Ein riesiger Schwarm kleiner Vögel, kaum mehr als geflügelte Punkte, zeichnete irrwitzige Formen über dem Meer. Ganz so, als folgten sie in einem Himmelsballett einer für Menschen nicht wahrnehmbaren Melodie.
Carlos steuerte den Mercedes über die N 125 nach Hause. Er befand sich in jener hellwachen Phase absoluter Übermüdung. Die Müllabfuhr leerte die Sammelcontainer, die letzten Barbesucher schlichen nach Hause. Die Fischer lieferten ihren Fang an den Markthallen ab: Fische Krebse, Oktopusse, Garnelen und Muscheln landeten auf Eis. Die Männer gingen müde nach Hause, ein paar sprangen noch unter die Dusche, die anderen fielen gleich ins Bett.
Möwen stiegen auf und besetzten kreischend Laternen und die Holzpflöcke der Kais in den Marinas. Von dort aus hielten sie Ausschau nach Frühstück: Fischschwärme, die zu nahe an der Wasseroberfläche schwammen, oder unvorsichtige Einsiedlerkrebse.
Die Bedienungen stellten Stühle und Tische raus auf die Plätze und Gehsteige, wischten nass über die Schiefertafeln und kritzelten mit weißer Kreide die Angebote des Tages darauf.
Die Flamingos, die in den Salinen übernachtet hatten, erwachten aus ihren einbeinigen Träumen, setzten das andere Bein ab, reckten die Hälse, streckten sich und öffneten majestätisch die Flügel.
Antonio Rosado erwachte neben seiner Frau und küsste sie sanft auf den Bauch. Sie öffnete die Augen, als gerade eine leichte Brise den weißen Vorhang vor dem Fenster nach innen bauschte und den Blick auf den blauen Himmel freigab. Sie setzte sich auf, küsste seine Schulter und genoss die Wärme seiner Haut. Er lächelte auf diese Art, die sie so liebte.
Zara erwachte neben Toninho, der irgendwann doch noch eingeschlafen war. Sie schaute ihn an, prägte sich seine Konturen ein. Dann schlüpfte sie aus dem Bett des Casinhas, schloss leise die Tür hinter sich und setzte Kaffee auf. Sie sah, wie sicherlich zwei Dutzend Flamingos aufstiegen und die Salinen verließen.
Die Markthallen in Tavira, Fuseta und Olhão füllten sich allmählich mit Käufern. Verschlafene Köche, die die Fänge der Nacht sicherten. Sie betasteten die Fische, ihre Finger fuhren sachkundig über die Haut und drückten sie ein, um zu sehen, wie schnell sie wieder in ihre ursprüngliche Form fand.
Erste Gäste betraten die Cafés. Auf den Breitwandfernsehern knapp unterhalb der Decke liefen stumm die Nachrichten oder ebenso lautlos die Höhepunkte des gestrigen Fußballspiels. Bauarbeiter und Rechtsanwältinnen, Lehrer und Friseurinnen standen an der Theke nebeneinander, tranken die obligatorische Bica und hielten ein Schwätzchen, bevor sie sich allesamt in den neuen Tag aufmachten.
Und die Katzen, natürlich, reckten sich noch mal ausgiebig und legten sich schlafen.
Carlos befand sich in einer halb liegenden Position auf seinem Autositz, die Augen rotgerändert. Er steuerte den Mercedes mit traumwandlerischer Sicherheit aus Olhão hinaus. Vorbei an der verstaubten Tankstelle und dem Hähnchengrill am Kreisverkehr. Und dann rechts ab Richtung Fuseta. Man konnte das Meer sehen. Und riechen!
Carlos Esteves atmete den Geruch tief ein.
Er hatte den Sender auf der Frequenz 93.4 eingestellt, O Repetição, der zwischen 7 und 8 Uhr morgens stets drei Stücke in Schleife spielte. Im Augenblick lief Private Investigations von den Dire Straits.
Graciana saß neben ihm und zog an einer Selbstgedrehten, obwohl sie eigentlich nicht rauchte. Sie ließ den Blick über die Küste und die vorgelagerte Insel schweifen. Man konnte auf der dem Atlantik zugewandten Seite der Ilha da Armona, so ihr Name, im Sand laufen, ohne jemandem zu begegnen. Außer vielleicht ein paar Fischreihern.
