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Ich wäre beinahe umgekippt, als ich Maria Joans Worte hörte.

Sie haben Besuch, Mrs. M.

Mahoney war der Kiefer nach unten geklappt, aber er machte ihn rechtzeitig wieder zu, bevor wir gemeinsam den Rollstuhl umrundeten. Der Anblick ließ mir den Atem stocken.

Bei meiner letzten Begegnung mit Margaret Edgerton hatte ihre Erscheinung ganz dem Bild einer reichen und erfolgreichen Geschäftsfrau entsprochen. Doch im Verlauf der vier Wochen, die seit jenem Tag im Greensville Correctional Center vergangen waren, wo wir beide zugesehen hatten, wie ihr Sohn den grausamen und barbarischen Tod gestorben war, den er sich selbst ausgesucht hatte, war die Fassade bröckelig geworden.

Sie wirkte erschöpft und trug eine getönte Sonnenbrille, einen flauschigen blauen Bademantel und dicke Strümpfe. Ihre Hände zitterten leicht, und als sie mir und Mahoney den Blick zuwandte, wirkte sie irgendwie verwirrt.

»Besuch?«, sagte sie mit verschlafener Stimme und etwas undeutlicher Aussprache. »Ich dachte, die Therapeuten hätten schon Feierabend. Ich bin müde, Maria.«

»Mrs. Edgerton, ich bin Special Agent Mahoney vom FBI«, sagte Mahoney und trat mit seinem Ausweis und der Durchsuchungsgenehmigung in der Hand auf sie zu. »Sie können jetzt gehen, Miss Joan.«

»Sie kann kein Wort von dem lesen, was Sie ihr da zeigen«, sagte diese und ging in die Küche.

Mrs. Edgerton schien verwirrt. »Worum geht es denn?«

Mahoney erwiderte: »Um die Entführung einer jungen Frau und Mutter namens Diane Jenkins.«

Die alte Frau rümpfte die Nase, bevor sie sich mühsam etwas aufrichtete.

»Entführung?«, entgegnete sie in beleidigtem Tonfall. »Ich? Wie können Sie es wagen!«

Dann musste sie husten und fuchtelte mit den Fingern in der Luft herum.

»Bitte.« Maria Joan kam mit hastigen Schritten zurück und eilte zu einem Sauerstoffbehälter, der auf einem Rollwagen in der Zimmerecke stand. »Sie haben sie aufgeregt, und jetzt bekommt sie keine Luft mehr.«

Allmählich beschlich mich ein ganz mieses Gefühl.

Die Haushaltshilfe befestigte den Sauerstoffschlauch unter Mrs. Edgertons Nase und fauchte uns an: »Können Sie nicht später noch mal wiederkommen? Vor drei Wochen hatte sie einen Schlaganfall. Ihre Sehfähigkeit ist stark eingeschränkt, und sie leidet unter Angstzuständen.«

Jetzt fühlte ich mich erst recht schlecht, aber ich meinte zu Mahoney: »Sag ihr ganz genau, wieso wir hier sind.«

Mrs. Edgerton legte den Kopf schief und drehte sich zu mir um. »Wer ist noch da?«

Mahoney erwiderte: »Ein Berater, Madam. Doch jetzt zurück zum Grund unseres Besuchs. Der Ehemann der Entführten hat das Lösegeld in einer so genannten Kryptowährung bezahlt.«

»Ich weiß, was das ist, dieser Blockchain-Unsinn«, fuhr sie ihn an. »Und weiter?«

Bevor Mahoney antworten konnte, fuchtelte Mrs. Edgerton mit ihrer zittrigen linken Hand in meine Richtung. »Sie antworten, Herr Berater.«

»Mrs. Edgerton«, wandte Ned ein. »Ich bin hier der Verantwortliche.«

»Ist mir egal.« Sie rollte fünfzehn, zwanzig Zentimeter auf mich zu. »Mag sein, dass ich inzwischen offiziell blind bin, aber ich kann immer noch sehr gut hören. Außerdem kenne ich meine Rechte und habe all meine Sinne beisammen. Herr Berater, warum sind Sie und der Special Agent wirklich hier?«

Ich räusperte mich und sagte: »Das Lösegeld wurde über Hunderte digitale Konten auf der ganzen Welt geschleust und ist schließlich auf Ihrem persönlichen Kryptowährungskonto gelandet. Das war gestern. Die gesamten fünf Millionen.«

Es war, als hätte sie mich gar nicht gehört. Nachdem ich etwa zehn Wörter gesagt hatte, hatte Mrs. Edgerton sich so fest an ihre Stuhllehnen gekrallt, dass ihre Knöchel weiß geworden waren. Ihr Gesicht hatte einen bitteren und rachsüchtigen Zug angenommen.

