Diane Jenkins berichtete, dass sich am Tag ihrer Entführung ein Mann auf der Rückbank ihres Autos versteckt hatte. Er hatte ihr, nachdem sie eingestiegen war, die behandschuhte Hand über den Mund gelegt. Das Letzte, woran sie sich erinnern konnte, war das tödliche Entsetzen, das sie empfunden hatte, und dann das Piksen einer Nadel in ihrem Hals.
Vor dem Ameisenhügel war sie an unzähligen anderen Orten gewesen, aber sie konnte sich kaum an irgendwelche Einzelheiten oder an die Zeiträume, die sie dort verbracht hatte, erinnern. Nur das Fahrzeug, mit dem er sie von einem Ort zum anderen befördert hatte, war ihr noch einigermaßen deutlich im Gedächtnis.
Irgendwann war Mrs. Jenkins dann in der Werkstatt im Inneren von Rivers’ Bunker aufgewacht. Man hatte ihr die Hände mit einer Plastikfessel auf dem Bauch zusammengebunden und die Türen von außen verriegelt. Sie hatte Wasser und Nahrung vorgefunden, aber keinen Ausweg. Ihr Ehe- und ihr Verlobungsring hatten gefehlt.
Sie berichtete, dass sie eine ganze Weile laut geschrien hatte, ohne dass jemand gekommen war. Vielleicht ein, zwei Tage später, so lange jedenfalls, dass die Wirkung des Betäubungsmittels endgültig verflogen war, war sie aufgewacht und hatte mitbekommen, wie M den betäubten, gefesselten und bewusstlosen Ali in die Werkstatt geschleppt hatte. Sie hatte M angefleht, sie gehen zu lassen, doch er hatte sie nicht beachtet und sie beide eingeschlossen.
»Ich wusste überhaupt nicht, was ich machen sollte«, sagte sie. »Im Gegensatz zu Ali.«
Ali berichtete, dass er sich eigentlich nach der Schule mit Captain Abrahamsen verabredet hatte. Doch dann war M in einem großen SUV vorgefahren. Er hatte ein Trikot des Fahrradteams der US-Streitkräfte getragen und behauptet, er sei ein Mannschaftskamerad von Abrahamsen. Der Captain habe angeblich dringend zu einer Sitzung gemusst und hätte ihn stattdessen geschickt.
»Ich weiß, dass das doof war, aber er hat dasselbe Trikot getragen wie Captain Abrahamsen, also bin ich eingestiegen. Und als ich zum Fenster rausgeschaut habe, weil ich meine Freunde sehen wollte, hat er mir eine Spritze ins Bein gegeben. Ab da kann ich mich an nichts mehr erinnern, erst wieder an dieses Zimmer, wo er uns eingesperrt hat.«
Ali erzählte weiter, dass er zunächst einmal große Angst gehabt habe. Später sei er dann verwirrt und schließlich richtig sauer gewesen, weil er sich von diesen Textnachrichten hatte täuschen lassen. »Aber danach habe ich nur noch darüber nachgedacht, wie wir entkommen können.«
»Das stimmt«, pflichtete Mrs. Jenkins ihm bei. »Er war geradezu … besessen davon.«
»Kommt mir irgendwie bekannt vor«, sagte ich und zwinkerte Ali zu. Er fuhr mit seinem Bericht fort.
Trotz der gefesselten Hände hatte Ali sämtliche Schränke und Schubladen in der Werkstatt durchsucht und dort alles Mögliche gefunden, unter anderem einen Hammer, einen Meißel, eine Akkubohrmaschine mit Bohrern, drei Stirnlampen und zwei Ersatzakkus, eine Bügelsäge mit zwei Ersatzsägeblättern, eine alte, aber funktionierende Armbanduhr und einen neuen, noch verpackten Schweißbrenner mit einer kleinen Flasche Acetylen.
Am liebsten hätte er sich sofort den Schweißbrenner geschnappt und die Stahltür bearbeitet. Die Bedienungsanleitung lag in der Schachtel. Wie schwierig konnte das schon sein? Aber Mrs. Jenkins hatte darauf hingewiesen, dass die Gasflasche sehr klein war. Ob das wirklich reichen würde, um die Stahltür plattzumachen?
Darum hatten sie beschlossen, mithilfe der anderen Werkzeuge zunächst einmal die Angeln und den Schließmechanismus zu schwächen und mit dem Schneidbrenner dann den Schluss zu erledigen. Ali kontrollierte mit der Armbanduhr die Zeiten zwischen Ms Besuchen und stellte fest, dass ihr Entführer ungefähr alle vierundzwanzig Stunden nach ihnen sah, immer zwischen zwei und drei Uhr nachts.
Sie hatten die Werkzeuge versteckt, und dann hatte Ali ihn gebeten, ihnen die Handfesseln abzunehmen, weil ihre Haut schon ganz aufgescheuert war. M hatte seine Bitte kommentarlos erfüllt und ihnen noch eine antibiotische Salbe für die wunden Stellen gegeben. Dann war er gegangen und hatte die Tür, die zum Flur und zur Leiter führte, hinter sich abgeschlossen.
Doch bevor Ali und Diane Jenkins mit ihrem Vorhaben anfangen konnten, wurde ihnen schwummerig. Sie kamen zu der Überzeugung, dass M ihnen eine Art Betäubungsmittel ins Wasser gemischt haben musste. Darum beschlossen sie, so wenig wie möglich Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Trotzdem kamen sie mit der Arbeit nur langsam voran.
Den Anfang machten sie mit der mittleren Türangel und der Bügelsäge. Dazu suchten sie sich eine möglichst unauffällige Stelle aus.
»Wir haben immer darauf geachtet, dass alles wieder sauber war, bevor M zurückgekommen ist«, sagte Ali. »Aber trotzdem hatten wir jedes Mal Angst, dass er vielleicht sehen würde, dass wir die Tür angesägt haben.«
Doch M merkte nichts, und so wandten sie sich zwei Tage später, nachdem von der mittleren Türangel nur noch fünf Zentimeter übrig waren, der unteren zu.
Das dauerte wieder zwei Tage und dann weiter anderthalb, bis sie die obere Türangel auf siebeneinhalb Zentimeter reduziert hatten. Am sechsten Morgen warteten sie zur üblichen Zeit auf Ms Eintreffen, doch er ließ sich erst am siebten Tag gegen 1.00 Uhr wieder blicken.
Dieses Mal wirkte er nervös und unkonzentriert. Er warf ihnen ein paar Konservendosen mit Nahrung und ein paar Wasserflaschen zu und verschwand wieder – ungefähr zwei Stunden, bevor er aus dem Haus meines Nachbarn und über das Baugerüst in meine Dachkammer geklettert war.
Im Rückblick waren Ali und Mrs. Jenkins sich einig, dass sie während dieser zweiundzwanzig Stunden, die sie mit Warten auf Ms Rückkehr verbracht hatten, wahrscheinlich hätten entkommen können. Aber sie hatten mit dem letzten Schritt erst anfangen wollen, bis sie sich sicher sein konnten, dass sie mindestens einen ganzen Tag zur Verfügung hatten, um die Tür niederzureißen und sich dann so weit wie möglich vom Ort ihrer Gefangenschaft zu entfernen.