Das Zauberwort lautete Ringfahndung.
Ulisses kannte zwar diese Standardmaßnahme der Polizei nach Raubüberfällen, wenn Tätern die Flucht gelungen war, nur zu genau. Ausfallstraßen wurden abgesperrt, Autos und deren Insassen genauestens kontrolliert. GNR -Polizisten mit Schutzwesten und Maschinenpistolen sicherten diese Kontrollen. Hubschrauber stiegen auf und überflogen das Suchgebiet, um den Polizisten am Boden Hinweise auf verdächtige Fahrzeuge, etwa auf Feldwegen, zu geben.
»Der Hase, der wegläuft, wird zu Tode gehetzt«, hatte ein älterer Insasse im Knast von Porto Ulisses einmal gesagt, »der Hase, der sich versteckt, überlebt.«
Das Geheimnis, einer Ringfahndung zu entkommen, bestand darin, den Ring überhaupt nicht zu verlassen. Dazu hatten sie im Vorfeld alle notwendigen Vorbereitungen getroffen.
Sie hatten in nur einem Kilometer Umkreis um den Tatort herum zwei Ferienhäuser mit falschen Pässen angemietet und sie bereits vor über zwei Wochen bezogen, sodass bei den Ermittlungen keine akute zeitliche Nähe zwischen Einzug und Überfall für die Polizei ersichtlich wäre.
In dem einen Haus waren Ulisses, sein Bruder und Sol untergekommen. In dem anderen die restlichen drei: Nuno Vieira, der Monteur, Ricardo Cabral, der Bote, und schließlich Gonçalves Amado, den es erwischt hatte.
César und er hatten nach ihrer Flucht mit den schnellen Motorrädern etwa zwei Kilometer vom Tatort entfernt eine von Pinien beschattete Ausbuchtung angesteuert. Hier wartete das Kurierfahrzeug. Cabral, der Bote, schob eilig eine Rampe heraus, über die die Brüder Cruz mit den Maschinen direkt in den Laderaum fuhren, der sofort wieder verschlossen wurde.
Sie wechselten die Kleidung und verließen den Transporter keine zwei Minuten später in Sportkleidung, mit Fahrradhelmen und auf E-Bikes.
Während Cabral zum nur 500 Meter entfernten zweiten Haus fuhr und den Wagen dort in einer Garage abstellte, um sich danach seelenruhig in den Pool zu legen, radelten Ulisses und César zurück.
Am Tatort winkte sie jemand genervt an der Seite durch.
Amado lag noch dort, mausetot, dazu ein halbes Dutzend GNR -Beamte, die nervös wirkten und sich kopfschüttelnd die zerschossenen Autos ansahen.
Jetzt, da die Brüder Cruz sich nicht mehr mit Adrenalin bis zum Haaransatz im Feuergefecht befanden, konnten sie einen ruhigeren Blick auf das werfen, was sie hier veranstaltet hatten. Und ja, es sah aus wie ein Kriegsschauplatz.
Was sie nicht erschütterte, sondern lächeln ließ.
Portugiesen fuhren grundsätzlich kein Fahrrad. Wenn sie von Zweirädern sprachen, handelte es sich fast ausschließlich um welche mit Motor.
Nur Irre kamen auf die Idee, bei mittäglicher Bruthitze eine heiße Asphaltstraße hochzustrampeln, wo man das doch bequem auf einer Vespa oder in einem klimatisierten Auto erledigen konnte.
Touristen waren hier sehr willkommen, sie bildeten die Haupteinnahmequelle der Algarve. Man behandelte sie zuvorkommend und brachte ihnen echte Gastfreundschaft entgegen. Was niemanden davon abhielt, hinter ihrem Rücken über ihre Eigenarten und Marotten den Kopf zu schütteln.
Ulisses wusste das und spekulierte genau darauf.
Niemand würde zwei Männer mit Fahrradhelm am São Miguel ernst nehmen, sondern sie für Trottel halten. Und genau deshalb kamen sie unbehelligt in ihrem Feriendomizil an.
Sol Pinho, die die Straße zum Berg mit dem Kombi nahm, mit dem sie den Werttransporter an der Ampel zum Anhalten gezwungen hatte, wurde kontrolliert. Aber ihre frisierten Papiere waren überzeugend.
Und der Monteur?
Der hieß mit vollem Namen Nuno Vieira und blieb einfach in der Airbnb-Wohnung unten an der Küste.
Zum Abendessen trafen sie sich in Olhão im El Torito, einem Mexikaner an der Promenade. Sol war im Haus geblieben, sie hatte Kopfschmerzen.
Sie stießen auf Gonçalves an.
Das war der Preis. Ein Schicksal, das jeden von ihnen ereilen konnte. Und von dem jeder von ihnen glaubte und hoffte, es würde nicht ihn treffen, sondern wenn einen der anderen.
Gonçalves Amado war der Mann für Sprengstoffe und Computer, eine Kombination, die auf den ersten Blick kaum durch Überschneidungen auffiel, und doch brauchte es für beide Bereiche einen passionierten Tüftler. Das war Amado gewesen. Sie hatten ihn alle respektiert. Er beherrschte sein Handwerk. Aber Gonçalves, die Brüder Cruz, Cabral und Vieira verband keine Freundschaft. Sie deckten einander bei Schusswechseln, sie warnten einander später, wenn Ermittler an sie herantraten, aber abseits der Jobs gingen sie getrennte Wege. Ein Verhältnis ohne Sentimentalitäten.
