2.

»Bitte gehen Sie weiter – einer unserer Gäste hatte einen Schwächeanfall«, log Marcos Serra.

Er trug einen feinen Anzug aus Sevilla und winkte ein britisches Ehepaar mit einem einstudierten Lächeln und manikürten Fingern weiter. Er war für die Öffentlichkeitsarbeit des Golfresorts zuständig. Und er stand vor einem GAU . Denn der Schwächeanfall der Frau, die man aus dem See geborgen hatte, würde ziemlich dauerhafter Natur sein – was zum Glück niemand sah, denn zwei Angestellte schirmten mögliche Blicke auf sie mit einer Decke ab. Er war so geistesgegenwärtig gewesen, ein Absperrband zwischen einer Pinie und einer Sockelleuchte zu spannen, wo der Weg weiter vorne zum See abzweigte. Alle hatten sich daran gehalten, bis auf das britische Paar, dem es irgendwie gelungen war, es zu übersehen.

Nun ja, dachte Serra, Briten hielten gerne an gewohnten Wegen fest. Wie am Pfund oder am Linksverkehr.

Immerhin hatte es zu regnen aufgehört.

Zu seiner Erleichterung näherte sich nun von einem der Restaurants eine Gestalt, die sich im Gehen mit einem Kamm den Scheitel nachzog. Sie trug einen italienischen Maßanzug in Mittelgrau, dazu ein weißes Hemd und schwarze Oxford-Schuhe von Santoni. Das schwarze Haar und der schmale Oberlippenbart, aufs Feinste gestutzt, rundeten das Bild ab: Miguel Duarte, Sub-Inspektor der Kripo, der Polícia Judiciária.

Er war im Resort seit einiger Zeit häufiger zu Gast, denn er beriet die Geschäftsführung in seiner Freizeit in Sicherheitsfragen. Im Gegenzug durfte er hier seine Fertigkeit als Golfer vervollkommnen oder im Restaurant speisen.

Miguel Duarte stammte wie Serra eigentlich aus Sevilla, und sie waren sich in ihrem Bedauern über die portugiesische Begrenztheit sofort einig gewesen. Intellektuell, ästhetisch, wirtschaftlich, kulturell – die Reihe war endlos, wie sie bei einem Gläschen an der Bar festgestellt hatten (natürlich bei einem aus Andalusien). Im Grunde, stellten sie fest, waren die Portugiesen ein wandelnder Mangel.

Duarte arbeitete aber trotzdem bei der örtlichen Kriminalpolizei, und er ließ gegenüber Serra bei ihrem ersten Gespräch durchblicken, dass er in nachrichtendienstlicher Mission unterwegs sei, quasi ein spanischer Señor Bond. Ein Umstand, über den er nicht viele Worte verlieren durfte, versteht sich – was ihn in Serras Wertschätzung enorm steigen ließ, der ihm seitdem gebannt an den Lippen klebte.

Serra selbst war hier, weil er den Chef des Resorts kannte – seinen Schwager nämlich, natürlich ebenfalls Spanier.

 

Duarte jedenfalls erreichte ihn jetzt, trat neben ihn und warf einen Blick auf die Leiche.

»Kennst du sie?«

»Ja. Eine Deutsche. Karen Riemann.«

»Hat sie in der Gegend gearbeitet?«

»Ich glaube, sie ist – war Hausverwalterin«, antwortete Serra und zeigte auf ein Haus, das keine hundert Meter entfernt lag, eine Villa in einem satten Beigeton. »Die da. Gehört ebenfalls einem Deutschen. Sie kümmert sich darum. Villa Ria.«

»Verstehe. Villa Ria  – wie einfallsreich. Ihr habt sie aus dem See gezogen?«

»Ja. Das junge Pärchen dort hat sie entdeckt. Sie säubern die Teiche von Golfbällen.«

Er deutete mit dem Kopf hinüber zu einer Parkbank, auf der Toninho neben Zara saß und beruhigend auf sie einsprach. Zara wirkte sichtlich mitgenommen. Duarte erkannte sie und ihren Freund sofort.

Es war diese Vollwaise, die man auf Rat von Soraia Rosado vor zwei Jahren bei dem Alemão einquartiert hatte. Und irgendwie hatte der es fertiggebracht, dass sie ihr aggressives Verhalten nach und nach ablegte, ihre Widerspenstigkeit und ihren grenzenlosen Zorn auf die Welt. Vermutlich hatte sie in ihm einen Verwandten im Geiste entdeckt oder so, schließlich war der Deutsche auch plemplem, er trug etwa bei hohen Temperaturen einen schwarzen Anzug. Ganz offensichtlich hatte er jedenfalls einen gehörigen Sprung in der Schüssel.

