110 

Elf Wochen später

Als Jannie mit federnden Schritten aus dem Athletentunnel kam und das Stadion der University of North Carolina in Chapel Hill betrat, da wirkte sie wieder ganz wie früher.

Wir waren alle gekommen, sogar mein ältester Sohn Damon, der das College besuchte und gerade Sommerferien hatte. Wir sprangen geschlossen auf und feuerten sie mit Klatschen und Pfeifen an.

Auf Alis Kopf war immer noch eine lange, dunkelviolette Narbe zu sehen, aber auch er schien, abgesehen von ein paar Schlafstörungen und gelegentlichen Stimmungsschwankungen, wieder ganz der Alte zu sein. Auf den Tribünenplätzen im Schatten ging es ziemlich eng zu, aber das machte uns nichts aus. Wir waren alle beisammen, um Jannie zu unterstützen. Es war der zweite Tag eines Einladungswettkampfes für Schülerinnen und Schüler, veranstaltet vom US-amerikanischen Leichtathletikverband USATF.

Ted McDonald, der unabhängige Trainer, der als Erster auf Jannie aufmerksam geworden war, hatte diese Serie von vier Wettkämpfen mit der Football Scouting Combine verglichen, einer einwöchigen Veranstaltung, auf der Nachwuchsspieler vor den Augen von Scouts der Profiteams ihr Können demonstrieren können. Nur dass die Beobachter hier Trainer aus der ersten Division der National Collegiate Athletic Association waren, und zwar mindestens fünfzehn, wenn ich richtig gezählt hatte.

Etliche von ihnen waren schon bei uns zu Hause gewesen. Die meisten anderen hatten im Lauf des vergangenen Jahres entweder telefonisch oder schriftlich mit uns Kontakt aufgenommen. Obwohl die Coaches im Prinzip alle rund zweihundert Sportlerinnen und Sportler in den Blick nahmen, war es kein Geheimnis, dass besonders viele Augen auf Jannie gerichtet waren.

Bis jetzt war sie mit dem Druck recht gut klargekommen. Und es war hilfreich, dass Coach McDonald extra aus Texas eingeflogen war.

Er war dabei, als sie sich für das Finale über vierhundert Meter – ihre beste Disziplin – qualifiziert und das Finale über achthundert nur um einen Wimpernschlag verpasst hatte. Sie hatte auch zum allerersten Mal an einem Speerwurfwettbewerb teilgenommen und war achtzehnte von fünfundzwanzig geworden, was, alles in allem betrachtet, gar nicht so schlecht war.

Jannie joggte an den College-Trainern vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen, schickte uns ein paar Luftküsschen zu und grinste, als hätte sie noch nie so viel Spaß gehabt wie jetzt.

»Es ist schön, dass sie wieder so locker ist«, sagte Nana Mama. »Und so kräftig.«

»Dank ausreichend Schlaf, den Vitaminen, deinem guten Essen und dem Hanteltraining.«

»Und Coach McDonald«, ergänzte ich. Gerade sah ich den großen, schlanken Mann mit den rotblonden Haaren auf dem Rasen stehen, wo er sich mit ein paar Offiziellen unterhielt. »Ich habe keine Ahnung, wie wir all das ohne ihn geschafft hätten.«

»Ich mag ihn auch«, sagte Bree und stand auf. »Sehr sogar. Er sorgt dafür, dass sie auf dem Boden bleibt.«

Sie ging uns etwas zu trinken holen. Damon und Ali schlenderten zum Zaun hinunter, um vor dem Weitsprung noch ein paar Worte mit Jannie zu wechseln.

Meine Großmutter vertiefte sich in ihr Taschenbuch, und ich saß allein mit meinen Gedanken da.

Trotz einer aufwendigen Suche in der gesamten Umgebung des Krankenhauses und einer landesweiten Fahndung mit Fotos und Videoaufnahmen war der Mann, der sich M nannte, nicht wieder aufgetaucht.

Allerdings wussten wir jetzt sehr viel mehr über ihn als zuvor. Nachdem wir seine DNA mit den riesigen Datenbanken von FBI und Europol abgeglichen hatten, hatten wir zu unserem großen Erstaunen sechsundzwanzig Treffer von sechsundzwanzig verschiedenen Mordschauplätzen auf der ganzen Welt bekommen.