Carlos spürte etwas Dunkles, das von ihr ausging, und das er nicht benennen konnte. Etwas, was er bei Graciana noch nie empfunden hatte.
Leander Lost saß auf der Rückbank. Seine Gedanken kreisten nicht um diffuse Gefühle oder seltsame Atmosphären, er war dicht am Fall: Wer war der Mann, den Rafaela Romão oben bei dem Schusswechsel hatte ausschalten können? Woher kannten die Räuber die Route des Transporters? Und was hatten sie erbeutet?
Womit waren die Fahrer betäubt worden und wie? Und was war so wertvoll, um sich auf die Schießerei einzulassen, statt sofort die Flucht auf den Motorrädern zu ergreifen?
Die GNR -Kollegen der umliegenden Gemeinden hatten den Tatort abgesperrt und den Werttransporter ebenso abgeschleppt wie die zerschossenen Einsatzwagen, von denen keiner mehr fahrbereit war.
Die beiden Bilt-Männer aus dem Werttransporter waren mit zwei Rettungswagen ebenfalls in die Klinik nach Faro gebracht worden, wo sie über Nacht unter Beobachtung bleiben sollten. Aber ihr Zustand war stabil.
Der Tote ohne Papiere wurde auf Anweisung der Doutora Oliveira, die Duarte im Helikopter notversorgte, in die Rechtsmedizin überstellt. Noch in der Nacht gab die Staatsanwaltschaft den Unbekannten für die von ihr beantragte Autopsie frei.
In Isadora Jordãos Kleidung hing noch der Geruch des Joints, den sie zum Frühstück geraucht hatte, als sie mit ihren klobigen Boots und kurz geschorenen Haaren oben am São Miguel ankam. Große Scheinwerfer tauchten den Straßenabschnitt in grelles Licht und ließen die Schatten der Polizisten auf der Bergflanke tanzen. Alles war gut ausgeleuchtet. Keine Patronenhülse, kein Blutfleck, keine Zigarettenkippe blieb unbemerkt.
Jordão trug während der Spurensicherung Airpods, denn sie arbeitete gerne mit Musikuntermalung. Manchmal war es Punk, manchmal Klassik. Aber nie ließ sie sich aus der Ruhe bringen.
Über dem Tatort herrschte eine schwer greifbare, andächtige Atmosphäre. Die Beamten der GNR sprachen leise und diskret. Alle bemühten sich, nicht unnötig Lärm zu verursachen.
Isadora erinnerte es an das Verhalten von Menschen in einer Kirche.
Ein Kollege war schwer verletzt worden. Rang um sein Leben.
Das Risiko, einer Gewalttat zum Opfer zu fallen, war an der Ostalgarve gering, sogar für Angehörige der Polizei. So gering, dass man es erst in Gedanken beiseiteschob und schließlich ganz vergaß. Und doch lebten diese Männer und Frauen hier alle mit jenem Risiko. Und die aktuellen Ereignisse riefen ihnen das schlagartig in Erinnerung. Sie alle hätten an Duartes Stelle sein können, und was wäre dann passiert? Wie hatten sie sich zu Hause verabschiedet, bevor sie zum Dienst aufbrachen? Um welche Belanglosigkeit hatte sich noch gleich der letzte Streit gedreht? Hatten sie vorgesorgt für ihre Familien? Und warum genau schoben sie die ganzen schönen Dinge seit Jahren auf?
Und ganz egal, wie sie sich verabschiedet hatten, ihnen allen war klar, es wäre um Welten anders gewesen, hätten sie gewusst, dass es das letzte Mal war.
Um 4:38 Uhr in der Nacht hatte Isadora den Tatort schließlich freigegeben. Die Scheinwerfer wurden abgeschaltet, die Absperrbänder zusammengerollt. Im Osten kündigte sich schon eine diffuse Helligkeit an. Das konnte man von hier oben, schon gut 300 Meter über dem Meeresspiegel, früher sehen.
Es würde ein heißer Tag werden.
»Mãe, ich …«
Weiter kam Graciana nicht. Raquel Rosado hatte sie schon in die Arme geschlossen. Fest.
Mitten auf der Virgílio Inglês, wo sich das Haus ihrer Eltern befand. Die Virgílio erstreckte sich vom Zentrum, dem Platz der Republik, bis hinüber zum Kanal, wo die Fischer- und Ausflugsboote vertäut lagen. Eine enge Gasse, deren linker Bürgersteig so schmal war, dass man unmöglich auf ihm laufen konnte. Außer vielleicht auf einem Bein.
