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Schon mehrfach habe ich Berichte von Menschen gehört, die dem sicheren Tod gegenübergestanden haben. Sie alle hatten das Gefühl, als wäre die Zeit in diesem Moment mit einem Mal erheblich langsamer vergangen.

Neuropsychologen wissen jedoch, dass die Zeit in diesen Augenblicken keineswegs langsamer vergeht.

Vielmehr schüttet das Gehirn in dem Moment, wo es seine eigene Auslöschung befürchten muss, bestimmte Stoffe aus, mit denen selten genutzte Gehirnregionen aktiviert werden. Unser Denken erfährt mit einem Mal eine gewaltige Leistungsexplosion und kann Informationen Hunderte Male schneller als gewöhnlich verarbeiten.

Das ist der Grund, weshalb ein Mensch, der dem Tod gegenüber steht, das Gefühl hat, alles um ihn herum würde in Zeitlupe geschehen.

In dem Sekundenbruchteil zwischen Ms letzten Worten und dem Moment, wo sein Zeigefinger den Abzug betätigte, erkannte ich jede kleinste Nuance im Gesicht dieses Mannes, nahm ich den fauligen Gestank wahr, den er abgab, hörte ich Glas klirren und Knochen brechen, bevor Blut aus seiner Brust hervorquoll.

M krümmte sich zusammen und drückte gleichzeitig ab.

Seine Kugel hätte mir um ein Haar die obere Kante des rechten Ohrs abrasiert und bohrte sich in die Wand hinter mir.

Sein Unterkörper gab nach. Seine linke Hand landete krachend auf dem Schreibtisch, und er versuchte, erneut auf mich zu zielen.

Ich hatte jedoch bereits zwei Schritte auf ihn zugemacht und war über den Schreibtisch gehechtet. Mit der Linken schlug ich die Hand, die die Pistole hielt, beiseite. Anschließend rammte ich ihm meinen rechten Unterarm und mein gesamtes Gewicht gegen die Brust.

Wir prallten gegen ein Bücherbord und landeten auf dem Fußboden. Sofort hatte ich die Fäuste wieder auf Ellbogenhöhe.

Doch M rührte sich nicht.

Einen herzzerreißenden Augenblick lang befürchtete ich, ich wäre zu weit gegangen und hätte ihn getötet, bevor er mir sagen konnte, wo mein Junge war.

Dann sah ich, wie seine Brust sich hob und senkte, während er mühsam nach Luft schnappte. Immer noch quoll Blut aus seiner Wunde.

»Ausgezeichneter Schuss, John«, stieß ich keuchend hervor. »Er lebt noch. Wir brauchen einen Notarztwagen.«

Ich warf seine Pistole beiseite, riss mir das Sweatshirt vom Leib und drückte es auf die Austrittswunde. M schlug die Augen zur Hälfte auf, hustete und röchelte, versuchte krampfhaft, Luft zu holen.

»Nicht bewegen«, sagte ich. »Ein Notarzt ist unterwegs. Sie haben das Recht zu schweigen. Sie haben das Recht auf einen Rechtsanwalt.«

Ich machte ihn auch mit seinen übrigen Rechten bekannt. Und Ms Augen wurden größer. Ich glaubte, Angst darin zu erkennen.

»Ich kann die Beine nicht bewegen«, flüsterte er, als ich fertig war. »Ich kann nichts spüren.«

Sirenen kamen näher.

»Wo ist mein Sohn?«

Er machte die Augen zu.

»Es ist vorbei, M. Wo ist mein Sohn?«

Er gab keine Antwort.

Ich hätte ihm am liebsten die Faust ins Gesicht gerammt, aber jetzt hörte ich auf der Treppe die ersten Stiefeltritte.

Zitternd richtete ich mich auf. Mir war speiübel. Ned Mahoney kam als Erster zur Tür herein. Bree war dicht hinter ihm.

»Alles gut bei dir?«, wollte Mahoney wissen.

»Besser als bei ihm«, erwiderte ich und ging auf Bree zu, um sie in den Arm zu nehmen.

Sie hatte Tränen in den Augen, schob mich aber von sich weg. »Ich liebe dich, Baby, aber du bist voller Blut.«

»Das ist seines«, sagte ich, während die Notärzte das kleine Arbeitszimmer betraten. Es wurde allmählich zu voll hier. »Machen wir ihnen mal Platz.«

Wir gingen die Treppe hinunter. Dann standen wir da und sahen uns an.

»Ich will nie wieder mit ansehen, wie du den Köder spielst«, sagte Bree.

»Und ich trinke nie wieder im Leben einen Tropfen Whiskey.«