105 

Um 4.30 Uhr fingen unsere Handys gleichzeitig an zu summen und zu klingeln.

Ich warf einen Blick auf die Nachricht, die Mahoney geschickt hatte, und stieß einen lauten Fluch aus. »Das kann doch nicht wahr sein!«

»Verdammt noch mal«, brüllte Bree.

Innerhalb von Sekunden waren wir angezogen und trampelten die Treppe hinab.

»Was ist denn los?«, rief Nana Mama uns hinterher.

»Geh wieder ins Bett.«

»Ihr habt ja kaum geschlafen!«

Ohne zu antworten, rannten wir nach draußen zum Auto. Ich setzte das Blinklicht aufs Dach, und wir fuhren los. Ich saß am Steuer, während Bree eine Anweisung nach der nächsten in das Funkgerät bellte. Von Sirenengeheul umgeben rasten wir durch die menschenleere Stadt. Sechs Minuten später standen wir vor dem George Washington University Hospital.

Sampson erwartete uns im Flur vor der Intensivstation. »Er ist bewaffnet und trägt eine Polizeiuniform.«

»Was?«, stieß ich hervor, während Bree die Information weitergab. »Wie?«

»Schau es dir an.«

Wir betraten das Zimmer, in dem M gelegen hatte.

Ivan Marky, der junge Beamte, der schon gestern Abend, als wir gegangen waren, Wachdienst gehabt hatte, lag nackt und mit aufgeschlitzter Kehle im Bett.

Sampson sagte. »M hat seine Sachen angezogen, ist ins Stationszimmer gegangen, hat den beiden Nachtschwestern die Dienstpistole unter die Nase gehalten und sie gezwungen, ihm ihren gesamten Vorrat an Betäubungsmitteln und Antibiotika zu geben. Dann hat er ihnen die Handys abgenommen, sie in einen Wandschrank gesperrt und ist abgehauen.«

»Wie lange ist das her?«

»Vierzig Minuten.«

»Vierzig Minuten«, stieß Bree entsetzt hervor. »Willst du mich verarschen?«

Ich machte die Augen zu und hatte M vor mir, wie er in den Sekunden nach Sampsons Schuss ausgesehen hatte, wie er offensichtlich Angst gehabt und gesagt hatte, dass er seine Beine nicht mehr spüren konnte. Und hatte der Arzt nicht gesagt, dass seine Wirbelsäule angebrochen und geprellt sei?

»Ich kann überhaupt nicht begreifen, wie er stehen oder gar gehen kann«, sagte ich. »Aber wenn ihm irgendjemand geholfen hat, dann ist er schon längst außerhalb unserer Absperrungen. Dann ist er vielleicht nicht einmal mehr in der Stadt.«

»In seinem Zustand kann er unmöglich lange durchhalten«, meinte Bree.

»Aber in diesem Zustand ist er aufgestanden, hat sich die ganzen Schläuche gezogen und dazu noch einen Polizisten getötet!«

»Wir kriegen ihn, Alex.«

»Und wenn er vorher irgendwie zu Ali kommt?«

»Alex, so dürfen wir nicht denken …«

»Wie sollen wir denn sonst denken, Bree? Er hat Ali offensichtlich auf dem Ameisenhügel weggeschafft, bevor er bei uns zu Hause eingebrochen ist. Es ist doch klar, dass er jetzt zu dem neuen Versteck will. Und nur Gott weiß, was er dann vorhat«, sagte ich. Ich hielt inne und schüttelte voller Abscheu den Kopf. »›Hör auf dein Herz, Mr. Psychokiller.‹ Wie bescheuert kann man eigentlich sein?«

»Du hast versucht, ihn auf dem einzigen Weg zu erreichen, den du für möglich gehalten hast. Das war brillant.«