Wer hier aus seiner Haustür trat, musste achtgeben, nicht bereits beim ersten Schritt überfahren zu werden.
Das Haus der Rosados war Teil einer Wand aus Reihenhäusern, die sich ohne Unterbrechung von der Einmündung bis zur nächsten Querstraße zog. Keines sah aus wie das andere, sie waren in unterschiedlichen Farben gestrichen oder mit Kacheln versehen (die landestypischen Azulejos, eine Kunst für sich). Wenige hatten Balkone, aber alle Dachterrassen. Die ersten Wäschestücke wiegten sich hier schon in der sanften Morgenbrise, die salzige Luft vom Meer mitbrachte. Gegen Mittag waren selbst schwere Kleidungsstücke innerhalb einer Stunde trocken.
Die Fensterläden waren gelb oder blau oder grün. Die Fenster selbst traditionell mit der gleichen Farbe umrandet – wegen der Geister, wie es hieß.
Die Rosados hatten einen Tisch rausgestellt und ein paar Stühle, womit die Straße praktisch blockiert war. Aber das kümmerte hier niemanden. Antonio hatte den Tisch gedeckt und sie ein paar Leckereien vorbereitet. Unruhig hatten sie gemeinsam auf die Ankunft der drei gewartet.
Niemandem hier war der laute Schusswechsel oben am São Miguel entgangen.
Von ihren Dachterrassen hatten sie die Hälse gereckt und zu spekulieren begonnen. Und dann in der Dämmerung der Rettungshubschrauber, der auf der Autobahn landete. Zwei Einwohner hatten ihn mit eigenen Augen gesehen, sie hatten im Stau gestanden. Jemand war abtransportiert worden, aber sie hatten nicht sagen können, wer.
Abends erzählten sie es im Farol, der alten Bar oben am Hafen. Und von dort ging es wie ein Lauffeuer durch den Ort.
Um schnell an relevante Nachrichten zu kommen und sie nicht erst morgen in der Zeitung aus zweiter oder dritter Hand zu lesen (meist ohne die vielen kleinen Details, die das Salz in der Suppe ausmachen), begab man sich hier in Fuseta gerne direkt an die Quelle. Und die saß in der Virgílio Inglês.
Alle paar Minuten tauchte also jemand auf und erkundigte sich bei Raquel besorgt nach Graciana und Carlos. Und dann, man höre und staune, auch nach dem Alemão Leander Lost.
Denn sein maßgeblicher Anteil an der Lösung einiger komplizierter Fälle hatte sich mittlerweile überall im Ort herumgesprochen.
Die Erleichterung darüber, dass keiner der drei mit einem Rettungshubschrauber abtransportiert werden musste, war groß in Fuseta.
Jetzt, am Morgen, hatten alle ein paar Stunden Schlaf hinter sich.
»Wir könnten rauf auf die Dachterrasse, da wären wir unter uns«, schlug Raquel vor.
Graciana zögerte und sah zu Carlos, der gerade ihren Vater Antonio begrüßte und nun den Kopf schüttelte.
»Es spricht sich sowieso herum«, meinte er dann.
Und außerdem war es schon fast zu einem Ritual geworden, den Leuten, die vorbeikamen und neugierig fragten, was vorgefallen war, Auskunft zu geben. Und wer weiß – die Bewohner waren auf ihre Art kleine Beobachter. Vielleicht war einem von ihnen eine Gruppe Motorradfahrer aufgefallen oder Männer, die im Hinterland ein paar Schussübungen absolviert hatten? Oder andere Details des Überfalls – die Art der Betäubung der Fahrer etwa –, die bei den vor ihnen liegenden Ermittlungen zutage träten und jemanden aufhorchen ließen.
»Leander!«
Etwas huschte aus dem Haus und auf ihn zu. So schnell, dass er kurz unter Zeitdruck stand, die Details ihres Gesichts einer Person zuzuordnen. Sie schloss ihn fest in die Arme und ließ ihn nicht mehr los – Soraia.
Soraia, die sich zusammenreißen wollte, aber der doch ein paar Tränen von den Wimpern tropften.
»Mein Hemd wird nass«, wollte Leander sagen. Aber wenn Menschen weinten, geschah das aus Trauer, Freude oder Rührung. Oder Erleichterung. Oder Zorn.