Und Toninho?

Von dem wusste Miguel nicht viel. Nur, dass er ständig irgendwelchen Gelegenheitsjobs nachging. Allerdings hatte er sich für ein Praktikum bei der GNR gemeldet. Daran war Carlos Esteves, Losts Kollege bei der Kripo, nicht ganz unschuldig.

Als Toninho ihn vor ein paar Wochen gefragt hatte, ob er den Job als Bulle allen Ernstes mochte, sagte er: »Weißt du, ich kann überall so schnell fahren, wie ich möchte. Wenn ich geblitzt werde, sortier ich das Foto einfach aus. Jeder möchte mein Freund sein, man isst und trinkt sich durch ganz Olhão, und es kostet dich keinen Cent, weil alle dir was ausgeben möchten. Und das Großartigste daran – sozusagen die Kirsche auf der Torte – ist: Du hast die Marke. Du gehörst zu den Guten.«

Da war Toninho das Lachen vergangen.

Was von Esteves als Spaß gedacht war, fiel bei Toninho auf fruchtbaren Boden: Morgen war sein erster Tag.

»Olá Senhor Duarte«, sagte Toninho. Zara schwieg.

»Olá, ihr beiden. Ihr habt sie also gefunden. Irgendeine Ahnung, wie die Frau in den Teich gekommen ist?«

Kopfschütteln.

Duarte musterte sie kurz und beschloss dann, dass hier nichts weiter zu holen war.

»Gut, dann könnt ihr gehen. Und morgen …« Weiter kam er nicht, denn Zara sprang auf und lief an ihm vorbei. Duarte blickte ihr nach, um zu sehen, wie sie auf Leander Lost zueilte und ihn umarmte.

»Wir haben eine tote Frau entdeckt!«

 

Leander trug wie immer seinen Anzug, eine schwarze Lederkrawatte und – als kleines Zugeständnis an dieses Land – schwarze Espadrilles.

Zara schmiegte sich Schutz suchend an ihn. Er ließ es geschehen, obwohl er auf Berührungen äußerst empfindlich reagierte. Sie waren ihm unangenehm, und er stand deshalb so lässig da wie ein Laternenmast. Aber ihm war klar, dass sie ihn jetzt brauchte. Und so strich er ihr mechanisch über den Rücken.

Soraia, die Leander hierher begleitet hatte, winkte Toninho mit einer mitfühlenden Miene zu sich.

»Zara hat schon ganz blaue Lippen«, sagte sie. »Geht rüber ins Clubhaus, zieht euch um, trocknet euch ab. Und dann bringe ich euch nach Hause.«

Toninho nahm Zara sanft an der Hand, die sich jetzt von Lost löste und von ihm und Soraia flankiert den Weg zum Hauptgebäude antrat.

Kaum waren sie weg, trafen auch die Kollegen ein: Graciana Rosado, Soraias ältere Schwester und Losts Vorgesetzte, sowie Carlos Esteves, ebenfalls Sub-Inspektor bei der Kripo und vom gleichen Dienstrang wie Duarte und Leander Lost. Der Mann, der Toninho unbeabsichtigt zu dem Praktikum bei der GNR animiert hatte.

Esteves trug eine kurze Hose, dazu Espadrilles und ein gebügeltes, offenes, hellblaues Hemd. In Spanien, wusste Duarte, hätte ein Vorgesetzter mit Sinn und Verstand ihn niemals so auf die Straße gelassen. Noch dazu kaute er gerade etwas.

Er hatte halblange, schwarze Haare und einen gepflegten Vollbart. Große, kräftige Hände.

Graciana Rosado dagegen trug eine enge Hose und eine taillierte Bluse. Die Haare offen. Sie bewegte sich mit jener gewissen Dynamik, die Temperament verriet. Ihr Blick war offen und klar.

Kurz hinter ihnen folgte auch die Rechtsmedizinerin Oliveira mit ihrem kleinen Koffer. Hose und Shirt in Kaki, eine Farbe, die ihren schönen Teint unterstrich. Die langen, zum Teil ergrauten Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihr war anzusehen, dass sie viel Sport trieb und sich gesund ernährte.

