7.

Das Handy lag neben Duartes Kopf auf dem heißen Asphalt. Er blutete stark aus seiner Stirnwunde. Aber er lebte.

»Ist die Kugel eingedrungen?«

»Ich weiß nicht. Die Wunde sieht schlimm aus.«

Leander kniete neben ihm.

Bis auf Gabriel Alves, der sich mittlerweile hingesetzt und gegen die Limousine gelehnt hatte, standen die anderen um den verletzten Kollegen herum. Alves war es auch gewesen, der trotz seiner Schulterwunde eine Ringfahndung nach den Tätern eingeleitet hatte.

Toninho war aschfahl, er wirkte um Jahre gealtert.

»Blutung stillen, umgehend«, zitierte Leander etwas aus seinem Gedächtnis.

»Verband«, übersetzte Graciana.

Toninho – froh, etwas tun zu können – und Graciana liefen zu ihren Autos.

»Merda.«

Das war Rafaela Romão.

Sie stand mit ehrlicher Bestürzung daneben. Überfordert.

Von weit, weit her drangen noch die heulenden Motoren der beiden Motorräder zu ihnen, mit denen sich die zwei Kriminellen davongemacht hatten.

Carlos ging in die Hocke, um Miguels Puls zu fühlen.

»Er ist noch da.«

»Natürlich, er liegt ja vor uns.«

»Ich meine: sein Puls. Der ist noch da. Meinen Sie, man sollte ihm einen Druckverband anlegen?«

»Ich habe keine Erfahrung mit der Erstversorgung bei solchen Verletzungen«, gab Leander zurück.

»Ich auch nicht, ich weiß bloß nicht, ob es zu seinem Nachteil sein kann. Hirnschäden und so …«

»Nun: wenn die Blutung nicht umgehend gestoppt wird, verblutet Senhor Duarte. Dann ist es unerheblich, ob Sie eine Hirnschädigung verursacht haben, da er dann nie wieder denken muss.«

Schon war Toninho zurück.

»Leg einen Druckverband an.«

Toninho sah ihn aus großen Augen an.

»Gib her«, sagte Graciana, die ebenfalls mit einem Verbandskasten zurückgekehrt war. Sie riss den Kasten auf und fand Mull und eine Kompresse. Rafaela ging ihr zur Hand.

»Oliveira?«, fragte eine Stimme aus dem Smartphone neben Duarte. Endlich.

Leander meldete sich und schilderte der Ärztin ebenso präzise wie zügig die Situation.

»Wie viel Blut hat er verloren?«

»Vielleicht anderthalb Liter.«

»Puls?«

»Schwach. Wird schwächer.«

»Die Wunde ist an der Stirn?«

»Ja.«

»Austritt?«

»Schwer zu sagen. Vielleicht auch ein massiver Streifschuss. Oder das Projektil ist in seinem Kopf.«

»Ich bin unterwegs, bleiben Sie dran.«

»Ein Rettungswagen ist schon auf dem Weg«, sagte Carlos.

»Das reicht möglicherweise nicht. Ich habe gerade den Helikopter angefordert. Wir brauchen einen Rendezvouspunkt, um seine Transportzeit zu verkürzen. Er muss nach Faro. Gehen Sie mit ihm auf die A 22. Besorgen Sie sich einen Schlauch. Jetzt. «

Man hörte, wie die Doutora lief und eine Tür zuschlug. Im Hintergrund fuhr ein Auto vorbei, Kinder spielten. Sie lief.

»Können Sie das bitte präzisieren?«, fragte Leander.

»So was wie einen Gartenschlauch, Senhor Lost. Sie müssen ihn intubieren. Bei Schädelverletzungen bekommen wir es immer mit Atemwegsproblemen zu tun. Wir müssen eine Hypoxie vermeiden.«

»Eine Sauerstoffmangelsituation«, sagte Leander.

»Exakt. Wie sehen seine Lippen aus?«

»Bläulich.«

»Da haben wir es schon. Massiv eingeschränkte Atemwege – den Schlauch. Schnell, sonst erstickt er uns!«

»Länge, Durchmesser?«, fragte Carlos.

»Es muss in seinen Mund passen und bis zur Lunge reichen. Machen Sie, Senhor Esteves. Aber machen Sie schnell, wenn es noch einen Sinn haben soll.«

 

Senhor Queirós ging schon auf Mitte achtzig zu, und der Herrgott, zu dem er täglich betete, sollte ihm noch exakt 18 weitere Jahre schenken, bei eingeschränkter Gesundheit und wachem Geist, sodass er von diesem Tag also noch weitere 6.570 Tage erzählen konnte. Vorzugsweise seinen Enkeln, die mit eiserner Disziplin zuhörten und lächelten, denn wenn der Alte es sich auf den letzten Metern nicht noch anders überlegte, würden sie natürlich erben.

Wie dieser große Mann also die Böschung runterkam, mehr rutschte als lief, wie er – warum trat so jemand nicht bei den Olympischen Spielen für Portugal an? – sich über den Zaun schwang und ein Springmesser zückte.