Trauer erschien ihm unwahrscheinlich, da Duartes Zustand zwar immer noch brenzlig war, aber für heute Nacht hatte das Leben die Oberhand gewonnen. Zorn war statistisch zu vernachlässigen, denn bisher war Soraia noch nie zornig auf ihn gewesen (oder hatte es ihm gegenüber noch nie gezeigt). Erleichterung wäre grundsätzlich plausibel, aber der Zeitpunkt stimmte nicht. Sie wusste ja seit heute Nacht, dass ihm nichts zugestoßen war. Der angemessene Zeitpunkt für Erleichterung lag gute zehn Stunden zurück.
Blieben Freude oder Rührung.
Und deshalb sagte er nichts über sein Hemd, erwiderte die Umarmung und versenkte seine Nase in ihrem Haar. Er spürte sich ihr in diesem Augenblick so nah und so eins wie in noch keiner Nacht, in noch keinem der bisherigen, gemeinsamen Momente.
Kurz blieb die Zeit stehen, und alle sahen sie auf dieses Paar, auch die Nachbarn. Da Portugiesen meist ans Schicksal glaubten, glaubten sie auch an Bestimmung. Nun, hier offenbarte sich nichts weniger als das und nahm in Form dieses Paares Gestalt an.
Dann löste Soraia sich etwas von Leander, und der Moment reihte sich ein in die Abermillionen, die vergangen waren.
»Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist«, sagte sie.
»Das wusstest du doch bereits.«
»Aber ich bin immer noch froh.«
Und plötzlich, noch während sie sich über die Augen wischte, grinste sie mit einer Intensität, die ihre Grübchen ganz besonders hervorhob. Sie liebte es, wenn sie ihn auf dem Feld der Logik verblüffen konnte. Es bereitete ihr eine diebische Freude. Ja, das zärtliche Necken hatte Leander zuallererst auf diese Art erfahren.
Dann gab sie ihm einen Kuss und umarmte Graciana und Carlos. Dieses Mal etwas länger als sonst, etwas fester.
Leander stand noch immer an derselben Stelle, Soraias Geruch in der Nase. Er musste lächeln vor Wohlbefinden.
Antonio und Raquel tauschten ein Schmunzeln. Böse Zungen behaupteten, sie seien ein klein wenig vernarrt in den Alemão. (Aber böse Zungen gab es hier bekanntlich nicht.)
»Senhor Lost«, wandte Raquel sich an ihn, »möchten Sie eine Bica?«
Diese verbale Brücke führte ihn zurück: »Ja. Und ein Glas Wasser, zimmerwarm, ohne Kohlensäure. Ein Ei, sechs Minuten, haben Sie Croissants?«
»Nur Torrada.«
»Dann nicht.«
»Wir holen Ihnen ein Croissant.«
Natürlich hätte er höflich Nein, danke sagen können, aber ihm fiel eine elegantere Verneinungsform ein, wenn auch bei identischer Informationsvermittlung geschwätziger: »Oh, bitte – keine Umstände. Nur keine Umstände!«
Er lächelte immer noch.
»Senhor Lost, guten Morgen«, sagte Antonio Rosado, der an seinen Rollstuhl gefesselt war und trotzdem auf eine Weise auftrat, die das Gegenüber sein Handicap im Nu vergessen ließ.
»Bom dia «, erwiderte Lost in der Landessprache.
Sie beließen es bei einem Nicken, denn Antonio wusste, wie unangenehm Leander Lost körperliche Berührungen wie das Händeschütteln waren.
»Meine Frau macht ein wunderbares Omelett«, sagte Antonio Rosado, während Carlos und Graciana noch zwei Tische und ein paar Stühle von drinnen auf die Straße schafften.
Leander hatte keinerlei Zweifel: Was auch immer Raquel Rosado auftischte, würde großartig schmecken.
»Ich habe ein paar Lebensmittelallergien …«
»Mach dir keine Sorgen. Keiner der Stoffe ist im Essen enthalten«, sagte Soraia, die sich neben ihn setzte und ihm nicht mehr von der Seite wich. »Ovos mexidos com farinheira.«
»Ich habe gelesen, eine Farinheira ist nur schwer zu – ergattern«, sagte Lost.
»Meinem Mann ist es gelungen«, erwiderte Raquel nonchalant. »Und er isst auf jeden Fall ein Omelett. Und ob ich nun eins oder zwei mache …«
Leander schaute sie fragend an, und sie verstand, dass er auf das Ende des Satzes wartete. Das ausgesparte Ende erschloss sich ihm nicht.