»Und er hat es genau so brillant gegen uns gewendet.«

»Fahr nach Hause. Ruh dich aus. Danach kannst du wieder klarer denken.«

»Du hast ja noch weniger geschlafen als ich.«

»Aber aus irgendeinem Grund habe ich den klareren Kopf. Ich spüre ganz deutlich, dass er nach Hause kommen wird. Also schlaf ein paar Stunden und ruf mich dann wieder an. Aber in diesem Zustand bist du weder mir noch Ali eine Hilfe.«

Ich gab keine Antwort, sagte kein Wort zu Sampson, sondern drehte mich einfach nur um und ging. Im Fahrstuhl, im Taxi und beim Betreten des Hauses pendelten meine Gefühle ständig zwischen Entrüstung, Entmutigung und Niedergeschlagenheit hin und her.

Ich hatte versucht, M wieder mit seiner Menschlichkeit in Kontakt zu bringen. Und ich hatte fürchterlich versagt.

Ich ließ mir all die anderen Dinge durch den Kopf gehen, die er dort im Krankenhaus zu mir gesagt hatte. War er wirklich bei Pateneltern aufgewachsen? Hatte er wirklich einen Mann mit einer Kette erschlagen, weil der seine Schwester vergewaltigt und ermordet hatte? Oder hatte er sich das alles nur spontan ausgedacht?

Als ich unsere Küche betrat und das Licht einschaltete, stand die Wanduhr auf fünf Minuten nach sechs. Ich bekam seit Wochen zu wenig Schlaf, aber trotzdem war ich so aufgedreht, dass an Schlaf nicht einmal zu denken war. Wenn ich mich jetzt hinlegte, dann würde ich sowieso nur ständig an Ali denken.

Was er wohl gerade durchmachte? Ob er leiden musste? Ich machte die Augen zu. Bei der Vorstellung, dass ich meinen Jungen jetzt, wo M uns entkommen war, irgendwann mit einer Seidenkrawatte um den Hals oder als enthaupteten Torso auffinden würde, empfand ich eine grauenhafte Angst.

Mein Blick fiel auf die Kaffeemaschine und dann auf den Schrank, in dem wir den Schnaps aufbewahrten. Beim bloßen Gedanken an Whiskey wurde mir schon schlecht, aber ich wusste auch, dass der Alkohol mich an den Ort meiner Sehnsucht bringen würde, in die Dunkelheit, wo es keine Vergangenheit, keine Zukunft, keine Gegenwart, kein …

Es klingelte an der Tür.

Um 6.10 Uhr?

Es klingelte erneut, und ich hastete in den Flur, möglichst leise, um Nana und Jannie nicht aufzuwecken. Mir war schwindelig, und ich war ein bisschen orientierungslos, als würde jetzt zu all der Erschöpfung auch noch eine Migräne kommen.

Ich machte die Tür auf. Vor mir stand Dwight Rivers, schwer atmend und auf Krücken gestützt.

»Mr. Rivers?«, sagte ich.

»Ich bin direkt zu Ihnen gekommen, Dr. Cross«, stieß er hervor. »Ich dachte, dass Sie das als Erster sehen sollten.«

»Was denn?«, wollte ich wissen, während er schon wieder die Eingangstreppe hinunterging.

Rivers gab keine Antwort. Auf dem Bürgersteig angelangt humpelte er bis zu einem Pick-up mit Wohnwagenaufsatz. Dann machte er die Hecktür der Wohnkabine auf und bedeutete mir mit einer Kopfbewegung, einen Blick ins Innere zu werfen.

Die aufgehende Sonne blendete mich, sodass ich die Augen zusammenkneifen musste, um in der Düsternis überhaupt etwas zu erkennen. Zunächst war mir nicht klar, was Rivers mir hier zeigen wollte.

Aber dann nahm ich eine Bewegung in der unteren Koje an der Rückwand wahr.

»Wer ist das?«, sagte eine leise, zitternde, verängstigte Frauenstimme. »Wer ist da?«

Jetzt ließ sich ein noch schwächeres Stimmchen aus der oberen Koje vernehmen. »Das ist mein Dad, Mrs. J.«