Nach der kurzen Begrüßung hockte sich die Doutora neben die Leiche und untersuchte sie.

»Ihr Name ist offenbar Karen Riemann«, sagte Duarte betont beiläufig, »das hab ich schon ermittelt. Und das ist Senhor Serra. Er ist für uns der offizielle Ansprechpartner von Monte Rainha. Senhora Graciana und die Senhores Esteves und Lost von der PJ

Esteves nickte ihm zu und sah hinüber zum Restaurant, von dem er schon viel Gutes gehört hatte. Und obwohl er gerade ein köstliches Bifana auf dem Weg hierher gegessen hatte, regte sich bei dem Anblick bereits wieder sein Appetit.

»Boa tarde «, sagte Graciana und schüttelte dem Mann die Hand, der ihren Gruß erwiderte und Leander und Carlos zunickte. »War die Frau bei Ihnen angestellt?«

»Nein«, sagte Serra. »Einige Häuser konnten vor der Bauphase vom Monte Rainha erworben und noch individuell gestaltet werden. Unser Resort besitzt etwa die Hälfte. Alle anderen Häuser und Apartments sind in privatem Besitz. Frau Riemann hat das da betreut«, er deutete zu der Villa, die er auch schon Duarte gezeigt hatte, »die Villa Ria. Sie war eine Alema. Der Hausbesitzer ist es auch. Er vermietet es an Touristen, und Senhora Riemann hat sich um die Abwicklung gekümmert. Auch darum, dass alles sauber und mit frischer Bettwäsche ausgestattet war.«

»Ich muss bei der Staatsanwaltschaft eine Autopsie beantragen«, stellte die Doutora ruhig fest und verharrte neben dem Opfer in der Hocke. Sie hatte sich Einweghandschuhe über die Hände gestreift und tastete jetzt den Kopf der Toten ab.

»Ist sie ertrunken?«, fragte Carlos.

»Kann ich noch nicht bestätigen, Senhor Esteves«, gab die Doutora zurück, »wenn ich bei der Obduktion feststelle, dass ihre Lungen voller Wasser sind, ist sie ertrunken. Wenn nicht, nicht.«

»Da ist etwas in ihrer Tasche«, sagte Leander und hockte sich hin. Er streifte sich einen Handschuh über, bevor er in die Außentasche der Jacke griff, die die Tote trug.

Er holte einen Stein hervor, dann einen weiteren und noch einen. Keine Kiesel, sondern richtige Brocken.

 

Marcos Serra hatte eine recht genaue Vorstellung davon, was passieren würde, wenn sich das hier als ein Mord herausstellte: Golfresort des Todes, Mord im Urlaubsparadies und so weiter.

Es würden jede Menge Stornierungen folgen, massive Umsatzeinbußen, und am Ende müsste man dichtmachen, und er wäre seinen Job los – gegenüber Duarte hatte er verschwiegen, dass er sich in Sevilla als Flamenco-Tänzer durchgeschlagen und die Anstellung im Monte Rainha ausschließlich seinem Schwager zu verdanken hatte.

Innerhalb der Familie wäre gelinde gesagt die Hölle los (gab es eine Steigerung von »Hölle«? – falls ja, wäre die los).

»Ich denke, sie war depressiv«, sagte Serra schnell, »es gibt viele Berichte von Selbstmördern, die das Wasser wählen und sich dafür Gewichte mitnehmen.«

»Was für Berichte sind das?«, fragte Leander.

»Na, in Zeitungen, man liest ständig davon. Steine hier, Steine da. Alle depressiv. Vielleicht ist ihr die Arbeit zu viel geworden, oder sie hatte Schulden. Oder war alkoholabhängig. Oder alles zusammen. Und dann ist sie in den See gegangen. So wird’s gewesen sein.«

Graciana tauschte nur einen kurzen Blick mit der Doutora, um zu erfassen, dass sie an so eine Geschichte ebenso wenig glaubte wie sie selbst. Dann rief sie im Kommissariat an.

»Marisa, ich bin’s. Ich brauche bitte über das Einwohnermeldeamt die Information, wo eine Karen Riemann gewohnt hat. Und alles, was es sonst noch offiziell über sie gibt. Obrigada. «

»Hier ist eine Verletzung«, sagte Oliveira und vermied dabei jede Wertung. Sie zeigte den Kollegen ein Hämatom an der Schläfe, das sich erst jetzt offenbarte, als sie die Haare der Toten sanft beiseitegestrichen hatte. Im Zentrum der Verletzung war der Schädel kreisförmig nach innen gewölbt – und knallrot. Die Schwellungen drumherum hatten eine violette Färbung angenommen.