»… ist unerheblich«, erlöste sie ihn. »Wie ich das sehe, koche ich am Ende sowieso ein Dutzend Omeletts.«
Leander stimmte zu, und Raquel verschwand in ihrer kleinen Küche und begann zu zaubern. Schon beim ersten Anbraten nahmen zwei herrenlose Hunde und eine gähnende Katze an der Türschwelle Platz.
Graciana und Carlos hatten sich an den Tisch gesetzt.
Es dauerte keine zwei Minuten, da tauchte der alte Jorge mit seinem Spazierstock auf, wobei er stets Wert darauf legte, dass es sich um ein modisches Accessoire handelte und nicht etwa um eine Gehhilfe.
»Willkommen, Jorge. Setz dich doch zu uns«, sagte Graciana.
Er ließ sich nicht zweimal bitten. »Ich will nicht stören, aber es riecht sehr verlockend!«
Antonio bedachte Carlos mit einem warmen zugewandten Blick.
»Bica?«, fragte er.
»Ich möchte nicht unverschämt wirken – aber ein doppelter Medronho würde jetzt hervorragend passen. Übrigens ist der Stock hier keine Gehhilfe.«
»Wissen wir doch.«
Antonio Rosado zog nur kurz die Augenbrauen hoch, dann schenkte er dem Mann von dem Schnaps ein, der aus den Früchten des Erdbeerbaums gewonnen wurde. Águardente de Medronhos – das flammende Wasser des Erdbeerbaums.
Da er früher traditionell von Bauern im Hinterland privat gebrannt wurde, gab es ihn in vielerlei Geschmacksrichtungen. Und als die EU die privaten Destillerien verbot, machten die Bauern traditionell einfach heimlich weiter. Inzwischen gab es viele mit einer offiziellen Lizenz. Aber auch noch jede Menge, die sich nach Jahrzehnten der ungestörten Brennerei nicht von irgendwelchen studierten und gescheitelten Beamten mit weißen Hemden etwas sagen ließen. Das war nichts gegen die EU , diese Männer ließen sich ohnehin von niemandem etwas sagen. Gescheitelt oder nicht.
Von hier aus gesehen war Brüssel nämlich ungefähr so weit entfernt wie ein Mondkrater.
»Cerveja?«, hakte Antonio Rosado nach.
Carlos schüttelte den Kopf und trank den ersten Medronho. Er verzog wegen der Schärfe etwas das Gesicht und nickte Antonio dann zu, der ihm nachgoss.
»Rieche ich da einen Dom Ambrosio?«
Das war Dona Maria von nebenan, die in die Runde nickte und mit einem »Bom dia« Platz nahm.
Dom Ambrosio war einer jener alten Schwarzbrenner, der auf einem Gehöft nördlich von São Brás de Alportel lebte und dessen Medronho als der beste unter den Illegalen galt.
Glücklich, wer sich ein Fläschchen sichern konnte.
»Nein«, sagte Antonio Rosado, »Raquel hat ihn von einem Bauern aus dem Alentejo mitgebracht.«
»Ich probier ihn trotzdem«, sagte Dona Maria entschieden, woraufhin er ihr ebenfalls einschenkte.
»Da du die Flasche schon in der Hand hast«, sagte Jorge und schob ihm ein Schnapsglas über den Tisch entgegen.
»Wir haben die Schüsse gehört, ihr seid unverletzt, hieß es gestern im Farol? «, wandte Dona Maria sich an Carlos und Graciana.
»Ja, alles gut.«
Sie schlug erleichtert das Kreuz.
»Ich hab die halbe Nacht nicht geschlafen deswegen.«
Soraia nickte in einer Art, die vermuten ließ, dass Dona Maria damit nicht alleine war.
Jetzt öffnete sich die Tür gegenüber, und Fatima de Figo kam zu ihnen. Sie hatte einen hübschen Leberfleck über ihrer Oberlippe – ein Wunder, dass sie noch nicht von dem Scout einer Modelagentur entdeckt worden war.
»Wir sind alle in Sorge – bist du verletzt, Carlos?«
Sie fuhr ihm im Vorbeigehen mit der Hand von der Brust über den Hals in den Nacken. Ganz beiläufig.
»Nein«, sagte er mit einem Lächeln, das ihre Berührung quittierte und Fatima nicht verborgen blieb.
