Der Atlantik lag weit und ruhig. Der Himmel über der Ostalgarve spannte sein wolkenloses Blau. Nichts schien sie in ihrer Ruhe stören zu können. Nicht die Sirenen, nicht das hektische Treiben auf der gesperrten Autobahn, wo der Helikopter landete und dann mit Duarte wieder abhob – all das ging an ihnen vorbei. Die Angelegenheiten der Menschen interessierten sie nicht. Sie würden all das überdauern.
Toninho saß auf einer Holzbank, wo das Grundstück der Villa Canto das Baleias endete und er aufs Meer blicken konnte. Eng neben ihm Zara, den Arm um seine Hüfte gelegt. Sie schwiegen.
»Stell ihm keine Fragen, es sei denn, er will – du wirst es spüren«, hatte Soraia Rosado ihr mit auf den Weg gegeben. Graciana hatte ihr am Telefon knapp berichtet, was passiert war. Dass die Not-OP schon eine Stunde dauerte und Duartes Leben wohl am seidenen Faden hing. Und Toninho sich dafür die Verantwortung gab.
»Es war mein Fehler«, hatte er tatsächlich als Erstes nach seiner Ankunft gesagt, »mein Fehler allein.«
Soraia hatte ihn in den Arm genommen und sanft über den Rücken gestrichen. Noch konnte er sich beherrschen, aber sie spürte, lange würde ihm das nicht mehr gelingen.
»Geh ins Casinha zu Zara. Schlaf ein wenig, wenn du kannst.«
Er konnte nicht.
Und jetzt saß er mit ihr auf der Bank, während Soraia auf dem Gaskocher den Eintopf aufwärmte, den ihre Mutter ihr vorbeigebracht hatte: Favas com carne e chouriço. Weiße Bohnen mit Schweinefleisch und Chorizo. Soraia und Graciana hatten es als Kinder oft gegessen. Als Elias noch da war, ihr großer Bruder.
Die Schüsse oben am São Miguel waren bis zur Küste zu hören gewesen. Ganz Fuseta sorgte sich, es gab in den Restaurants und Bars an diesem Abend kein anderes Gesprächsthema.
Informationen sickerten über Ana Gomes und Rui Aviola durch, die beiden GNR -Beamten aus Moncarapacho, die zu dem brennenden Fahrzeug in Quelfes gefahren waren.
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich selbst die allerkleinste Information und trieb in Form von Vermutungen und Gerüchten bunte Blüten. Wer an diesem Abend durch Fuseta oder Moncarapacho schlenderte, schnappte ausschließlich Gesprächsfetzen auf, die mit dem Überfall zu tun hatten:
»Duarte.«
»Kann böse ausgehen.«
»Vielleicht eine Millionenbeute.«
»Bestimmt waren es Spanier.«
»Einen von denen hat es auch erwischt.«
Nachdem Gabriel Alves in der Notaufnahme in Faro versorgt worden war, setzte Rafaela Romão sich zu ihnen auf den Flur. Das Licht war kühl, und es roch nach Desinfektionsmitteln.
»Wie geht es Senhor Duarte?«
Carlos deutete ein Achselzucken an. Romão verstand.
»Und Ihrem Mann?«
»Die Wunde ist versorgt. Er wird jetzt nach Portimão überführt. Ich wollte mich verabschieden und bedanken, dass Sie alle zur Stelle gewesen sind.«
»Sie ja auch«, sagte Carlos.
»Stimmt. Jedenfalls … der Raub fällt in Ihr Hoheitsgebiet, aber … es wäre uns Anliegen und Bedürfnis, Sie in den Ermittlungen zu unterstützen. Ich bin der Meinung und auch Gabriel lässt es Ihnen ausrichten.«
»Obrigada «, gab Graciana zurück. Sie hatte eine feine Antenne dafür, wenn etwas nicht aus Höflichkeit, sondern aus Anstand und echter Teilnahme geschah: »Wir kommen gerne darauf zurück.«
»Das werden wir«, bestätigte Carlos Esteves.