Amado war tot. Das war bedauerlich, aber – um es auf den Punkt zu bringen – kein unersetzlicher Verlust. Und schon gar keiner, der ihnen gefährlich werden konnte, denn Gonçalves war erkennungsdienstlich nie behandelt worden. Natürlich hatte er auch keine Papiere bei sich gehabt. Die Beamten würden erst mal eine Weile damit beschäftigt sein, herauszubekommen, wer er überhaupt war. Und selbst dann hätten sie nicht mehr als eine Postanschrift in den Händen.
»Was ist mit Sol und dir?«, fragte César seinen älteren Bruder, als sie nach dem Essen eine kleine Runde an der Promenade drehten. Nuno und Cabral waren bei ihren Getränken geblieben. Sie hatten verstanden, dass die Brüder kurz allein sein wollten.
Kleinkünstler hatten vor den Lokalen Stellung bezogen, zeigten Tricks, sangen oder musizierten. Anschließend gingen sie mit einem Hut herum und sammelten an den Tischen Geld ein, und nicht wenige Touristen zahlten dafür, dass es endlich vorbei war wie eine Heimsuchung durch einen Mückenschwarm, der weiterzog.
Restaurant neben Restaurant reihte sich hier aneinander, überwiegend portugiesische Küche, aber eben auch Mexikaner, zwei Sushi-Restaurants und ein Italiener. Auf der einzigen Pflasterstraße schoben sich die Autokolonnen in beide Richtungen. Arbeitslose standen neben freien Parkplätzen und winkten Autofahrer hinein.
Gegenüber zog sich eine lange, unverbaute Promenade, auf der es nur zwei große Gebäude in rotem Klinker mit vier Türmchen gab – die Markthallen von Olhão.
Hierher waren die Brüder spaziert und lehnten sich an das Geländer mit Blick auf das Meer und den Leuchtturm von Culatra, der sein Licht ins Dunkel jagte. So unermüdlich, als sei ihm bewusst, dass dieser Lichtstrahl für so manchen Fischer in der Nacht da draußen die einzige Verbindung zu seinem Zuhause darstellte.
»Sol und du – stimmt was nicht?« César zündete zwei Zigaretten an und gab Ulisses eine davon.
»Warum fragst du?«
»Na, ist doch offensichtlich, dass da was im Busch ist.«
Ulisses Cruz nickte. Er genoss es, hier mit seinem Bruder zu stehen, den Sternenhimmel über sich, den bitteren Tabak auf den Lippen. Er schenkte ihm ein Lächeln.
»Sie will ein Kind, ich nicht. Wir erledigen die Sache noch zusammen, dann gehen wir getrennte Wege. Sie ist frei, César.«
»Was ist das wohl wert, der Schmuck«, fragte Nuno leise, als die Brüder Cruz zurück am Tisch waren und eine nächste Runde bestellt hatten.
»Zwanzig Prozent für Mariana« – ihre Stammhehlerin – »bleiben vielleicht 60.000. Ohne Gonçalves sind das 12.000 pro Kopf.«
Die beiden nippten an einem Corona, in dessen Flaschenhals ein Stück Limette steckte. Ulisses hatte ihre Unzufriedenheit vorausgesehen. Er beugte sich konspirativ vor und senkte die Stimme.
»Die müssen einen Juwelier ausgelassen haben – die Info war, dass da eine Viertelmillion transportiert wird.«
»Kann man nichts machen«, meinte Cabral mit gespielter Gleichgültigkeit, »ich fahre morgen zurück nach Nazaré. Wenn ihr mich braucht …«
Er wollte aufstehen, aber César legte ihm die Hand auf den Unterarm und zwang ihn mit einem kurzen Druck zurück auf seinen Platz.
»Ich musste abwarten«, sagte Ulisses ruhig, »ich musste wissen, ob der Tipp stimmt.«
»Jetzt weißt du, dass er nicht gestimmt hat«, stellte Nuno fest, der Monteur. Seine lockigen Haare trug er lang, sie fielen ihm auf die Schultern. Marokkanische Wurzeln, starker Bartwuchs, immer eine Spur Belustigung im Blick.
»Die Menge hat nicht gestimmt. Alles andere ja«, entgegnete Ulisses sachlich. Es war wichtig, selbst kleinsten Zurückweisungen die persönliche Note zu nehmen. Es durfte immer nur um die Sache gehen. »Es war der richtige Transporter, der Tipp hat gestimmt. Aber ich hätte da gerne die angekündigte Viertelmillion rausgeholt. So war es fast ein Nullsummenspiel. Das hätte nicht passieren dürfen.«
Er registrierte sehr genau, wie nun auch Ricardo Cabral, der Bote, anerkennend nickte.
Ulisses hatte das ausgesprochen, was die beiden dachten, aber in seiner oder Césars Gegenwart nicht auszusprechen wagten.
»Ein Mensch, der keine Fehler einräumen kann, ist nicht souverän und unglaubwürdig«, hatte der Mann in Porto ihn gelehrt, »du kriegst die Reihen hinter dir nur geschlossen, wenn deine Jungs dir blind vertrauen. Das ist dein größtes Kapital. Die Bullen müssen nämlich schon wirklich eine Menge aufwenden gegen eine Truppe, die bereit ist, aufs Ganze zu gehen.«
So eine Truppe hatte er. Das hatten sie heute unter Beweis gestellt.
»Ich habe noch zwei weitere Tipps – von derselben Quelle.«
Nuno und Ricardo hoben sehr aufmerksam die Blicke.
»Um wie viel geht’s da?«, hakte Ricardo Cabral nach.
»Um eine Million.«
»Durch fünf.«
»Nein. Pro Nase.«