M war eindeutig in der verwüsteten Hütte in dem Fischer-Camp gewesen. Im Haus der Richardsons hatte man ebenso Hautzellen von ihm entdeckt wie an Katrina Nixon.

Auch an Bord der Jacht der Sexsklavenhändler sowie in der Wohnung von Detective Ron Dallas hatte die Spurensicherung seine DNA sichergestellt.

Doch ohne Fingerabdrücke oder andere belastbare Informationen zu seiner Person war es, als würde der Kerl nicht existieren.

Es wäre nur allzu verständlich gewesen, wenn Ali durch die Entführungserfahrung traumatisiert gewesen wäre. Doch anstatt sich durch die Frage, warum M ausgerechnet ihn als Opfer ausgesucht hatte, verwirren zu lassen, hatte er sich mit Feuereifer in seine nächsten Obsessionen vertieft: die Galapagosinseln und Computerprogrammierung. Außerdem fuhr er weiter gerne Mountainbike und pflegte seine Freundschaft mit Captain Abrahamsen, der überglücklich war, dass Ali das Ganze so unbeschadet überstanden hatte.

Auch sehr schön war es mit anzusehen, wie Martin Forbes als freier Mann den Gerichtssaal verließ, fest entschlossen, sich sorgfältig zu überlegen, wie er den Rest seiner Tage gestalten wollte.

»Du hast mir das Leben gerettet, Cross«, sagte er, bevor er mich umarmte. »Das werde ich dir nie vergessen.«

Was Bree und ich nicht vergessen konnten, war, dass M eine Bedrohung für unsere Familie darstellte. Wir ließen Kameras in und um das Haus installieren und bestanden darauf, dass Jannie, Nana Mama und Ali nie allein unterwegs waren.

Bei großen öffentlichen Veranstaltungen wie dem Leichtathletikwettkampf sahen Bree und ich uns ununterbrochen um. Aber bis jetzt hatten wir auf den Tribünen niemanden gesehen, der M irgendwie ähnlich sah.

Dann begann der Weitsprungwettbewerb. Mit den ersten Versuchen landete Jannie irgendwo im Mittelfeld, konnte sich aber für das Finale der letzten acht qualifizieren und erreichte letztendlich den siebten Platz, fünfzig Zentimeter hinter der Siegerin. Kopfschüttelnd und mit hängenden Schultern verließ sie nach dem letzten Versuch die Sprunggrube.

»Das kann ich besser«, sagte sie anschließend zu mir.

»Ich weiß.«

»Ich hätte Coach Mac gerne etwas geboten.«

»Dann biete ihm was auf den vierhundert.«

Sofort war die federnde Leichtigkeit in ihren Schritten wieder zu sehen, und dabei blieb es auch den ganzen Tag über.

Im Vierhundert-Meter-Finale startete Jannie auf Bahn fünf, lief auf der Gegengeraden locker hinter den drei führenden Läuferinnen her und nahm die Schlusskurve in Angriff.

Als noch rund hundertzwanzig Meter vor ihr lagen, schien meine Tochter trotz all der Verletzungen und Krankheiten, mit denen sie in den vergangenen zwei Jahren zu kämpfen gehabt hatte, in einen Gang zu schalten, den wir schon verloren geglaubt hatten. Ihre Schritte wurden zu Sprüngen.

Unser Jubel kannte keine Grenzen, während sie den Abstand verkürzte, fünfzig Meter vor dem Ziel die Führenden überholte und mit einer Dreiviertelsekunde Vorsprung das Rennen für sich entschied.

»Sie ist wieder da!«, brüllte Ali und hüpfte auf und ab. »Jannie ist wieder da!«

»Habt ihr das gesehen?«, schwärmte Damon. »Sie hat die anderen am Schluss einfach stehen lassen.«

»Wir haben es gesehen«, rief Nana Mama. »Und die ganzen Trainer auch.«

Sie hatte recht. Die meisten Coaches waren aufgesprungen und schauten auf ihre Stoppuhren. Manche grinsten, andere schüttelten staunend den Kopf. Coach McDonald blickte vom Innenraum zu uns herüber, grinste auch und reckte die Fäuste in die Luft.

Jannie stand inzwischen auf der Laufbahn. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt, ein überglückliches Strahlen im Gesicht und streckte die Handflächen nach oben.