»Eine Schussverletzung?«, fragte Carlos.

»Ganz gewiss nicht«, sagte Serra schnell, »hier ist kein Schuss gefallen.«

»Nein«, gab Oliveira ihm recht, »ich tippe auf einen stumpfen Gegenstand. Vielleicht vier bis fünf Zentimeter im Durchmesser. Und wohl rund, wie es aussieht. Zumindest gewölbt.«

»Die Maße entsprechen einem Golfball«, sagte Leander, »42,67 Millimeter Mindestmaß.«

Serra wurde schlecht.

»Das dürfte aber höchst unwahrscheinlich sein. Nicht wahr, Senhor Duarte?«, drängte der Public-Relations-Manager den Sub-Inspektor zu einer Aussage.

»Ja.«

»Was macht dich so sicher?«, fragte Carlos.

Duarte seufzte. Er freute sich über die Gelegenheit, den portugiesischen Kollegen als begriffsstutzig vorzuführen: »Carlos, mein Lieber, wie viele Tote hatten wir denn in den letzten Jahren auf Golfplätzen, hm?«

»Bisher keine«, kam Graciana Carlos zuvor, damit die Sache zwischen den beiden Sub-Inspektoren nicht hochkochte.

»Golfen ist ein absolut sicherer Sport«, fügte Serra mit einem freundlichen Lächeln hinzu.

»Golfen gehört zu den Top Ten der gefährlichsten Sportarten«, stellte Leander ruhig fest, »weltweit kamen allein vergangenes Jahr gut 4.500 Menschen auf Golfplätzen ums Leben.«

»Sie belieben zu scherzen«, sagte Serra, der noch eine Spur blasser wurde.

»Nicht die Bohne«, erwiderte Leander.

Leander kam in der Regel gerne schnell zur Sache. Kommunikation diente der Informationsvermittlung. Der Sinn von Small Talk war ihm fremd. Wenn man bei vergeudeter Lebenszeit überhaupt von etwas wie Sinn sprechen konnte. Sein ständiges Außenseitertum hatte ihm nicht viele Freunde beschert, vielmehr hatten abstrakte Begriffe wie menschliche Niedertracht oder Bosheit während seiner Jahre im Waisenhaus sinnlich erfahrbare Formen für ihn angenommen. Trotz allem war der Mensch ein Herdentier, das die Gesellschaft anderer suchte. Leander hatte allerdings häufig erfahren, dass man ihn dabei nicht einbezog, sondern mied. Das war als Kind so gewesen und änderte sich auch nicht, als er erwachsen wurde und bei der Polizei anfing. Seine Kollegen verdrehten hinter seinem Rücken die Augen, wenn sie sich unbeobachtet fühlten. Aber Lost entging das nicht.

So liebend gerne wäre er nicht aufgefallen, wäre nicht von der Norm abgewichen, wäre er einfach nur ein Teil der Gruppe gewesen.

Also arbeitete er hart an sich. Doch die Freude, die andere dabei empfanden, wenn jemand etwa auf dem Eis ausrutschte oder ihm ein anderes Missgeschick widerfuhr, empfand er einfach nicht. Dafür konnten die anderen nicht Tränen lachen über Begriffe wie Windhose oder Sprungbrett so wie er.

Er erinnerte sich, wie er einmal mit anderen Waisenkindern im Supermarkt war und vor einem Schild in Lachen ausbrach, so sehr, dass Dr. Winterberg, der Heimleiter, ihn kaum beruhigen konnte. Und als Leander endlich wieder Luft bekam und auf das Schild deutete, das ihn so sehr amüsierte, starrten die anderen ihn völlig entgeistert an. Wie einen Irren. Auf dem Schild stand: Vorteilspackung sichern!

Nur Dr. Winterberg lächelte ihn an. Ganz warm und sanft. Er hatte die Komik begriffen: Eine Packung voller Vorteile!

»Leander«, hatte eine ebenfalls anwesende Lehrerin gesagt, »komm doch mal aus dir raus.« Das Bild, dessen Entstehung sie damit in seinem Kopf auslöste, beherrschte die nächsten Jahre seine Albträume.

Dr. Winterberg hatte immer auf alles eine Antwort. Auch auf Leanders Frage nach dem Sinn von Small Talk.

