Der Tod von Karen Riemann löste weder Bestürzung noch Genugtuung aus. Er geschah von der Öffentlichkeit unbemerkt, und ihr Mörder empfand weder das eine noch das andere.
Am Tag darauf, dem 23. September, drehte der Wind und sorgte für die Entdeckung ihrer Leiche.
Er kam aus Südost, zum Teil also aus dem benachbarten Spanien. Und da die Geschichte die Portugiesen gelehrt hatte, alles, was von dort kam, mit einer gewissen Vorsicht zu genießen, zogen sie ein wenig die Köpfe ein und warteten ab. Die kleinen Fischerboote, verwitterte Nussschalen, liefen nicht aus. Die Fischer setzten sich in die Cafés in Meeresnähe und tauschten bei einer kräftigen Bica Neuigkeiten aus oder sezierten genüsslich die Spielzüge des gestrigen Matches zwischen Benfica Lissabon und dem FC Porto.
Themen wie Nachbarn, Schwangerschaften, Hochzeiten und Todesfälle überließen sie meist ihren Frauen, über Fußball konnten sie aber nie genug reden. Dabei drehten sie ihre filterlosen Zigaretten und sogen den Rauch so tief ein, dass man den Stich in der Lunge ahnte.
Die gut vier und fünf Meter hohen Atlantikwellen, die der Wind Richtung Ufer vor sich hertrieb, brachen wegen der Ebbe besonders früh. Ihr dumpfes, massives Dröhnen klang, als würden schwere Holzstämme mit großer Wucht in den Boden gerammt. Die Erde vibrierte. Dieses Phänomen trat nur sehr selten auf an der Ria Formosa, einem aus mehreren vorgelagerten Inseln bestehenden Naturschutzgebiet, das sich schützend vor die Küste gelegt hatte, wodurch eine kilometerlange Lagunenwelt entstanden war.
Der Wind jedenfalls – wie die Fischer mutmaßten: der verflixte spanische Anteil daran – brachte heftige Regenschauer mit sich. Aber es gab auch Menschen in der Gegend, die das nicht melancholisch stimmte, sondern die sich darüber freuten. Genau genommen: drei.
Der Erste war Leander Lost. Er stand auf der Veranda seines neuen Zuhauses und lauschte dem regelmäßigen Trommeln auf dem Vordach. Das Geräusch wirkte ungemein beruhigend auf ihn. Und das war nicht nur so eine Vermutung, sondern eine Tatsache: Er hatte sich selbstverständlich längst durch das Messen seiner Pulsfrequenz von dieser Kausalität überzeugt.
Es fühlte sich an wie zwei Gläser Vinho verde, jener sanft moussierende junge Weißwein, der einem nicht gleich zu Kopf stieg, sondern entspannend wirkte. Und Entspannung konnte Lost dringend gebrauchen. Seit zwei Wochen renovierten Soraia und er in jeder freien Minute die Villa Canto das Baleias.
Wobei »Villa« ein Begriff war, dem man in dieser Gegend von Portugal misstrauen musste, wie er festgestellt hatte. Selbst eine Ruine mit drei Brettern als Dach wurde mit dieser Bezeichnung geadelt. Das kleine Anwesen, an das sie ihr Herz verloren hatten, Soraia und er, war zwar keine Ruine, aber es war sichtlich in die Jahre gekommen. Und doch war es wunderschön. Und die Lage erwie sich als exzellent: Das Haupthaus war etwas kleiner als die Villa Elias, wo Leander sein erstes Zuhause in Fuseta gefunden hatte, aber der Grundriss war praktischer, da er über keine Durchgangszimmer verfügte. Und die Lage war exzellent: am Rand Fusetas in zweiter Uferlinie, idyllisch ruhig und doch nahe genug am Ort, um alles Notwendige gut zu Fuß erreichen zu können.
In den letzten Wochen hatten sie das Kleinod mit der Hilfe von Freunden und Bekannten und von Handwerkern, die ihnen zu Losts Verwunderung allesamt unbezahlt halfen, renoviert. Als er fragte, woher die Leute kamen, sagte Soraia bloß: »Es sind Freunde meines Vaters.«
Der Umzug war erledigt, die Kartons waren schon beinahe vollständig ausgepackt und der Inhalt fein säuberlich eingeräumt – Leander hatte in wenigen Tagen einen exakten Plan entworfen, wo was unterzubringen war. Welches Zimmer, welche Kommode, welche Schublade. Er benötigte Ordnung und Vorhersehbarkeit in seinem Privatleben. Lud die Nachbarin oder ein Bekannter sie spontan zum Essen oder zu einer Bootsfahrt ein, verunsicherte ihn die Störung seiner festen Abläufe nachhaltig. Es verursachte ein Gefühl der Lähmung, das erst allmählich wieder verschwand.
Regeln gaben ihm Sicherheit. Termine bildeten verlässliche Bojen in einem Ozean, in dem die Strömung ständig wechseln konnte und nie vorhersehbar war, wohin sie einen trieb.