Er hat es noch im Flug gezückt, Opa? Wie so ein Superheld?

Wisch dir das Grinsen aus dem Gesicht, João, oder ich enterbe dich. Und noch was: Eine Steigerung von Held gibt es nicht.

Die Klinge also hervorschnellen ließ, dass Senhor Queirós dachte, also die Stunde seines Todes. Und dass der Tag dafür vielleicht ein guter war. Nicht, dass er das war, ganz im Gegenteil, er war nachts mit dem kleinen Zeh an der Bettkante hängen geblieben, und dann war ihm am Morgen auch noch der Kaffee ausgegangen. Aber welcher Tag war schon gut zum Sterben?

Also hatte Senhor Queirós beschlossen, seinem Tod mit Optimismus zu begegnen.

Aber der Sensenmann stieß nicht zu, sondern kappte ein Stück seines Gartenschlauchs und rannte wie ein Besessener wieder hoch, und als Queirós rief: »Hey, mein Schlauch!«, rief der Tod zurück »Klappe!«.

»Unvorstellbar, oder? Habt ihr so was schon mal gehört?«, fragte er seine Enkel.

»Erst viertausendmal.«

»Pass auf, dass du nicht enterbt wirst.«

 

»Graciana!«

Sie und Rafaela Romão hatten den Druckverband gerade fertiggestellt. Sie sah zum Straßenrand, wo Carlos’ roter Kopf auftauchte. Er schleuderte ihnen den Schlauch zu, den Graciana fing und an Lost reichte.

Der führte Duarte das eine Ende sanft in den Mund ein.

Aus dem Handy, das die Verbindung zu der Doutora aufrechterhielt, waren nun Rotoren zu hören.

»Ich führe den Schlauch ein«, rapportierte Leander.

»Achten Sie auf Geräusche aus seinem Körper, legen Sie das Ohr ans andere Ende.«

Das tat er.

»Und dann?«

»Wenn der Atem am lautesten ist, sind Sie am Ziel: in der Lunge.«

Stück für Stück schob er den Schlauch tiefer in Duartes Rachen.

»Ist der Nacken stabilisiert?«

»Nein.«

»Jemand muss den Nacken umfassen …«

Carlos war schon zur Stelle.

»… und den Kopf leicht anheben. Und so halten.«

Carlos Esteves hielt den Hals von Miguel fest gestützt.

»Die Atemgeräusche sind jetzt sehr laut«, berichtete Lost, während die Rotorengeräusche am anderen Ende die Verständigung fast unmöglich machten.

»Das ist gut – Sie sind in der Luftröhre angekommen! Sie können jetzt stoppen. Aber fixieren Sie den Schlauch mit Klebeband.«

Toninho griff in den Verbandskasten und reichte ihnen das Klebeband. Graciana und Leander sahen, dass seine Hand zitterte.

»Toninho, geh rüber und schau nach, wo der Rettungswagen bleibt, und sag uns, wenn du ihn siehst.«

»Wir werden ihn hören«, schaltete Leander sich ein.

Graciana seufzte: »Geh, Toninho. Vielleicht hat er die Sirene nicht an.«

Toninho nickte und stakste ein paar Meter bergab und dann zur Seite. Graciana blickte ihm nach und bemerkte Carlos’ Blick nicht, der sie erfasste. Ihr Profil. Die Linien tausendmal nachgefahren. Frisch erblindet hätte er es auf den Millimeter genau nachzeichnen können.

Er lag hier und roch das Eisen von Duartes Blut, er hielt den Mann eng umfasst, aus dem das Leben strömte, er wünschte, er hätte sich nicht mit ihm gestritten, und er begriff mit einer Vehemenz, die ihm den Atem raubte, die absurde Nichtigkeit ihrer Differenzen.

Und im gleichen Augenblick erkannte Graciana schon viel mehr als Toninho selbst, welch schlaflosen Nächte, welche Albträume ihn erwarteten, und schickte ihn deshalb fort, damit er den Anblick nicht länger in sich aufnahm. Den Anblick, den er verursacht hatte.

Ihre Umsicht wärmte ihn.

»Ich bin jetzt in dem Helikopter. Hören Sie mich?«

Mit einem Mal war die Verbindung nahezu frei von Nebengeräuschen.

»Praktisch einwandfrei.«

»Wie ist der Puls?«

Graciana, die mithörte, legte ihre Finger sanft auf Duartes Halsschlagader. Seine Haut war kalt.

»Der Rettungswagen kommt!«, rief Toninho.

»Flach. Flach und schnell.«

»Er hat zu viel Blut verloren«, schloss Oliveira, »geben Sie ihm Blut – legen Sie die Beine hoch!«

Als sie es taten, sprangen die Sanitäter aus dem Rettungswagen.

In diesem Augenblick öffnete Duarte die Augen. Er sah Leander über sich gebeugt. Und musterte ihn mit vorsichtiger Neugier wie einen Fremden. Für einen Moment nur. Dann begannen die Lider zu flattern, die Pupillen drehten hoch und verschwanden, und dann schloss Miguel Duarte die Augen.