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Nolan behauptete, wir hätten ihm mit unserem Angriff das Knie zertrümmert, die Schulter ausgekugelt und die Rippen gebrochen. Er wollte einen Arzt und einen Rechtsanwalt sprechen, und dann sagte er kein Wort mehr, was sein gutes Recht war. Mahoney brachte ihn in bundespolizeilichen Gewahrsam, und wir vereinbarten, dass wir uns am nächsten Morgen wieder treffen wollten.

Bree nahm uns mit. Als wir Sampson abgesetzt und den Wagen vor unserem eigenen Haus abgestellt hatten, hatte der Sturm sich bereits wieder gelegt. Ich schälte mich aus dem Beifahrersitz. Meine Kleider waren zerrissen und hatten sich mit diesem dickflüssigen kupferfarbenen Schlamm vollgesogen.

»Du siehst aus wie ein Statist aus einem Zombiefilm«, sagte Bree kichernd.

»So fühle ich mich auch.« Ich rieb mir die schmerzenden Rippen. »Ich muss auf irgendwas Hartes gefallen sein.«

Wir gingen unsere Eingangstreppe hinauf, und ich verschwendete kaum einen Gedanken an das Gerüst zwischen unserem und dem Haus der Morses’.

»Meinst du wirklich, dass Nana Mama dich so, wie du aussiehst, auf ihren frisch geputzten Fußboden lässt?«, sagte Bree. »Am besten gehst du hinten rum und stellst dich unter die Dusche im Keller.«

Ich seufzte. »Also gut. Und bevor ich reingehe, spritze ich mich mit dem Schlauch einmal ab.«

»Noch besser«, meinte sie.

Ich beugte mich vor, um ihr einen Kuss zu geben. Sie machte einen entsetzten Satz nach hinten. »Nur über meine Leiche.«

»Ein Zombiekuss!«, sagte ich, reckte die Hände in die Höhe wie Frankensteins Monster und jagte sie ein paar Schritte vor mir her.

Laut kreischend vor Vergnügen trampelte Bree die Treppe hinauf und über die Eingangsterrasse. Sie zog die Haustür auf, drehte sich zu mir um, grinste mich an, streckte mir die Zunge heraus und ging hinein.

Ich genoss es, sie so zu sehen, mehr junges Mädchen als Frau, mehr ganz normale Bürgerin als Polizistin, und alles nur, weil ich mich wie ein kleiner Junge aufführte. Es war ein richtig guter Abschluss eines langen und komplizierten Tages, der mehr als einmal ziemlich aus dem Ruder gelaufen war.

Aber alles in allem hatten wir echte Fortschritte gemacht. Auch wenn wir nicht M selbst geschnappt hatten, so hatten wir zumindest jemanden, der ihn kannte. Das hatte Nolan selbst gesagt. Zu mir und zu Marty Forbes.

Nach einer langen, heißen und wundervollen Dusche betrat ich die Küche. Ich fühlte mich wie neugeboren. Das Abendessen stand bereits auf dem Tisch – Grillhähnchen in Zitronen-Senf-Soße, ein Rezept, das Nana Mama aus der Rachel Ray Show hatte.

»Gut siehst du aus«, sagte Bree.

»Wenn es sich ergibt.«

»Bree hat gesagt, dass du total voll mit Schlamm warst«, sagte Ali.

»Von Kopf bis Fuß.«

»Ich hätte dich gerne fotografiert.«

»Auf keinen Fall.«

»Dad?«, meldete Jannie sich zu Wort. »Willst du mich nicht fragen, wie mein erster Tag in der Schule war?«

Das hatte ich völlig vergessen. »Schule. Genau. Wie fühlst du dich?«

Sie setzte sich auf und lächelte. »Ehrlich gesagt, ziemlich gut. Die Vitamine scheinen ja doch was zu bewirken.«

»Warst du zwischendurch nicht mehr müde?«

»Bloß einmal, in der Freistunde. Dann habe ich den Kopf auf den Tisch gelegt und zehn Minuten geschlafen. Was meinst du, wann kann ich mit dem Training anfangen?«

Meine Großmutter sagte: »Mir ist klar, dass du es kaum erwarten kannst, aber ein Rückfall ist wirklich das Letzte, was du gebrauchen kannst.«

Jannie setzte eine niedergeschlagene Miene auf.

Ich sagte: »Nana hat recht, und das weißt du auch. Wie wär’s, wenn du den Rest der Woche noch das Vitaminprogramm durchziehst und möglichst viele Dehnungsübungen machst? Wir beobachten, wie du dich in der Schule entwickelst, und wenn alles gut läuft, dann kannst du nächste Woche mit dem Lauftraining anfangen.«

Meine Tochter kaute auf der Innenseite ihrer Wange herum, dann sagte sie: »Also, im Moment sind es noch, warte mal, zwölf Wochen bis zum ersten Wettbewerb, oder?«

»Das kann sein. Aber du darfst dich nicht überfordern. Du musst es langsam angehen, anstatt einfach draufloszurennen.«

»Aber ich liebe es, einfach draufloszurennen«, erwiderte sie und ließ dazu ein nicht ganz ernst gemeintes Stöhnen hören.

»Und das wirst du auch«, sagte Bree. »In zwölf Wochen.«

Jannie hob die Hände. »Ich ergebe mich, ganz offiziell.«

»Manchmal muss man aufgeben, damit man irgendwann wieder angreifen kann«, warf Nana Mama ein.

»Wer hat das gesagt?«, wollte Ali wissen.

»Ich«, erwiderte meine Großmutter. »Gerade eben.«

»Du solltest das aufschreiben, Nana«, sagte er.

»Nein, du solltest das aufschreiben«, entgegnete sie.

Ali starrte für einen kurzen Moment ins Leere und wollte gerade etwas sagen, als sein Handy plingte. Er zog es aus der Tasche, warf einen Blick auf das Display und fing an zu lächeln.

»Siehst du?«, sagte meine Großmutter. »Sie schaffen es einfach nicht, sich auf das echte Leben zu konzentrieren. Immerzu müssen sie diese Bildschirme anstarren. Ich sage: ›Schreib das auf‹, aber dann – pling – weg ist er.«

Ali steckte das Handy zurück in seine Tasche, stand auf und holte sich einen Notizblock und einen Stift. »Nein, Nana, ich schreibe jetzt alles auf, was du sagst, und irgendwann stellen wir es bei Twitter ein. Du weißt schon, zum Beispiel Hashtag-Irre-gute-Sprüche-von-meiner-Großmutter.«

Einen Augenblick lang herrschte Stille in unserer Küche, dann brach Jannie in lautes Lachen aus. »Das könnte funktionieren!«

»Genau!« Triumphierend reckte Ali die Faust in die Höhe. »Nana Mama geht viral!«

Meine Großmutter starrte die beiden entgeistert an, als hätten sie den Verstand verloren, was wiederum Bree und mich zum Lachen brachte. Kurz darauf fing auch Nana an zu kichern. »Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung, was daran so witzig sein soll«, sagte sie, »aber das ist auch egal. Ein herzhaftes Lachen bewahrt jedenfalls vor dem Tod.«

»Schreib das auf!«, brüllte Jannie, und dann fingen wir wieder an zu lachen.