»Es schafft eine entspannte Atmosphäre, über relativ Belangloses zu plaudern, Leander. Man kann nicht viel falsch machen. Man hat die Gelegenheit, die nonverbalen Signale zu deuten und sein Gegenüber besser kennenzulernen. Man fällt auch nicht gleich mit der Tür ins Haus – das ist, ähm, eine Redewendung für überstürztes Handeln. Für Überrumpelung.«

»Hab ich schon mal gelesen.«

»Small Talk«, hatte Winterberg gesagt und den Jungen mit den dunklen Augen, die frei waren von Arglist und Berechnung, angelächelt, »ist der Kitt zwischen den Menschen, Leander. Es ist ein Sich-Einfühlen, ein Herantasten, um dann schließlich auf das zu sprechen zu kommen, was einen wirklich bewegt – oder auch nicht.«

»Das verstehe ich nicht«, hatte Leander geantwortet.

Tja, wer konnte das dieser kleinen Intelligenzbestie mit dem fotografischen Gedächtnis verdenken, dem nie ein Augenblick seines Lebens verloren ging, keine Hänselei, kein Hohn und kein Spott wurde vom sanften Nebel des Vergessens für ihn verschluckt.

Der Humor der anderen blieb ihm ein Buch mit sieben Siegeln. Und es gab noch etwas, was er einfach nicht konnte: lügen.

Menschen lernten wie Tiere zunächst durch Nachahmung, das wusste Leander.

Wie froh war er also, als er »Das Kompendium der sinnlosen Sätze« in einem Antiquariat entdeckte und erstand. Eine Art Leitfaden für sinnentleerte Plauderei.

Ein teigiger, leicht übergewichtiger Misanthrop mit dem klingenden Namen Dan B. Tucker hatte diesen Schatz verfasst, und Leander Lost damit den Alltag enorm erleichtert. Nach der Lektüre des Werkes verfügte er über ein reiches Repertoire an Gesprächs- und insbesondere Small-Talk-Optionen. Bei dem Äußern solcher Phrasen (»So ein Tag aber auch!«) mangelte es ihm zwar an jener Beiläufigkeit, mit der sie ausgesprochen werden mussten, um ihre Wirkung zu entfalten (wie etwas Überflüssiges nämlich). Aber das bemerkten nur die anderen.

Zu seiner Freude hatte Dan B. Tucker sogar einen Appendix herausgegeben. Natürlich als Book on demand, denn kein Verlag setzte auf diesen zweiten Ladenhüter aus der Feder von Christian Busz (wie Dan B. Tucker mit bürgerlichem Namen hieß).

Für Leander war diese verlegerische Totgeburt mit dem Titel Alte Schweden und blinde Hühner allerdings ein Glücksfall. Denn es erweiterte seine Optionen um Redewendungen und Metaphern. Ihre situationsbedingte Anwendung war aber mitunter noch ein Minenfeld.

Statt »überhaupt nicht« oder »keineswegs« sagte der lässige Small Talker: »Nicht die Bohne.«

 

»Nicht die Bohne«, sagte Leander also auf dem Golfplatz des Monte Rainha, »4.500 Menschen. Wissen Sie, was die häufigste Ursache ist?«

»Herzstillstand?«

»Fast. Herzinfarkt ist die zweithäufigste Ursache.«

»Unfälle?«, fragte die Doutora.

»Unfälle mit den Karts sind die Nummert drei.«

»Doch nicht etwa Golfbälle, oder?«, fragte Graciana.

»Nein«, antwortete Lost. »Tod durch Golfbälle tauchen in der Statistik gar nicht auf, obwohl sie vorkommen. Die Liste wird angeführt von Tod durch Blitzschlag.«

Serra atmete erleichtert aus. Wenigstens eine gute Nachricht an diesem Tag.

»Golfer sind dabei mit zurzeit fünf Prozent an der Gesamtzahl aller Unfälle beteiligt«, führte Leander aus, weil er in den Mienen Interesse zu sehen meinte, »also mit rund 225 Toten pro Jahr.«

»Das ist ja wahnsinnig interessant«, sagte Duarte und unterdrückte ein Gähnen.

»Aber Golfbälle können dennoch töten, oder?«, hakte Graciana nach.