»Wir auch nicht«, schob Graciana nach und meinte damit Leander und sich.
»Danach hätte ich mich doch gleich erkundigt!«, versicherte Fatima.
»Natürlich«, sagte Graciana und deutete auf einen Stuhl, »setz dich doch, Fatima.«
Was sie umgehend tat.
Raquel Rosado stellte ein paar Tonschalen auf den Tisch: frisch aufgewärmtes Weißbrot, angeritzte Oliven, in Essig eingelegte Karottenscheiben in Knoblauch mit Koriander garniert, eine Thunfischcreme, deren Geheimnis neben den zerkleinerten Sardellen in einem Teelöffel Dijonsenf bestand. Den Thunfisch nicht zu stark püriert, nur ansatzweise, damit etwas Struktur blieb. Aber eben doch genug, damit er die Konsistenz einer Creme annahm.
»Köstlich«, lobte Dona Maria.
»Du hast noch gar nicht probiert«, lachte Raquel.
Dona Maria musste schmunzeln: »Ich weiß, dass es gut schmeckt. Ich riech’s ja schon – Riechen gehört zum Essen.«
Raquel stellte noch etwas ab, und Graciana sah, dass ihr die Hand leicht zitterte. Ihre Mutter kehrte ins Haus zurück.
Dona Maria verzog unwillkürlich beim ersten Bissen das Gesicht. Und dann ging es auch den anderen so, sogar Antonio Rosado.
»Das ist angebrannt. Komisch. Und das hier … das auch.«
»Das ist ihr noch nie passiert.«
»Der Essig ist zu viel.«
»Ich traue mich kaum, es zu sagen, aber: Die Creme ist versalzen.«
Die Gäste warfen sich ratlose, besorgte Blicke zu. So etwas hatte sich in der Virgílio Inglês noch nie ereignet.
»Das war zu viel für sie, die Arme ist völlig mitgenommen«, sagte Dona Maria, und die anderen nickten.
»Bom dia! Ich hab gehört, den Spanier hat’s erwischt?«
Senhor Rossi, der attraktive Halbitaliener, kam des Weges. Er zog im Anzug und einer Zigarette seine Morgenrunde, bevor er seine Weinhandlung aufschloss. Er nahm zwischen Carlos und Jorge Platz.
»Er ist über den Berg«, sagte Carlos.
»Meine Tante lebt oben am Fuß des Miguel«, sagte Fatima und strich sich das Haar aus dem Gesicht, damit Carlos einen freien Blick auf sie hatte, »und sie hat am Telefon gesagt, dass mehrere Minuten lang geschossen worden ist.«
Graciana ging nicht aus dem Kopf, wie die Hand ihrer Mutter gezittert hatte. Also folgte sie ihr nach drinnen.
Der schmale Flur. Die Gerüche der verschiedenen Gerichte, die hölzerne Bank in der Küche, auf der sie als Kind neben Soraia gesessen hatte. Neben Soraia und Elias.
»Mãe, alles in Ordnung?«
Ihre Mutter hatte regungslos mit dem Rücken zu ihr am Herd gestanden. Jetzt ergriff sie schnell den Kochlöffel und rührte etwas um.
»Sim«, sagte Raquel.
Graciana stutzte. Ihre Mutter wandte ihr immer das Gesicht zu, wenn sie mit ihr sprach. Die milden Züge, der sanfte und kluge Blick. In ihrer Mutter wohnte ein großes Wohlwollen für die Menschen in ihrem Leben – außer, jemand übertrat ihren Kindern gegenüber eine rote Linie. Da gab es kein Pardon.
Graciana stutzte, als sie sah, was ihre Mutter da umrührte: Wasser.
Sie konnte sich keinen Reim auf das alles machen. Intuitiv lehnte sie sich von hinten an sie und nahm sie in den Arm. Raquel ließ den Kochlöffel los und drehte sich zu Graciana um. Sie hielt ihre Tränen im Zaum, aber ihre Augen glänzten feucht.
»Ich möchte nicht noch ein Kind verlieren, Grace«, sagte sie leise. Dann schenkte sie ihr ein trauriges Lächeln, küsste sie sanft auf die Stirn und wandte sich wieder dem Herd zu. Das Gespräch war beendet, und Graciana hatte verstanden.
Draußen hatte sich eine bunte Traube an Gästen und Zuhörern versammelt, der Carlos Esteves schilderte, was vorgefallen war.
