An diesem Abend um kurz nach 19.00 Uhr standen Mahoney, Sampson, Bree und ich dicht beisammen in den Räumen des Heimatschutzes in der Union Station. Wir drängten uns um Lieutenant Edith Prince, eine Mitarbeiterin der Behörde für Transportsicherheit. Sie hatte Zugang zu den archivierten Aufnahmen der Überwachungskameras in und um diesen zentralen Verkehrsknotenpunkt Washingtons.
Wir baten sie, uns die Aufnahmen von dem Tag, als Nolan von den Kameras erfasst worden war, zu zeigen. Laut Zeitanzeige war es genau 16.01 Uhr, als der Kyle-Craig-Doppelgänger im Bild auftauchte, durch die Bahnhofshalle spazierte und schließlich in der Metro verschwand.
»Er hat uns erzählt, dass er vorher noch bei einem Schließfach war«, sagte Bree.
Prince benötigte mehrere Versuche, bis sie ihn gefunden hatte. Die betreffende Kamera war auf eine Nische mit Schließfächern gerichtet, die von 6.00 Uhr bis Mitternacht zugänglich waren.
Um 15.54 Uhr war Nolan ins Blickfeld der Kamera getreten und zu Schließfach C-2 gegangen. Es war eines der größeren Fächer, und die Tür stand offen.
Nolan streckte die Hand hinein und tastete im oberen Bereich des Schließfachs herum, zog die zu einer lockeren Faust geballte Hand wieder heraus und steckte sie in seine Jackentasche. Die Tür klappte zu. Nolan ging weg.
Das alles entsprach haargenau der Beschreibung, die er Bree im Verhörzimmer gegeben hatte.
»Was war denn das?«, wollte Prince wissen.
»Nolan behauptet, er hätte einen Abholschein für ein Handgepäckstück im Willard Hotel herausgeholt«, sagte Bree.
»Jetzt müssen wir nur noch rauskriegen, wer diesen Abholschein in das Schließfach gelegt und das Gepäck im Hotel deponiert hat«, meinte Mahoney.
»Mit dem Hotel kann ich Ihnen nicht weiterhelfen«, erwiderte Prince und gab ihrem Computer einen Befehl. »Aber vielleicht …«
Der Film lief mit sechsfacher Geschwindigkeit rückwärts. Ich konnte den Bildern nur mit Mühe folgen. Ständig musste ich daran denken, was Kyle Craigs Doppelgänger steif und fest behauptet hatte: dass er vor zwei Jahren über einen anonymen, in Panama registrierten Server und ein E-Mail-Konto, das einem gewissen M gehörte, kontaktiert worden war.
Der Absender hatte genau gewusst, dass Nolan ein ehemaliger Strafgefangener war, der sich seit seiner Haftentlassung darum bemühte, sauber zu bleiben, und dabei zu viele Stunden für zu wenig Geld arbeitete.
M wusste außerdem, dass Nolan Schauspieler und Stuntman gewesen war, und sah in ihm die perfekte Besetzung für mehrere Rollen, die ihm vorschwebten. Für die erste Rolle waren fünf Tage Arbeit erforderlich. Dafür sollte er hunderttausend Dollar bekommen, fünfundzwanzigtausend als Vorschuss und den Rest nach Abschluss.
»Und wofür?«, hatte Bree ihn gefragt.
Nolan hatte sich gewunden und dabei das Gesicht verzogen. »Ehrlich gesagt, ich glaube, das sollte ich Ihnen lieber nicht sagen.«
Mahoney beugte sich über den Tisch. »Geköpfte Tote, William. Das Blut dieser Toten war in Ihrem Besitz. Reden Sie oder denken Sie darüber nach, was Sie sich als letzte Mahlzeit wünschen.«
Der Stuntman war zwar alles andere als glücklich damit, aber er erzählte uns alles. Er war es gewesen, der Marty Forbes in diesem Motelzimmer in Fort Lauderdale mit Chloroform betäubt hatte. Er war es gewesen, der ihm eine Infusion gelegt und ihn mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt hatte. Er war es gewesen, der während der gesamten vier Tage, die Martys medikamentöser Dämmerschlaf gedauert hatte, die Reinigungskräfte nicht ins Zimmer gelassen hatte.
»Ich habe gewartet, bis Forbes langsam wieder zu sich gekommen ist, dann bin ich weggefahren«, fuhr Nolan fort. »Fünf Tage später kriege ich ein UPS-Paket mit fünfundsiebzig Riesen in bar. Ich weiß bis heute nicht, was ich gemacht habe, um das zu verdienen.«
»Sie haben sich an einem Täuschungsmanöver beteiligt, wodurch Forbes für mehrere Morde hinter Gitter gewandert ist, die er gar nicht begangen hat«, erwiderte Bree.
»Aber ich auch nicht!«, sagte Nolan. »Ich habe ja erst vor zehn Tagen überhaupt erfahren, dass Forbes im Knast sitzt. Da sollte ich ihn besuchen, aber kein Wort sagen.«
Nolan behauptete, dass M im Februar erneut Kontakt zu ihm aufgenommen und ihm für einen Monat Arbeit zweihunderttausend Dollar angeboten hatte. Er sollte im Regal Motel einchecken und dann einfach abwarten, bis er einen konkreten Auftrag bekam.
»Auch dieses Mal wieder über dieses panamaische E-Mailkonto?«
»Nein, dieses Mal sollte ich eine Handy-App nutzen. Sie heißt Wickr.«
Jetzt glaubte ich Nolan jedes Wort. Schon, als er gesagt hatte, dass M über ein panamaisches E-Mailkonto mit ihm Kontakt aufgenommen hatte – genau wie bei Marty Forbes –, hatten sich meine Zweifel allmählich verloren. Aber über Wickr, diese anonyme, spurlos verschwindende digitale Telegramm-App, hatte M auch mit mir Kontakt aufgenommen. Damit hatte er mich …
»Stopp!«, sagte Bree und schreckte mich aus meinen Gedanken.
Der Film auf dem Bildschirm im Büro des Heimatschutzes erstarrte. Vor dem Schließfach C-2 stand eine junge Weiße in einem einfachen Stoffkleid. Auf ihren blonden Rastalocken saß eine Wollmütze.