Er war Mitte vierzig, sportlich gebaut, mit blasser Haut und mehreren sichtbaren Gesichtsprellungen. Er trug ein olivgrünes, mit Sägespänen gesprenkeltes Arbeitshemd. Auf dem Schreibtisch neben seinem Ellbogen lag ein weißer Schutzhelm und daneben ein Werkzeuggürtel mit Zimmermannsausstattung.
Er hatte einen Stiernacken und einen kahlen, bleichen Schädel, dazu feine, blonde Wimpern und eisblaue, regungslose Augen. Ich hatte diesen Mann noch nie zuvor gesehen, aber trotzdem wusste ich genau, wer er war.
»M«, sagte ich. »Wo ist mein Sohn?«
M betrachtete mich mit diesen Augen, aus denen ein tiefes Sehnen nach Gewalt und etwas anderes sprach, etwas durch und durch Böses. »Tief unter der Erde. Wahrscheinlich haben die Käfer sich schon über ihn hergemacht.«
Meine allergrößte Angst traf mich wie ein Schlag in die Magengrube. Meine Knie wurden zu Pudding. Ali? Tot? »Nein«, murmelte ich. »Warum?«
M blieb stumm, neigte lediglich den Kopf ein wenig nach links und dann nach rechts und musterte mich dabei aufmerksam. Es kam mir vor, als würde er jedes Zucken, jede Woge des Schmerzes, die mich erfasst, genauestens registrieren. Je länger er mich anstarrte, desto heller wurden seine Augen. Schließlich ließ er sogar die Andeutung eines Lächelns sehen.
Ich begriff. Dieser Mann genoss das alles in vollen Zügen. Er war ein Sadist, und nach meiner Erfahrung wollten Sadisten mit ihrer Beute spielen. Das war ein Teil ihres Machtrausches.
Diese Erkenntnis machte mich stärker, und ich richtete mich auf: »Das ist eine Lüge.«
»Tatsächlich?«
»Ja.«
Er zuckte mit den Schultern. »Als ich Ali zurückgelassen habe, da war er bereits dem Tod geweiht. Es spielt eigentlich keine Rolle, wann er endgültig das Zeitliche segnet, genau so wenig wie bei Ihrer Großmutter oder Ihrer Frau oder Ihrer Tochter da draußen in Neds Strandhaus in Delaware. Für mich sind Sie, Cross, und Ihre Lieben bereits nichts weiter als eine bittersüße Erinnerung.«
Er weicht mir aus , dachte ich und wurde von neuer Hoffnung gepackt. Als M Ali verlassen hatte, da hatte er noch gelebt. Ich musste nur dafür sorgen, dass er weiterredete, um herauszufinden, wo das gewesen und wie lange es schon her war. »Wie lautet Ihr richtiger Name?«
»Kommt immer darauf an, wie ich mich gerade nennen will. Ich habe festgestellt, dass Namen letztendlich keine Bedeutung haben.«
Mein Blick fiel auf die dünnen Vorhänge hinter ihm, die sich im Wind und im Regen bauschten. Er musste vom Haus der Morses’ aus über das Gerüst geklettert sein.
M drehte sich um und machte das Fenster zu. Die Vorhänge erschlafften.
»Wollen Sie mich jetzt umbringen?«, fragte ich ihn.
»Ich sage es nur ungern noch mal, aber Sie sind eine einzige, große Enttäuschung. Es wird Zeit, das ich mich anderen, größeren Herausforderungen zuwende.«
»Wer sind Sie wirklich? Warum tun Sie das? Ich finde, der zum Tode Verurteilte hat ein Recht, das zu erfahren, bevor er stirbt.«
Er lächelte unverhohlen. »Wer ich wirklich bin? Warum ich das mache? Ich bin eine Vielzahl von Namen und Absichten, Cross. Aber die Welt braucht im Grunde genommen nur zu wissen, dass ich den besten Kriminologen des Planeten ausgestochen habe, den Sherlock Holmes unserer Zeit, und zwar auf seinem ureigensten Gebiet, immer und immer wieder.«
Ich zermarterte mir das Gehirn und musste an ein viele Jahre zurückliegendes Porträt im Washington Post Magazine denken, in dem der Autor ähnliche lächerliche Dinge über mich geschrieben hatte.