Kaum war die Kollegin gegangen, wandte Leander Lost sich an die beiden: »Auf der gegenüberliegenden Straßenseite gibt es ein Bistro. Ich habe Kunden beobachtet, die dort etwas zum Mitnehmen gekauft haben. Ich könnte uns eine Kleinigkeit zu essen besorgen.«
»Kein Hunger, Senhor Lost, danke«, sagte Graciana und sah zu Carlos. Der schüttelte den Kopf.
Leander schloss kurz die Augen und bewegte sich in seinem Gedächtnis rückwärts, den Tag entlang zurück, die verschiedenen Situationen, bis er sich im Geist wieder auf dem Green des Rainha -Resorts befand. Dort hatte Senhor Esteves das letzte Mal gegessen. In Anbetracht des Umstands, dass der Sub-Inspektor im Dienst statistisch gesehen spätestens alle 50 Minuten etwas zu sich nahm, war das hier heute ein Ausreißer.
Als sie vorhin Carlos’ Privatwagen – ein altersschwacher, aber sehr gemütlicher Mercedes – abgeholt und Toninho in der Casa Canto das Baleias abgesetzt hatten, war Lost ebenfalls ausgestiegen.
»Wollen Sie nicht mit?«, hatte Carlos Esteves irritiert, aber ohne jeden Vorwurf in der Stimme gefragt.
»Lass«, hatte Graciana sanft gesagt.
»Mit wohin?«
»Ähm, in die Klinik.«
»Wozu?«
»Wozu? «, fragte Carlos verdutzt.
»Ja.«
Leander hatte Erstaunen in ihrer Mimik gelesen. Erstaunen gehörte zur Unterfamilie der Basisemotion Überraschung. Ihre mimischen Merkmale: hochgezogene Augenbrauen (wobei sie ihre natürliche Bogenform erhalten im Gegensatz zu ihrem noch zusätzlich zusammengezogenen Status bei Angst), hochgezogenes Augenlid, geöffneter, aber entspannter Mund.
Auch für die Unterscheidung von echter und gespielter Überraschung gab es ein Kriterium: Zeit. Die authentische Überraschung dauerte etwa eine Sekunde. Alles darüber hinaus war vorgetäuscht.
Die Überraschung der beiden war echt, hatte Leander erfasst.
»Aus Sorge um Senhor Duarte«, hatte Graciana gesagt.
Leander war irritiert. »Muss man dazu im Krankenhaus sein?« Das entbehrte jeder Logik. Ganz gleich, was die nähere Zukunft von Miguel Duarte betraf, sie waren zur Passivität verurteilt. Ob sie sich um ihn sorgten, beeinflusste den Ausgang der Notoperation nicht. Und noch viel weniger, von wo aus sie sich sorgten: von einem Gang in der Klinik oder von hier aus, in Fuseta. Oder den Bahamas.
Trotz der Schwere, die auf Graciana und ihm lastete, hatte Carlos doch etwas schmunzeln müssen, weil er begriff, wo das Problem lag. Und als er zu Graciana blickte, sah er, dass sie dasselbe dachte.
»Nein«, sagte sie, »das kann man von überall. Es gibt dafür keine logische Erklärung, aber ich empfinde den Wunsch, so nahe wie möglich bei ihm zu sein und so schnell wie möglich zu erfahren, ob … wie das Ergebnis sein wird.«
»Ich auch, Senhor Lost«, ergänzte Esteves und legte den ersten Gang ein, »aber es ist völlig in Ordnung, wenn Sie sich von hier aus sorgen.«
Dank seiner eidetischen Fähigkeiten war Leander Lost in der Lage zu erkennen, wenn ein Mensch log. Weil er jene Mikroexpressionen analysieren konnte, die für ein paar Nanosekunden bei jedem Menschen zu sehen waren und die wahre Emotion abbildeten, bevor das Bewusstsein die Mimik übernahm – und verfälschte.
Carlos Esteves jedenfalls log nicht.
Und trotzdem hatte Leander beschlossen, die beiden Kollegen in die Klinik nach Faro zu begleiten.