»Der Rekord bei Fluggeschwindigkeiten eines Golfballs liegt bei 339,56 Stundenkilometern. Das entspräche einer Aufprallenergie von knapp über 200 Joule.«

»Was heißt das?«, erkundigte Marcos Serra sich besorgt. Wenn sich herausstellen sollte, dass Karen Riemann von einem Golfball getroffen und … erlegt worden war, wäre Monte Rainha dort, wo Serra sie seit Monaten platzieren wollte: In den Abendnachrichten. Allerdings unter anderen Vorzeichen.

»Ein abgeschossenes 9-mm-Projektil gibt abhängig von seiner Geschwindigkeit mindestens 350 Joule Energie beim Auftreffen auf sein Ziel ab«, erklärte Leander.

Kurz blieb die Zeit stehen, und Graciana warf dem Mann, der vielleicht in diesem Jahr noch ihr Schwager sein würde, einen anerkennenden Blick zu, in dem eine Spur Zärtlichkeit lag. Senhor Léxico.

Diese gradlinige Unbedarftheit entwaffnete sie manchmal immer noch, obwohl Lost bereits seit nunmehr zwei Jahren seinen Dienst hier an der Ostalgarve verrichtete.

»Senhor Lost«, wandte die Doutora sich an ihn, »wie viel Joule werden bei einem durchschnittlichen Golfschlag frei?«

»69,44.«

»Kann ich sie in die Rechtsmedizin überführen?«

Die Frage der Doutora war an Graciana gerichtet, die nickte.

»Äh, wie wollen Sie das machen, bitte?«, schaltete Serra sich sofort ein.

»Mit einem Rettungswagen«, erwiderte Oliveira, während sie in einer geschmeidigen Bewegung aufstand.

»Das ähm … geht das nicht diskreter?«, fragte Serra und wandte sich dabei auch an Miguel Duarte.

»Wir können sie abgedeckt in einem Anhänger zu dem Ferienhaus bringen lassen, das sie betreut hat. Und der Rettungswagen kann sie dort abholen. Weniger Aufsehen nützt doch bestimmt auch der weiteren Ermittlung!«

Er sah an Carlos vorbei zu Graciana, die nickte: »So machen wir das.«

»Muito obrigado «, sagte Serra, »muito, muito. «

»Ja, ist gut jetzt«, erwiderte Carlos.

»Senhor Serra?«, wandte Graciana sich an ihn.

»Sim?«

»Das Gelände ist doch sicherlich mit Überwachungskameras ausgestattet?«, fragte die Inspetora.

»Natürlich. Da oben an den Wegen, also an allen Wegen. Und quasi sternförmig um das Hauptgebäude und …«

Sie unterbrach ihn mit einem Räuspern: »Ich benötige einen Plan des Geländes samt der Gebäude mit den Standorten der Kameras plus deren Aufzeichnungswinkel.«

»Besorge ich Ihnen.«

»Und den Namen und die Kontaktdaten des Besitzers der Villa Ria, por favor.«

Serra nickte und zückte sein Handy.

Während der Leichnam von Karen Riemann auf einen Anhänger geladen und abgedeckt wurde, marschierte Serra mit steifen Schritten auf und ab und gestikulierte beim Sprechen mit der freien Hand.

Die Bewegungen folgten keinem einheitlichen Muster, wie Lost analysierte.

Marcos Serra beendete sein Telefonat und trat diensteifrig an Graciana heran: »Der deutsche Besitzer heißt Winfried Jensen.«

»Gut, ich brauche seine Kontaktdaten. Gehen wir rüber zu der Villa Ria – Senhor Serra, kommen Sie bitte mit«, sagte Graciana.

»Ich besitze keine Schlüssel für das Haus.«

»Das kriegen wir hin«, beruhigte Carlos Esteves ihn.

 

Während sie an dem künstlichen See und den »Bunkern«, den ausgehobenen und mit Sand gefüllten Hindernissen, vorbeigingen, nahm Graciana den Kollegen Miguel Duarte beiseite.

»Ich hab da eine Kopie eines Schreibens von dir bekommen.«

Duarte nahm Haltung an, Schultern gerade, Kreuz durchgedrückt, Körperspannung. Eine der ersten Lektionen seines Vaters, des großen Toreros, der seine Söhne mit Unerbittlichkeit erzogen hatte.

»Und?«

»Und?«

Graciana war relativ klein. Große Augen, ein symmetrisches Gesicht mit weichen Zügen, das sich sehr energisch und unnachgiebig zeigen konnte – so wie jetzt.

