte. Wir waren direkt dahinter.
»Das sehe ich anders«, erwiderte ich. »Ich kann den Säbelrassler geben.«
»Wir haben eine Durchsuchungsgenehmigung.«
»Wer sagt, dass wir schon so früh unsere Karten aufdecken sollten?«
»Was erwartest du dir davon?«, wollte Mahoney wissen, während eine Hand durch das Seitenfenster des Pick-ups gestreckt wurde und eine Taste an einer Funkanlage drückte. »Ein Geständnis? ›Ich bin M und habe all diese Grausamkeiten organisiert, und zwar wegen Ihnen, Alex Cross‹?«
»Genau das«, erwiderte ich. Wir hörten ein lautes Summen, dann schwang das Tor auf. »Und wenn wir die Sache richtig anpacken, dann kriegen wir vielleicht genau das, was ich mir erhoffe, und ersparen uns jede Menge Zeit und Ärger.«
Ned fuhr hinter dem Pick-up durch das Tor und die Einfahrt entlang. »Tu mir einen Gefallen und überlass das Reden mir, ja?«
»Ich glaube, allein meine Anwesenheit wird mehr als ausreichen.«
Wir stellten unseren Wagen auf einem Backsteingitter auf einer runden, von Azaleen umgebenen Fläche ab. Die Azaleen begannen gerade zu blühen. Der Fußweg bis zur Eingangstür wurde von Hornsträuchern gesäumt. Wir ignorierten die Blicke der uniformierten Gärtner und klopften an.
Eine Latina Mitte vierzig öffnete uns. Irgendwo im Inneren des Hauses spielte jemand Klavier. »Ja bitte?«
Mahoney zeigte ihr seinen Ausweis. »FBI, Madam. Wir würden gern mit der Dame des Hauses sprechen.«
Die Frau starrte den Ausweis an. »FBI? Es geht ihr nicht gut. Ich rufe lieber ihren Sohn an. Er wohnt ein Stück die Straße hinunter.«
»Ihn besuchen wir als Nächstes, aber jetzt müssen wir mit ihr sprechen«, beharrte Ned. »Und wie heißen Sie?«
Vermutlich glaubte sie, dass Ned sich nur nach ihrem Namen erkundigte, um ihren Einwanderungsstatus zu überprüfen, denn sie verschränkte die Arme vor der Brust, reckte das Kinn und sagte: »Ich bin Maria Joan und besitze eine Green Card, seit sechs Jahren inzwischen. In sieben Monaten werde ich US-Bürgerin. Ich lerne auf die Prüfung. Und ich kenne das Gesetz. Den vierten Zusatzartikel. Sie können mich nicht zwingen, Sie hereinzulassen, es sei denn, es ist Gefahr im Verzug oder Sie haben eine Durchsuchungsgenehmigung.«
Mahoney griff lächelnd in seine Brusttasche. »Nun, Miss Joan, da haben Sie vollkommen recht. Aber das hier ist eine solche Durchsuchungsgenehmigung, unterzeichnet von einem Bundesrichter. Wenn Sie uns also nicht zu Ihrer Chefin lassen, könnte man das als Behinderung einer Amtshandlung auslegen.«
Mahoney zeigte ihr die richterliche Anordnung, und sie überflog sie, nickte und machte uns widerwillig Platz.
Das ovale Foyer war mit Schieferfliesen ausgelegt. In der Mitte zwischen uns und einer sprudelnden Wasserwand stand ein Podest und darauf eine Vase mit einem ausladenden Blumenarrangement, das mit seinem Duft die Luft erfüllte.
Wir folgten Maria Joan einen Gang entlang, gingen an einer Bibliothek vorbei und näherten uns den Klavierklängen. Schließlich gelangten wir in einen großen, offenen Raum mit einer Küche, die direkt einer Hochglanzzeitschrift entsprungen war, und einem dahinter liegenden Wohnbereich, dessen Möblierung ebenso hochwertig und geschmackvoll war wie die Kücheneinrichtung.
Auf einem runden Tisch standen zwei Blumenvasen mit frischen Rosen sowie ein hübsches Teeservice. Davor saß eine Frau in einem Rollstuhl. Sie hatte den Blick auf den großen, in die Wand eingelassenen Fernseher gerichtet, wo Bloomberg Television lief. Wir befanden uns etwas diagonal versetzt hinter ihr.
Den Ton hatte sie abgestellt. Stattdessen hörte sie Klaviermusik.
Maria Joan ging zu ihr, trat vor sie und stupste sie behutsam an. »Sie haben Besuch, Mrs. M.«