Lieutenant Prince ließ das Video in Zeitlupe weiterlaufen. Um 14.29 Uhr an dem Tag, als Nolan den Gepäckschein abgeholt hatte, trat eine junge Frau vor das Schließfach und holte einen Rucksack sowie eine Stofftasche heraus. Sie hängte sich den Riemen der Stofftasche über Schulter und Brust, schnappte sich den Rucksack und ging wieder weg.
Wir konnten die junge Frau aus jedem Blickwinkel deutlich sehen. Zu keinem Zeitpunkt schien sie die Hand auch nur in die Nähe der Stelle zu bringen, wo der Gepäckschein gesteckt hatte. Prince spulte weiter zurück und entdeckte dieselbe junge Frau um 12.40 Uhr, als sie ihr Gepäck in C-2 deponiert hatte.
Sampson meinte: »Gut möglich, dass sie den Gepäckschein beim Einräumen in den Schrank gesteckt hat. Man kann ihre Hände gut acht Sekunden lang nicht sehen.«
»Kann sein«, sagte ich. »Spulen Sie noch weiter zurück, ein bisschen schneller vielleicht.«
Prince gab einen Befehl ein, und das Video lief jetzt wieder rückwärts, dieses Mal mit sechzehnfacher Normalgeschwindigkeit. Wir mussten uns konzentrieren, starrten ständig auf Schließfach Nummer C-2 und sonst nichts. Mein iPhone summte und signalisierte mir, dass eine neue Nachricht eingegangen war. Ich achtete nicht darauf.
»Da«, sagte Bree und zeigte auf den Bildschirm.
»Alles klar«, erwiderte Prince und stellte wieder auf Normalgeschwindigkeit.
Um 10.22 Uhr tauchte ein Mann in einem langen dunklen Regenmantel vor C-2 auf. Er trug einen schwarzen, in einen Regenschutz aus durchsichtigem Plastik gehüllten Cowboyhut und schloss das Schließfach auf. Dann holte er eine Reisetasche heraus und ging wieder weg. Durch die Hutkrempe war sein Gesicht nicht zu erkennen. Als er sich umdrehte, fiel mir auf, dass er eine Art Band um die Hutkrone trug, das aber wegen des Regenschutzes nicht genau zu erkennen war.
Eine knappe halbe Stunde früher, um 9.54 Uhr, als der Cowboy den Schließfachbereich zum ersten Mal betrat, war von dem Band nichts zu sehen. Er stellte die Reisetasche in das Fach C-2, verriegelte die Tür und ging wieder weg, ohne dass wir sein Gesicht ein einziges Mal zu sehen bekamen.
»Ich kann nicht erkennen, wie er den Abholschein im Schließfach hätte deponieren können«, sagte Bree. »Das läuft doch alles sehr routiniert ab. Reisetasche rein, und später wieder raus. Mehr nicht.«
»Das sehe ich auch so«, meinte ich. »Aber könnten Sie die Stelle trotzdem markieren, Lieutenant Prince? Und dann weiter zurückspulen?«
Um 8.12 Uhr an dem Tag, als Nolan den Gepäckschein aus dem Schließfach geholt hatte, betrat ein groß gewachsener Schwarzer mit blauem Sweatshirt den Schließfachbereich. Er hatte eine Kapuze auf und trug eine dunkle Sonnenbrille. Nachdem er sich mehrfach nervös umgeblickt hatte, trat er vor das Schließfach C-2, schloss es auf und streckte den Arm bis zum Ellbogen hinein.
Die Schultern des kräftigen Mannes bewegten sich, als tastete er nach irgendetwas im Inneren des Schließfachs, dann holte er einen Laptop mitsamt Schutzhülle heraus. Er klemmte ihn sich unter den Arm und verschwand.
»Das könnte unser Mann sein, eindeutig«, sagte Mahoney. »Wieso hätte er sich sonst einen so großen Schrank für etwas so Kleines aussuchen sollen?«
»Das sehe ich auch so, aber schauen wir uns doch mal an, wie er den Laptop da reinlegt.«
Prince spulte das Video zurück, bis wir denselben Mann um 6.48 Uhr wiedersahen. Da hatte er eine große, schwere Kuriertasche bei sich, die er in C-2 deponierte.
Doch bevor er die Tür verriegelte, schien er es sich anders zu überlegen, jedenfalls holte er die Tasche noch einmal heraus, nahm den Laptop mitsamt Hülle heraus und schob ihn tief ins Innere des Schließfachs. Dann erst schloss er die Tür ab und verschwand mit der Kuriertasche unter dem Arm.
»Die Möglichkeit hätte er gehabt, beide Male«, sagte Sampson.
»Das ist unser Mann«, stimmte Bree ihm zu.
»Glaube ich auch«, meinte Mahoney.
Mein Handy summte ein zweites, dann ein drittes und ein viertes Mal.
Entnervt holte ich es aus der Tasche und warf einen Blick auf das Display. Ich hatte zwei Nachrichten von Jannie und drei von Nana Mama bekommen. In allen stand das Gleiche: Ruf an! Sofort! Es ist wichtig!
Ich sagte: »Entschuldigt bitte.«
Dann ging ich ans andere Ende des Raumes und rief zu Hause an. Meine Großmutter nahm beim ersten Klingeln ab.
»Du sollst mir nur sagen, dass alles wieder gut wird«, stieß sie mit angespannter, bebender Stimme hervor.
»Was ist denn los, Nana?«
»Wahrscheinlich gar nichts, aber Ali müsste schon seit einer Stunde zu Hause sein. Er hat heute Morgen noch gesagt, dass er für seine Geographiearbeit lernen will. Wir haben es schon auf seinem Handy probiert, aber er geht nicht ran oder hat es nicht dabei oder hat wieder mal vergessen, es zu laden.«
Meine Magengrube fühlte sich mit einem Mal seltsam hohl an, aber ich sagte: »Habt ihr schon nachgesehen, ob sein Mountainbike noch da ist?«
»Jannie war im Schuppen. Es ist da.«
Mir wurde allmählich übel.
Da summte mein Handy, und mein Herz machte einen Sprung. »Er hat mir gerade eine Nachricht geschickt.«
»Oh, Gott sei Dank«, stieß Nana hervor.
Ich öffnete die Nachricht und spürte, wie meine Knie nachgaben.
Die Vergangenheit ist Gegenwart geworden, Cross. Komm und such deinen Sohn. – M