Die Wiederauferstehung des Miguel Duarte fand zwei Tage nach dem Überfall statt.
Einige böse Zungen behaupteten, sein Ehrgeiz habe nicht zugelassen, dass der Tod das Rennen machte. Niederlagen waren im Hause Duarte in Sevilla nicht erwünscht. Mehr noch: Miguels Vater, Don Pablo Esteban Duarte, gestattete sie nicht. Der Matador, der in Spanien und Portugal die Arenen gefüllt hatte und wegen seiner Kaltblütigkeit bis heute berühmt war, duldete sie nur so lange, bis ein Mann sie ins Gegenteil verkehrte: den Sieg.
Die eiserne Disziplin, sich wieder zu erheben, wenn man zu Boden gegangen war. Den Biss, nicht aufzugeben. Niemals.
»Aber es waren drei«, jammerte Miguel einmal, als ihn andere Schulkinder auf dem Heimweg verprügelt hatten.
»Wenn dir die Übermacht zu schaffen macht, benutze deinen Kopf und knöpf dir einen nach dem andern vor, Miguel. Man beginnt mit dem Stärksten. Wenn du dazu allerdings zu feige bist, kann ich dir nicht helfen, mein Sohn.« Und die letzten beiden Silben, so empfand Miguel es damals, waren schon von Raureif überzogen. Diese Kälte bekam er fortan immer zu spüren, wenn er nicht genau das tat, was sein Vater verlangte.
Erst später, als junger Mann, der sein eigenes Geld verdiente, gelang die Abnabelung, wie er gerne erzählte. Den Geruch des Stalles, aus dem er stammte, wurde er dabei aber nicht los. Die Prinzipien seiner Erziehung hatten sich in seine DNA gebrannt. Und drinnen, ganz tief drinnen, wusste Miguel Duarte nur zu genau, dass er immer noch um die Anerkennung seines Vaters buhlte, während er gleichzeitig Distanz zu ihm suchte. Denn im Schatten des Vaters wurde es allen auf Dauer zu eisig.
In der Klinik in Faro jedenfalls öffnete er am Vormittag des 25. Septembers die Augen und war von den Toten auferstanden. Damit hatte er sogar Jesus Christus um einen Tag unterboten, und das sollte schon was heißen. Sein Ehrgeiz war, wie gesagt, beachtlich.
Graciana befand sich gerade mit Leander Lost nur eine Etage tiefer im Zimmer des Fahrers des Werttransporters. Der Mann war auf Gracianas Weisung hin in einem Einzelzimmer untergebracht worden, das er ebenso wenig verlassen durfte wie der Beifahrer, der in einem anderen Trakt des Klinikums lag. Bei Überfällen auf Geldtransporter war häufig wenigstens einer der Sicherheitsleute in den Überfall verwickelt. Graciana wollte verhindern, dass die beiden Gelegenheit fanden, sich abzusprechen, falls sie gemeinsame Sache gemacht hatten. Selbstverständlich war den beiden auch Besuch untersagt, bis Graciana mit ihnen gesprochen hatte.
Noch am Morgen hatte sie die Bestätigung des Chefarztes über deren Vernehmungsfähigkeit erreicht. Kaum hatte Graciana mit der Befragung des Mannes begonnen, klopfte es an der breiten Tür, und Doutora Oliveira bat sie zu sich hinaus.
»Senhor Duarte ist bei Bewusstsein«, sagte sie. »Es geht ihm gut.«
Graciana spürte eine enorme Erleichterung, die sie fast ein wenig überraschte.
»Er hat wirklich einen Schutzengel gehabt. Die Blutungen konnten wir in der Not-OP dauerhaft stoppen, die Schwellung um die Wunde ist ebenfalls im Griff, im Schädel selbst scheint kein Gewebe verletzt worden zu sein, das MRT sieht gut aus. Wir sind alle sehr erleichtert. Es gibt aber noch einen Punkt, der ihn gerettet hat und nicht unerwähnt bleiben soll«, sagte die Ärztin zum Schluss. »Ihre koordinierten Maßnahmen vor Ort haben Miguel Duarte das Leben gerettet. Ohne die wäre er noch auf dem Weg zum Rettungshubschrauber verblutet.«
»Wie lange wird Senhor Duarte in der Klinik bleiben müssen?«, fragte Graciana.