Hätte ihn jemand um eine logische Herleitung dafür gebeten, er hätte passen müssen. Es gab keine. Er hatte nur begriffen, wie wichtig es ihnen war, und manchmal brauchte es in einem Team nicht mehr.
Nun saßen sie also zu dritt im Flur der Klinik und warteten.
Esteves spazierte auf und ab und kam nur zur Ruhe, wenn er am offenen Fenster eine rauchte. Graciana Rosado hingegen saß bewegungslos auf ihrem Stuhl.
Lost setzte sich neben sie, um ihr ein Beistand zu sein, aber sie schwieg. Er schien ihr keine Hilfe zu sein. Also stellte er sich neben Carlos ans Fenster.
»Das ist aber auch eine Nacht, was?«
Da Esteves nur nickte, schlussfolgerte Leander, dass ihm nicht nach Small Talk zumute was – dabei hätte Leander einen gut gefüllten Köcher an Onelinern parat gehabt.
Stattdessen rauchte Carlos Esteves eine nach der anderen.
Um 4:37 Uhr erreichte Graciana Rosado ein Anruf aus Sevilla – Duartes Vater, der sich nach dem Zustand seines Sohnes erkundigte. Eine sonore, tiefe Stimme, in der ein Schmerz mitschwang, der über den fragilen Zustand des ältesten Sohnes hinausging. Ein Bedauern an die Welt.
»Halten Sie mich auf dem Laufenden, Señora.«
Graciana verstand es nicht falsch: Das war ein Befehl.
»Das werde ich t…«
Da hatte der Vater schon aufgelegt.
»Wundert’s einen da noch?«, frage Carlos, der genug von dem Gespräch aufgefangen hatte.
Gegen 6:15 Uhr war Graciana eingenickt.
Carlos und Leander standen nur wenige Meter von ihr entfernt an dem Fenster, an dem Esteves seine zwölfte Zigarette rauchte (Leander hatte mitgezählt).
»Darf ich Sie etwas Persönliches fragen?«
»Versuchen Sie’s«, sagte Carlos müde.
»Erzählen Sie mir, warum Sie Polizist geworden sind?«
Carlos sah überrascht auf – es kam selten vor, dass Lost sich nach persönlichen Dingen erkundigte. Andererseits war der Beruf natürlich ein Feld, das sich mit dem des Alemão überschnitt.
Losts Motivation sah jedoch noch etwas anders aus, als sein Kollege vermutete. Er hatte eine Studie gelesen, die zu dem Ergebnis kam, dass ein Gespräch umso befriedigender empfunden wurde, desto mehr der Befragte dabei zu Wort kam. Sprich: ein hoher eigener Redeanteil ließ einen ein Gespräch im Nachhinein positiver bewerten. Deshalb hatte er Carlos diese Frage gestellt. Die Antwort war ihm gleichgültig, Carlos sollte sich nur besser fühlen.
Doch bevor der anfangen konnte, seine Geschichte zu erzählen, öffnete sich die Tür zum OP -Raum, und die Ärztin kam heraus. Sie nahm den Mundschutz ab, die Ränder hatten sich tiefrot in ihre Haut gegraben. Sie wirkte ermattet.
Graciana war bei dem Geräusch der Tür aus ihrem leichten Schlaf erwacht und sofort aufgestanden: »Ja?«
»Ihr Kollege ist knapp über den Berg. Er hat unfassbares Glück gehabt: Das Projektil ist nicht in den Kopf eingedrungen. Es muss sich um einen Querschläger gehandelt haben, wenn man den Winkel und die Wucht berücksichtigt. Es gab einen Knochenabriss, und eine Ader an der Stirn wurde aufgerissen, daher auch die starke Blutung. Mindestens genauso schlimm war aber wohl der Schock. Wir hatten Schwierigkeiten, den Blutdruck und die Herzfrequenz unter Kontrolle zu bringen. Wir können aktuell noch nicht ausschließen, dass das Gehirn bis zum Behandlungsbeginn unterversorgt war. Aber wir rechnen nicht mit einer massiveren Hirnschädigung.«
Ein Schub ging durch Graciana Rosado. Ging hindurch und brach sich an ihren Wimpern.