»Spiel kein Spielchen mit mir, Miguel.«

Sie war nun stehen geblieben und er notgedrungen auch.

»Dein Schreiben nach Lissabon – ans Innenministerium.«

»Ach, das.«

»Ja, das.«

»Das ist natürlich ein heikles Kapitel.«

»Nein, heikel ist das eigentlich nur für dich, Miguel.«

Sie bedachte ihn mit einem durchdringenden Blick. Ihr Gesicht wirkte wie eingefroren. Duarte zögerte nur einen kurzen Moment, dann schenkte er ihr ein überlegenes Lächeln, das er bis zur Perfektion vor dem heimischen Spiegel eingeübt hatte.

»Es ist nichts gegen Senhor Lost persönlich, nur, damit du das weißt, Graciana. Ich will mich gar nicht darüber auslassen, dass er für den Polizeidienst nicht geeignet ist.«

»Das heißt, sein fotografisches Gedächtnis und seine analytischen Fähigkeiten waren bei der Lösung unserer Fälle nicht dienlich? Er war da ungeeignet?«

Duarte seufzte.

»Was ist, wenn er einen Schwerverbrecher über den Verbleib einer Zeugin nicht professionell anlügt, sondern deren Aufenthaltsort preisgibt? Was ist, wenn er eine subtile Warnung nicht korrekt versteht? Was ist, wenn ein Krimineller sein Aussehen so verändert, dass du und ich ihn zwar erkennen würden, aber Senhor Lost nicht, weil er dessen Gesichtsmerkmale nicht mehr eindeutig dechiffrieren kann, hm? Das sind lauter Risiken, die nicht nur ihn allein gefährden, sondern auch uns, seine Kollegen. Und unbeteiligte Dritte. Ich weiß, ich weiß, ich mache mich unbeliebt …«– zumindest in diesem Punkt stimmte Graciana ihm stumm zu – »… aber ich habe das Innenministerium darauf hingewiesen, dass Losts weitere Verwendung als Polizist vielleicht einmal Menschenleben kosten kann.«

Graciana Rosado nickte. »Deine Umsicht und Sorge um deine Mitmenschen ist löblich, Miguel«, sagte sie, und es kostete sie viel Willenskraft, diese Worte auszusprechen, »aber in Zukunft hältst du bitte den Dienstweg ein. Du kommst mit deinem Anliegen zu mir. Und schreibst nicht Beschwerden an mir vorbei.«

»Das hätte ich natürlich getan, wenn du nicht befangen wärst.«

»Ich bin befangen?«

»Ich bitte dich. Er ist mit deiner Schwester zusammen. Es heißt, sie wollen noch dieses Jahr heiraten. Natürlich bist du befangen. Der Umstand, dass du das nicht siehst, beweist eigentlich nur, wie sehr es zutrifft. Und wie richtig es von mir war, mich deshalb mit dem Wunsch direkt ans Innenministerium zu wenden, diesen Gestörten aus der Truppe zu entfernen.«

Im Hause Rosado, ihrem Elternhaus in Fuseta, wurde großen Wert auf Gerechtigkeit gelegt. Ihre Mutter hatte ihr das auf vielerlei Art in die Wiege gelegt, etwa, indem sie die Nachbarskinder alle gleich behandelte: sowohl die, die sie mochte, wie die, die sie weniger leiden konnte.

Und ihr Vater, ehemals Chef der GNR in Moncarapacho, bevor eine Kugel seine Wirbelsäule durchschlug und ihn in den Rollstuhl zwang, war ein Mann, dessen Rat die Leute suchten. Dabei war er kein Intellektueller, kein Bücherwurm, nur ein Mann, der gut zuhörte und sich Gedanken machte. Und dem ein untrüglicher Sinn für Gerechtigkeit innewohnte, ganz so, als habe sich bei ihm im Gegensatz zu anderen Menschen noch ein weiteres, unsichtbares Organ entwickelt.

»Pai, was ist Gerechtigkeit?«, hatte sie ihn als Kind gefragt, als sie ihn mit ihrer Mutter und ihrer Schwester auf dem Polizeiposten abholte. Sie erinnerte sich noch genau daran. An sein kleines Büro mit den knarzenden Holzdielen und dem Kühlschrank, in dem es immer eine Süßigkeit für die Töchter gab. Es roch nach Putzmitteln und Holz. Je länger die Sonne auf die Dielen geschienen hatte, desto intensiver der Geruch.