Alleine zu leben bedeutete, leichter Ordnung halten zu können. Deshalb war es für Lost eine echte Herausforderung gewesen, als Soraia zu ihm in die Villa Elias zog, denn mit ihrer Anwesenheit veränderte sich auch die Ordnung im Haus. Da standen plötzlich Schuhe, die nicht in einer Linie angeordnet waren, Bücher, die nach der Lektüre nicht an ihren angestammten Platz zurückgestellt oder nicht korrekt einsortiert wurden (Alphabet, Erscheinungsjahr) und vieles mehr.
»Ich bin mir sicher, Sie würden trotzdem für Soraia durch die Sahara laufen«, hatte sein Kollege Sub-Inspektor Carlos Esteves in diesem Zusammenhang gesagt. Was die Frage aufwarf, weshalb er Grund dazu haben sollte. Ob es um die kürzeste Route (1.500 Kilometer) oder die längste (5.000 Kilometer) ging. Was er eigentlich in der Sahara zu suchen hatte, und ob es diese spezielle Wüste sein musste oder es auch die Wüste Gobi tat oder auch eine Eiswüste (war eine hohe Temperatur Teil dieses seltsamen Gleichnisses)?
Der Vergleich sollte wohl etwas Nettes veranschaulichen – das entnahm er Senhor Esteves’ Mimik –, aber er ergab unterm Strich keinen Sinn. Trotzdem hätte er diese Entbehrung sicherlich für Soraia auf sich genommen, wenn es erforderlich gewesen wäre. Zum Glück war das momentan nicht der Fall.
Und trotzdem war er froh, darauf gedrängt zu haben, diesen Schritt zu tun und sich gemeinsam ein eigenes Zuhause zu schaffen. Wie sehr Soraia den Ort mochte, hatte er schon gemerkt, als sie die Villa zum ersten Mal besichtigten. Kaum war die Schwelle der Eingangstür überschritten, strahlten ihre Augen, sie lächelte und ihre Grübchen traten hervor, für die Leander ein besonderes Faible hegte.
Nun trat sie zu ihm auf die Veranda und legte den Arm um seine Hüfte. Und genau in diesem Moment schwebte ein Dutzend Flamingos über die Ria Formosa und landete keine zweihundert Meter entfernt in einer der Salinen, in der sich das Meerwasser zu Tümpeln staute. Dort staksten die Vögel ein paar Meter auf und ab, um zum Stillstand zu kommen, ein Bein einzuziehen und in dem anderen ihr Gelenk einrasten zu lassen. Die Ruhe war perfekt, das Trommeln des Regens auch.
Lost hätte hier die nächsten 400 Jahre so stehen können und schauen und hören, ohne dass ihm langweilig geworden wäre – und über die Absurdität musste er lächeln. Denn statistisch betrachtet blieben ihm ja lediglich 41.
Die anderen beiden, die sich über den Regen freuten, waren Zara und Toninho.
Zara war mit dem ersten Verbrechen, das Leander hier in Fuseta zusammen mit seinen portugiesischen Kollegen aufgeklärt hatte, in sein Leben getreten. Eine Vollwaise aus einem Heim, die wie ein getretener Hund nach allem geschnappt hatte, was sich ihr näherte. Als bedrohte Zeugin in einem Mordfall hatte Lost sie geschützt und auf seine besondere Art ihr Vertrauen gewonnen. Mehr noch: Ihm war es zu verdanken, dass aus dem widerborstigen Mädchen eine selbstsichere junge Frau wurde, die ihr Abi nachholte und von seiner Seite nicht mehr wegzudenken war. Und so wurde das Besucherhäuschen, das zu Leanders eigenem Haus gehörte und das sie zunächst provisorisch bewohnt hatte, zu ihrer festen Bleibe. Es war so gekommen, wie Soraia es vorausgesagt hatte: Zwei Außenseiter hatten sich gefunden.
Und Toninho war ihr Freund.
Die beiden hatten sich um die Renovierung der Casinhas gekümmert, der beiden kleinen Besucherhäuschen, die sich auf dem Grundstück der neuen Villa befanden. Ein schmaler Pfad aus Pflastersteinen gabelte sich im Garten auf – einer führte zu den beiden Casinhas, der andere zum Pool.
Zara hatte bereits das rechte Casinha bezogen, während ihr Freund Toninho hoffte, sie würde früher oder später zu ihm in den Nachbarort Olhão ziehen, wo er zur Miete wohnte.
Die beiden freuten sich über den Regen, weil er Auswirkungen auf den nahe gelegenen Golfplatz hatte: Sobald die ersten Tropfen fielen, verließen die Golfer zügig das Green, um im Clubhaus ein paar Bahnen im Innenpool zu ziehen oder zu einer Shoppingtour nach Tavira oder Vilamoura aufzubrechen.