»Wir sind oben am São auf sie getroffen …«
»Bei Kilometer 4,6«, ergänzte Leander.
»Genau. Und die Kollegen lagen schon im Schusswechsel mit denen.«
Antonio Rosado hörte mit nahezu unbewegter Miene zu. Er saß da in seinem Rollstuhl, wie er in ihrer Familie saß, ja, im ganzen Ort: wie ein Fels.
»Die Kollegen aus Portimão«, mischte Jorge sich ein, während er zwei Kroketten mit Bacalhau auf einmal zu essen versuchte, »die sind dann abgaue, nehm-an?«
»Was? Gott, Jorge…«
»Ob abgaue sin …«
»Ob die abgehauen sind?«
Jorge nickte. Es gab noch Verständnis unter den Menschen.
»Nein. Der eine Kollege ist angeschossen worden«, berichtete Graciana, »und seine Kollegin hat einen der Täter … ausgeschaltet.«
Stille.
Alle Blicke ruhten auf ihr.
»Ausgeschaltet? Wie?«, brachte Senhor Rossi die Frage, die sie alle bewegte, auf den Punkt.
»Sie hat ihn erschossen«, sagte Carlos.
Er war pappsatt. Aber als hätte eine außerirdische Macht die Kontrolle über seinen rechten Arm und die Hand übernommen, musste er das frisch duftende Brot trotzdem in die Thunfischcreme eintunken – und essen.
»Es heißt, der Spanier ist am Kopf getroffen worden.«
Leander merkte auf: »Woher haben Sie das?«
»Was man so hört.«
Leander wollte gerade zu einer Nachfrage ansetzen, aber Graciana kam ihm zuvor.
»Sein Name ist Duarte«, sagte sie ruhig, aber unter den vier Worten lag eine gewisse Entschlossenheit.
»Aber er ist Spanier«, setzte Jorge nach.
Soraia warf ihm einen langen Blick zu. Dann begriff Jorge und räusperte sich: »Aber er ist Spanier der … Senhor Duarte.«
»Er gehört zu unserem Team«, sagte Carlos ruhig und sein Blick war klar und unverbrüchlich.
»Ich dachte, weil er eben Spanier ist …«, versuchte Jorge zu erklären.
»Es gibt auch nette Spanier«, warf Soraia ein.
Kurz senkte sich Stille über die Gruppe, und alle überlegten, wer das wohl sein könnte. Aber ihnen fiel niemand ein.
»Ist er nett?«, wollte Dona Maria wissen.
Carlos blies die Wangen auf.
»Er wird jedenfalls durchkommen«, sagte Graciana rasch, um das Thema zu beenden.
»Aber mit einer Kugel im Kopf«, gab Jorge zu bedenken, »da ist er doch dann mindestens plemplem.«
»Er hat keine Kugel im Kopf.«
»Ach so.«
»Er hat nur viel Blut verloren. Vielleicht war das Gehirn unterversorgt. Wir wissen noch nicht, was mit ihm wird.«
»Bestimmt plemplem.«
»Wie gesagt: Wir wissen es nicht.«
»Wo genau am Kopf hat es den armen Mann denn getroffen?«, hakte Dona Maria nach.
»An der Stirn«, antwortete Leander.
Sie schlug wieder das Kreuz und schien ehrlich bestürzt.
»Das kann man wohl kaum ohne Schaden überleben …«
»Doch, durchaus.«
Alle Augen richteten sich auf Leander Lost: »Das menschliche Gehirn liegt nicht direkt hinter der Stirn. Zudem ist die Kugel nicht eingedrungen. Eine massive Hirnschädigung ist eher unwahrscheinlich.«
Alle nickten, aber kaum jemand glaubte ihm ein Wort. Raquel, die sich zwar beruhigt hatte, aber auf ihre Tochter immer noch dünnhäutig wirkte, stellte ein paar Schalen mit einer hellbraunen Creme auf dem Tisch ab.
»Großartig«, sagte Leander. »Kamelspucke.«
Baba de Camelho sah wirklich nicht sehr appetitlich aus, schmeckte aber umso besser.
Mitten in der Virgílio Inglês stand ein riesiger Elefant, den niemand anzusprechen wagte.
Bis auf den, der den Elefanten nicht sah: Lost.