»Ja!«, hatte die kleine Soraia mit ihren Grübchen gesagt und hoffnungsvoll gegrinst: »Wenn wir beide ein gleich großes Stück Pastel de Nata bekommen oder jede eines.«

Die Uniform imponierte Graciana und seine riesigen starken Hände, die so behutsam und sanft sein konnten, wenn sie ein Kätzchen aufhoben. Sie kannte das Wort damals dafür noch nicht, aber sie hatte ein gutes Gespür dafür, wie die Leute ihm begegneten: mit Respekt.

Er ging vor ihr in die Hocke und musterte sie mit einem liebevollen Lächeln.

»Gerechtigkeit«, sagte er, »ist das Recht des Schwächeren, Grace.«

So klein sie damals noch war, so gut erfasste sie doch, dass dies eine tiefe Überzeugung ihres Vaters war, durch die er die Welt und sein Leben ordnete. Er hatte sich dafür entschieden, dass die Stärkeren die Schwächeren nicht herumschubsen durften. Das war einer seiner Grundsätze. Und das war wiederum einer der Gründe, warum so viele Menschen in Fuseta ihm vertrauten und seinen Rat suchten. Wenn es ein Problem zwischen zwei Nachbarn gab, einen Streit in einer Kneipe oder gar eine Familienfehde, rief man ihn, damit er vermittelte. Er tat das mit kühlem Kopf, ruhiger Stimme und einem verständigen Blick. Es gab wenige Streitigkeiten, die von Antonio Rosado nicht mittels eines Gesprächs gelöst werden konnten.

Während jemand wie Carlos Esteves einem Streit eher nicht aus dem Weg ging, focht Antonio Rosado es nur aus, wenn es darauf ankam.

Am 23. Juni 2011 kam es darauf an. Nach einem Überfall auf einen Werttransporter stellte er sich fünf Kriminellen entgegen, die ihm rieten, lieber nach Hause zu gehen. Was er nicht tat.

 

Gracia dachte an Leander Lost und musste lächeln. Er bemühte sich – und das mit großem Erfolg – Tag für Tag, ein wertvolles verlässliches Mitglied der Polícia Judiciária in Faro zu sein. Und sicher: Es gab immer noch ein paar kleine Defizite. Aber die stufte sie mit Blick auf seine Ermittlungserfolge als unerheblich ein. Ganz abgesehen davon: Jedem von ihnen unterliefen schließlich Fehler.

Sich hinter Leanders und ihrem Rücken um dessen Suspendierung aus dem Team beim Innenministerium zu bemühen, erschien ihr als eine massive Ungerechtigkeit, die ihr die Tränen in die Augen trieb. Vor allem, weil Lost sich nicht mal dagegen zur Wehr setzen konnte.

Duarte, der ihre Reaktion erfasste, blinzelte kurz und bestrich unbewusst mit der Zunge seine Unterlippe.

»Lost ist nicht gestört «, sagte sie entschieden.

»Nein? Ist das nicht etwa eine Störung, sein Hau?«

»Du weißt, was ich meine – als deine Vorgesetzte sage ich dir: Du redest in Zukunft nicht mehr so abfällig über deinen Kollegen. Das ist eine dienstliche Anweisung, Miguel.«

»Aber wenn …«

»Leg dich nicht mit mir an.«

Kurz maßen sich ihre Blicke, dann lächelte Miguel Duarte plötzlich und nickte: »Natürlich nicht.«

Damit ließ er sie stehen und folgte den anderen zur Villa Ria.

Graciana war vollkommen klar, dass es ihm am Ende überhaupt nicht um Leander Lost ging. Für Duarte war die Algarve einfach zu provinziell. Er hatte sich mehrfach bemüht, zur Kripo nach Lissabon versetzt zu werden. In die Hauptstadt, oder wie er es ausdrückte: in die Zivilisation. Und als schließlich bei ihnen hier in der Polícia Judiciária eine Beförderung anstand, die sein Leid wenigstens ein kleines bisschen geschmälert hätte, beförderte man nicht ihn, sondern stattdessen jemanden, den er für inkompetent hielt: sie.

Sein Ersuchen, Leander aus dem Polizeidienst entfernen zu lassen, richtete sich nicht in erster Linie gegen den Alemão. Es richtete sich gegen sie. Es sollte die zuständige Stelle im Innenministerium dazu animieren, sich Gedanken um die Eignung von Inspetora Graciana Rosado für ihren Posten zu machen.