»Wir sehen aktuell keine Veranlassung, ihn für länger hierzubehalten. Sollte er heftige Kopfschmerzen bekommen, müsste er noch einmal ins MRT . Aber wenn garantiert ist, dass er nicht allein bleibt in der ersten Nacht, spricht nichts dagegen, dass er das Krankenhaus verlässt, sofern er sich das wünscht. Ich habe übrigens seinen Vater informiert, er ist in zehn Minuten hier.«
»Dann wird er nicht in Sevilla sein«, schlussfolgerte Lost. Die Distanz zwischen den beiden Städten betrug gute 200 Kilometer. Mit v = s/t ergab das eine dafür notwendige Geschwindigkeit von exakt 1.200 Stundenkilometern.
Die Doutora deutete ein Nicken an: »Er hatte einige Formalitäten zu erledigen für den Fall, dass … dass sein Sohn ins Wachkoma fällt. Deshalb ist er vor Ort. Ich habe auch Senhor Esteves Bescheid gesagt, er ist auch schon unterwegs.«
»Danke, Doutora. Können wir zu ihm?«, wollte Graciana wissen.
»Sicher. Der behandelnde Neurologe wird auch noch mit Ihnen sprechen wollen. Ich würde allerdings vorschlagen, dass Sie seinem Vater den Vortritt lassen. Vielleicht gibt Senhor Duarte das Orientierung.«
»Natürlich. Obrigada. «
Zurück im Krankenzimmer wandte sich Graciana an den Fahrer, der mit hochgestelltem Rückenteil im Bett saß. »Senhor Martins, ich habe uns ja schon vorgestellt. Ich muss Sie darauf hinweisen, dass Senhor Lost in der Lage ist zu sehen, ob ein Mensch lügt oder nicht.«
Martins musterte Leander in einer Mischung aus Neugier und Vorsicht.
»Und wie soll das gehen?«
»Ich bin im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen dazu in der Lage, Ihre Mikroexpression zu sehen. Und sie zu analysieren.«
»Eine Mikroexpression?«
»Ja. So wird die erste, unverfälschte mimische Reaktion auf etwas bezeichnet. Die, die Ihr Bewusstsein nicht beeinflussen kann, weil die Mimik in den ersten 200 Millisekunden vom limbischen System gesteuert wird.«
»Ich verstehe kein Wort.«
»Jetzt haben Sie die Wahrheit gesagt«, ließ Lost ihn wissen und bedachte ihn mit einem aufmunternden Lächeln. Lächeln war im Übrigen die erste »Verstellung«, die Menschen sich aneigneten. Ein gestelltes Lächeln lernte jedes Kind noch vor Vollendung seines ersten Lebensjahres.
Bevor Leander sein breites Wissen diesbezüglich mit dem Mann teilen konnte, ergriff Graciana das Wort und kürzte die Sache ab: »Senhor Lost kann abgleichen, ob Ihre Mimik zu dem passt, was Sie sagen. Passt es nicht, lügen Sie. Passt es, sagen Sie die Wahrheit.«
»Mimik und Körpersprache – aber hauptsächlich Mimik«, ergänzte Leander, »beides geschieht in einem Zusammenspiel.«
»Ich liege, meine Hände sind unter der Decke, da werden Sie nicht viel sehen.«
»Das ist korrekt. Aber das wenige kann reichen. Ich habe mal in einem Fall in einem Kinderheim ermitteln müssen, in dem der Hausmeister unter Verdacht stand, die Kinder körperlich zu züchtigen. Ich habe beobachtet, wie sie bei seinem Auftreten reagiert haben – entspannt. Als die Frau des Hausmeisters zufällig dazukam, haben die Kinder die Arme eng angelegt und die Köpfe gesenkt. Wissen Sie warum?«
»Nein.«
»Weil sie versucht haben, sich unsichtbar zu machen. So klein wie möglich. Aus Angst vor dieser Frau. Im limbischen System, das auch Ihre Mimik in den ersten Millisekunden steuert, sind drei evolutionäre Reaktionen auf Bedrohung hinterlegt: Schockstarre, Flucht, Kampf. Und zwar in dieser Reihenfolge. Ich kann durchaus beurteilen, Senhor Martins, ob Sie plötzlich völlig reglos werden und unseren Blicken ausweichen. Auch dann, wenn Sie sich im Bett befinden. So wie jetzt.«
Martins schluckte. Er sah von Leander zu Graciana. In seinen Augen lag unübersehbar die Frage, ob das, was der Mann im schwarzen Anzug da erzählte, wirklich der Wahrheit entsprach.
Graciana Rosado lächelte nur und gab ihm so zu verstehen, dass es genauso war.