»Sie sind gekommen, um mich endgültig fertigzumachen, nicht wahr, Cross?«

Nach kurzem Zögern erwiderte ich: »Nein, Mrs. Edgerton. Das bin ich nicht.«

Sie kicherte. »Oh doch. Erst haben Sie meinen Sohn ohne Beweise auf den elektrischen Stuhl befördert, und jetzt wollen Sie unbedingt mit ansehen, wie auch ich auf dem Grill lande.«

»Wir sind in einer vollkommen anderen Angelegenheit hier«, sagte Mahoney. »Mrs. Edgerton, ich habe hier eine bundesrichterliche Durchsuchungsgenehmigung, die mir gestattet, sämtliche Computer in Ihrem Haus sowie im Büro der Familie Edgerton in Manhattan zu beschlagnahmen.«

Die alte Frau schien seine Worte gar nicht zu hören. Sie beugte sich angestrengt nach vorn und sah jetzt genau so wutentbrannt aus wie bei der Hinrichtung ihres Sohnes.

Ihr Flüstern klang hart und kalt. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie in der Hölle schmoren würden, Cross. Wissen Sie noch?«

»Das weiß ich noch. Sind Sie M, Mrs. Edgerton?«

»Du sagst keinen Ton!«, brüllte da ein Mann in unserem Rücken. »Mom, du sagst kein einziges verdammtes Wort mehr, und Sie beide verschwinden auf der Stelle! Es ist mir scheißegal, ob Sie vom FBI sind. Sie können nicht einfach in das Haus meiner schwer kranken Mutter eindringen und ihr ohne jeden Beistand irgendwelche Fragen stellen.«

Wir drehten uns um und sahen einen bulligen Mittfünfziger durch die Küche auf uns zukommen. Er hatte schütteres Haar, wirkte durchtrainiert und trug ein Kapuzenshirt sowie Sportkleidung. Auch er war bei der Hinrichtung zugegen gewesen.

»Peter Edgerton?«, sagte Mahoney. »Auch für Ihr Haus haben wir eine Durchsuchungsgenehmigung.«

Bei diesen Worten blieb Mrs. Edgertons ältester Sohn wie angewurzelt stehen. »Mein Haus? Wieso? Und was, zum Teufel, wollen Sie eigentlich auf den Computern meiner Mutter finden? Die hat sie seit dem Schlaganfall nicht einmal angerührt.«

»Es geht um eine Entführung. Das Lösegeld, das der Entführer gefordert hat, ist auf dem Kryptokonto Ihrer Mutter eingegangen«, sagte Mahoney.

»Pete!«, rief Mrs. Edgerton. »Ich habe ja nicht einmal so ein Konto.«

»Doch, Mom, das hast du«, erwiderte ihr Sohn in scharfem Tonfall.

»Was?«

»Darüber reden wir später.« Er musterte uns. »Wollen Sie mich verarschen? Ist das Kryptogeld tatsächlich auf ihr persönliches Konto geflossen?«

»Ja.«

»Dann hat irgendjemand die Daten gehackt und es dorthin geleitet. Die wirklichen Entführer.«

»Aber wieso sollten die so etwas tun?«, wollte ich wissen.

Peter Edgerton schien mich erst jetzt überhaupt wahrzunehmen. Schlagartig veränderte sich seine gesamte Haltung.

»Niemals«, stieß er hervor. Dann sah er Mahoney an. »Sie schaffen diesen Dreckskerl sofort aus dem Haus meiner Mutter. Wenn nicht, dann gebe ich jeden Cent meines persönlichen Kryptovermögens dran, um Sie beide so lange vor Gericht zu zerren, bis Ihnen Hören und Sehen vergeht. Das garantiere ich Ihnen!«

»Mr. Edgerton«, sagte Mahoney.

»Schaff ihn aus meinem Haus, Pete!«, rief seine Mutter.

Ihr Sohn hielt sich nur mit größter Mühe im Zaum, während er Mahoney wutentbrannt anstarrte. »Wenn Cross verschwindet, wenn er unverzüglich unser Grundstück verlässt, dann sind wir zur Kooperation bereit. Ich lasse Sie mein Haus und das meines Bruders durchsuchen, das Büro der Familie auch, was immer Sie wollen. Ich kann Ihnen versprechen, dass wir mit dieser Sache nichts zu tun haben.«

Mahoney sah mich an und wies mit einer Kopfbewegung in Richtung Tür.

Ich widersprach nicht. Beim Hinausgehen hörte ich Pete Edgerton in besänftigendem Tonfall sagen: »Er ist weg, Mom. Und er kommt nie wieder zurück.«

Als ich schon auf dem Weg zur Haustür war, hörte ich noch, wie seine Mutter mir hinterherrief: »Und in der Hölle schmoren werden Sie trotzdem, Cross! Ganz egal, was Sie machen, Sie werden brennen für das, was Sie Mikey angetan haben!«