»Senhor Rosado, sehen Sie Parallelen zu dem Überfall auf den Werttransporter am 23. Juni 2011?«
Die Absolutheit der Stille, die auf Leanders Frage folgte, war von einer fast unwirklichen Reinheit. Als sei die Welt von einem Moment in den anderen in einen lautlosen Zustand gekippt.
»Code 249« rangierte im Funkverkehr der portugiesischen Polizeieinheiten auf Platz 3 der Dringlichkeitsstufe. Es kam direkt nach nationalen Notfällen und bedeutete: Polizeibeamter in Not.
Ein gepanzerter Geldtransporter war am 23. Juni 2011 keine drei Kilometer von hier bei Luz de Tavira in einen Hinterhalt geraten. Eine Bande Schwerbewaffneter hatte ihm die Reifen zerschossen und die Fahrer mit einer Panzerfaust bedroht, die deren Kabine zerfetzt und sie sofort getötet hätte – also ergaben sie sich und verschafften den Tätern so Zugang zu dem Geld.
Doch dann war Antonio Rosado aufgetaucht, er war auf einer Routinefahrt und wollte in Luz im Chic Zé eine Kleinigkeit essen.
Als er sich mit dem Einsatzwagen dem Überfall näherte, erfasste er die Situation umgehend und setzte den Code 249 ab.
Das bedeutete, dass jeder Polizeibeamte, der sich in einem Umkreis von 20 Kilometern befand, sofort alles stehen und liegen ließ und ins nächste Einsatzfahrzeug sprang, um mit Blaulicht und Sirene und Höchstgeschwindigkeit dem Kollegen in Not zur Hilfe zu eilen.
Es war eine Art Notruf unter Polizisten.
Und der Kollege, der dieser Position am nächsten war, hieß Elias Rosado.
Sein Vater Antonio leitete das GNR -Revier in Moncarapacho, in dem Elias seit drei Jahren seinen Dienst versah. Für die Beamten hier und in den Nachbarorten war es keine Frage, dass der junge Mann eines Tages in die Fußstapfen seines Vaters treten und dieses Revier übernehmen würde.
Elias war die ideale Mischung der Persönlichkeiten seiner Eltern. Ihm war sowohl die Durchsetzungskraft und natürliche Autorität seines Vaters gegeben als auch die Empathie und Sensibilität seiner Mutter. Obendrein war er noch klug.
Und er war ein Mann, auf dem die Blicke der Frauen länger verharrten als bei anderen Männern.
Sein Vater Antonio lud beim Aussteigen die Schrotflinte durch, legte aus der Hüfte auf die Kriminellen an und sagte: »Ich bin Antonio Rosado von der GNR . Sie sind hiermit vorläufig festgenommen. Legen Sie die Waffen ab und sich selbst bäuchlings auf die Straße.«
Noch bevor er die letzten Worte ausgesprochen hatte, eröffneten sie das Feuer, das er erwiderte.
Als Elias nur vier Minuten später eintraf, fand er seinen Vater schwer verwundet auf dem Boden. Unfähig aufzustehen und mit Beinen, die sich seiner Kontrolle für immer entzogen hatten.
Zwei der Männer lagen ebenfalls auf dem Asphalt. Drei wollten sich gerade auf Motorrädern absetzen. Elias schoss, und sie schossen zurück.
Eine der Kugeln traf ihn mitten ins Herz.
Elias Rosado war schon tot, als er neben seinem Vater auf dem Asphalt aufschlug.
Zur Beisetzung oben an der Igreja Matriz in Fuseta, von wo aus man den ganzen Ort überblicken konnte, waren Hunderte gekommen, während Antonio Rosado in der Klinik in Faro den Kampf seines Lebens ausfocht – und ihn nach zwei Wochen gewann.
All das lief binnen einiger Sekunden vor seinem inneren Auge ab, während er Jahre später in der Virgílio Inglês vor seinem Haus saß und die Frage von Leander Lost diesen Film ausgelöst hatte. Ihm war, als presse eine Faust seine mächtige Brust zusammen.
»Nein«, antwortete er leise und blickte dabei absichtlich zu Boden, damit Leander die Lüge nicht durchschauen konnte, »nein, ich sehe keine Parallelen.«
Es war die einzige strategisch richtige Antwort. Ansonsten hätte die Sub-Inspetora Graciana Rosado wegen Befangenheit in dem jetzigen Fall nicht ermitteln dürfen. Das wusste er natürlich, der alte Fuchs.