Und ein menschenleeres Green war die Voraussetzung für Toninhos neues Geschäftsmodell, das er von einem Freund übernommen hatte.
Sobald es anfing zu regnen, rief Tiago bei ihnen an. So auch heute: »Ihr könnt kommen.«
Toninhos Roller war an gut zwei Dutzend Stellen geflickt, aber er funktionierte. Der Anlasser gab beim dritten Mal den Widerstand auf, und die beiden fuhren zügig zum Monte Rainha. Das Golfresort nordwestlich von Moncarapacho befand sich im Hinterland der Algarve mit seinen sanft geschwungenen Hügeln. Die Fläche, die er einnahm, war enorm: groß angelegte, immergrüne Golfstrecken neben künstlichen Seen, dazu geschmackvolle Residenzen, die sich architektonisch in die Umgebung einpassten. Für die Sterblichen unter den Gästen gab es ein »Bistro«, für den Rest das O Céu, ein Sternerestaurant. Das Resort war ein Ort, der sich alle Mühe gab, internationale Standards zu erfüllen.
Toninho Santos steuerte seinen Roller an dem imposanten Haupthaus mit der Rezeption vorbei und erreichte die Driving Range, wo die Spieler ihren Abschlag üben konnten. Das Gelände war wie leer gefegt, nur Tiago begrüßte sie. Er schien immer schüchtern zu lächeln, selbst wenn sein Mund sich gar nicht bewegte. Aber dann, war Zara dahintergekommen, erledigten das seine Augen.
»Olá«, begrüßte er die beiden.
»Olá«, gab Toninho zurück, während sie sich die Helme vom Kopf zogen, »como vai?«
Tiago nickte nur und reichte ihm den Schlüssel für das Golfcart.
»Obrigada. «
Tiago war etwas jünger als die beiden und arbeitete als Küchenhilfe im Bistro. Er stammte aus Marokko. Seine Eltern waren noch illegal mit einem Schlauchboot über den Atlantik gekommen. Später hatte die Familie eine Aufenthaltserlaubnis erhalten und Papiere. Anfangs kümmerte Tiago sich hauptsächlich darum, dass die Müllbehälter im Monte Rainha stets geleert waren. Mittlerweile war er zur Küchenhilfe aufgestiegen.
Toninho stoppte das Cart am dritten Abschlagspunkt direkt am Lago Numero Três. Der »See Nummer drei«, wie sie ihn nannten, war neben der Nummer vierzehn der ertragreichste. Hier hatten sie vor vier Tagen überstürzt abbrechen müssen, weil sich die Sonne plötzlich gegen den Regen durchgesetzt hatte und einige Golfer zurück aufs Green kamen. Das junge Paar im See hätte sie beim nächsten Abschlag mit Sicherheit irritiert.
Zara und Toninho zogen sich aus. Unter ihrer Kleidung trugen sie Badesachen. Aus einer Tasche holten sie zwei gekürzte Kescher, Taucherbrillen und ein Paar starke wasserdichte Stabtaschenlampen, dann stiegen sie vorsichtig in den See.
Toninho deutete ans Ende des Gewässers: »Ich fang hinten an, du hier?«
Zara nickte. Er schmunzelte, beugte sich vor und gab ihr einen Kuss, was wegen der beiden Taucherbrillen gar nicht so einfach war. Dann kraulte er davon.
Der See war künstlich angelegt, und eine starke Pumpe wälzte das Wasser um, damit sich keine Algen bildeten, aber schon in anderthalb Meter Tiefe wurde es trotzdem recht dunkel.
Zara leuchtete den Boden ab, und zahlreiche helle Punkte reflektierten das Licht durch all die Wasserpflanzen hindurch – die Dimples, die kleinen Krater auf den Oberflächen der Golfbälle, die hier zu Dutzenden, ja Hunderten auf dem Grund des Sees lagen.
Zara sammelte ein Fünfergestirn an Bällen direkt vor ihr mit dem Kescher ein und verstaute sie in einem Netz, das sie sich umgeschnallt hatte.
Durch den Einsatz des Keschers hatte Zara etwas von dem matschigen Grund aufgewirbelt, sodass sich die Sichtweite schlagartig verkürzte. Im gräulichen Dunst sah sie etwas Bläuliches glitzern. Ein Golfball war das definitiv nicht.
Zara näherte sich mit einem kräftigen Schwimmzug, und tatsächlich: Was da den Strahl ihrer Taschenlampe reflektierte, war ein geschliffener Stein. Er erwiderte das Licht in sanftem Violett. Ein Ring mit einem Edelstein! Und obwohl die Luft schon knapp war und sie ein Brennen in der Lunge spürte, machte sie noch einen weiteren Schwimmzug darauf zu.
Als sie danach griff, spürte sie einen Widerstand. Der Ring lag nicht im Schlick, wie sie gedacht hatte. Er steckte auf etwas fest. Und obwohl sie kaum etwas sehen konnte, begriff sie schlagartig, was sie da anhob: eine Hand.