»Sie haben damals diesen bescheuerten Artikel gelesen?«, erwiderte ich.
»Und seither habe ich Sie, wenn ich ein bisschen Zeit übrig hatte, manipuliert. Ich habe Pläne geschmiedet und ausgeführt, habe Sie an der Nase herumgeführt. Der beste Kriminologe der Welt.« Er schnaubte verächtlich. »Wohl kaum.«
Trotz dieser herabsetzenden Worte erkannte ich, dass M – oder wie immer er heißen mochte – mir soeben eine ganze Menge über sich selbst und sein innerstes Wesen verraten hatte. Er hatte mir einen Blick auf die Risse in seiner Fassade gestattet und mir vielleicht sogar das Werkzeug in die Hand gegeben, das ich brauchte, um diese Risse größer und tiefer zu machen.
»Sie haben gewonnen«, sagte ich. »Es stimmt, Sie haben mich besiegt. Wie immer Sie heißen mögen, wie immer Ihre Motive lauten mögen, ich schätze, Sie sind jetzt der größte Verbrecher der Welt.«
Er ließ ein tiefes, kehliges Summen hören und betrachtete mich mit starrem Blick
»Klingt logisch, oder nicht?«, fuhr ich fort. »Sie haben den besten Kriminologen ausgestochen, also sind Sie jetzt die Nummer eins.«
Nach einem kurzen Schweigen sagte er: »Ich schätze schon. Klingt logisch.«
»Die Leute werden noch Jahre lang über Sie sprechen.«
M summte erneut.
»Genau wie über die anderen Unsterblichen«, machte ich weiter. »John Wilkes Booth. Ted Bundy. Lee Harvey Oswald. John Wayne Gacy. Kyle Craig.«
M stieß ein gackerndes Geräusch aus und sagte: »Ich bin größer als sie alle zusammen.«
»Da könnten Sie recht haben. Man wird Bücher über Ihr Leben verfassen. Vielleicht sogar einen Kinofilm. Aber das alles erst lange nach Ihrem Tod.«
M sagte kein Wort und ließ mich keine Sekunde lang aus den Augen.
»Wussten Sie, dass es einen Ort gibt, wo Leute wie Sie beerdigt werden?«
»Sie haben es nicht kapiert, Cross. Es gibt niemanden wie mich.«
»Doch, doch. Sadisten. Serienkiller. Attentäter. Gewalttätige, bösartige Kriminelle, deren Verbrechen von solcher Widerwärtigkeit sind, dass ihre eigenen Angehörigen sich weigern, ihnen eine normale Bestattung zu gewähren. Dass Friedhöfe die Annahme des Leichnams verweigern, weil sie nicht wollen, dass ihr geheiligter Ort dadurch entweiht wird. Darum landen Leute wie Sie und Ihre Kollegen in einer abgelegenen Ecke des Marinestützpunktes in Quantico, wo sie unter anonymen Grabsteinen verscharrt werden. Ich dachte, es würde Sie vielleicht interessieren, wo Sie schlussendlich enden werden.«
Während dieser Worte sah ich, wie sein Blick sich von teilnahmslos zu seelenlos wandelte.
»Schon viele andere haben den Fehler begangen und versucht, in meinen Kopf einzudringen«, sagte M und hob die Pistole. »Sie hatten alle keine Vorstellung davon, wozu ich fähig bin, genauso wenig wie Sie.«
Todesangst ballte sich in meiner Magengrube zusammen und breitete sich von dort in meinem ganzen Körper aus.
Ich hob beide Hände und flehte: »Bitte, nicht schießen, M …«
»Klappe halten.« Jede Gefühlsregung war aus seiner Stimme verschwunden. Asozial und amoralisch durch und durch richtete er die Mündung seiner Waffe auf mein Gesicht. »Alex Cross, willkommen im Reich der Toten.«