Wie sich jedoch herausstellte, sagte Martins in allen Punkten die Wahrheit. Sie hatten sich streng an die vorgegebene Route gehalten und waren keinen Meter von ihr abgewichen. Verdächtige Fahrzeuge oder Personen seien Ihnen nicht aufgefallen. Lediglich ein größerer Transporter, weiß lackiert, sei eine Weile hinter ihnen gefahren.
»Auch unmittelbar, bevor Sie beide das Bewusstsein verloren haben?«, fragte Graciana.
Martins nickte.
»Die Firmenzentrale in Faro sagt, sie hätte das Notsignal noch von Ihnen erhalten.«
»Ja, José hat den Knopf gedrückt.«
»Ihr Beifahrer«, sagte Leander.
»Sim.«
»Der Kollege, der in der Zentrale saß, hat gesagt, er habe noch versucht, mit Ihnen Funkkontakt aufzunehmen.«
»Davon weiß ich nichts«, erwiderte Martins.
Keine 15 Minuten später erfuhren Graciana und Leander im Nebentrakt, dass auch José Ventura, der Beifahrer, sich nicht erinnerte, noch einen Funkspruch wahrgenommen zu haben.
Seine übrigen Aussagen deckten sich eins zu eins mit denen des Kollegen. Und auch er log nicht.
Also, schloss Leander, hatten die beiden die Fahrtroute nicht preisgegeben.
»Die man aber auch nicht unbedingt kennen muss, wenn man über den Tag der Lieferung Bescheid weiß«, wie er hinzufügte.
»Weil?«
»Weil man nur vor der Firmenzentrale von Bilt warten muss, bis das Fahrzeug seine Route aufnimmt, um ihm dann zu folgen.«
Auf dem Weg zu Duartes Zimmer begegneten sie im Treppenhaus Carlos Esteves, der gerade von einer Sardinenkrokette abbiss, die in eine Serviette gewickelt war.
»Miguel ist aufgewacht?«
Graciana musste schmunzeln – unter sich nannten sie Duarte wegen dessen ausgeprägter Eitelkeit O Pavão, den Pfau. Aber Carlos hatte sich für dessen regulären Vornamen entschieden.
»Ja, sein Vater müsste jetzt schon bei ihm sein. Wir wollten gerade hin und warten, bis er geht. Miguel hat unglaubliches Glück gehabt.«
Carlos schloss sich ihnen mit einem Nicken an und zog eine kleine Kladde hervor, in der er blätterte. Ein dunkelbrauner, abgegriffener Ledereinband. Er sah aus, als hätte er diverse Generationen und eine Sturmflut überlebt. Leander warf einen interessierten Blick darauf.
»Der Laden in Faro hat den Schmuck für 80.000 Euro angekauft. Wenn der den Überfall organisiert hat, hätte er jetzt das doppelte an Wert eingestrichen: den Schmuck und die Versicherungssumme. Dasselbe gilt für den Verkäufer. Aber …«
Er klappte die Kladde zu.
»Ja?«
»Der Verkäufer ist 83 Jahre alt. Muss nichts heißen, ich weiß, aber ich glaube nicht, dass er die Aktion ausgeheckt hat.«
»Sonst fehlt nichts, keine einzige Sendung?«, vergewisserte Graciana sich.
»Keine einzige«, bestätigte Esteves. »Ein paar weitere Sendungen sind zwar auch aufgerissen, wurden aber zurückgelassen.«
»Gut, ich gebe Senhor Costa von Bilt Bescheid, dass er den Transporter samt Sendungen abholen kann. Marisa kann die Abwicklung organisieren.«
Als sie in den Trakt einbogen, in dem Duarte untergebracht war, sahen sie zwei Männer. Einer war der behandelnde Neurologe, Doutor Gaspar, ein schlanker, extrem hochgewachsener Typ mit Halbglatze und kleiner runder Brille. Die andere Person war unwesentlich kleiner, wirkte aber dennoch so, als würde sie den Arzt überragen.
Oder als ducke er sich vor ihm, während auf ihn eingeredet wurde.
Er war dünn, schmale Beine, eine hagere Gestalt. Ein sehniger, grauer Mann mit silberner Mähne und dunklen Augen. Die Bewegungen seiner Arme, seiner Gesten, wirkten wie eine präzise Choreografie. Bloß: Dieser Mann konzentrierte sich gar nicht darauf, es geschah einfach nebenbei. Es war ihm in Fleisch und Blut übergegangen.
Graciana wusste sofort, wer der Mann war. Und dass alles plötzlich Sinn ergab: Das also war Miguels Vater.
»Gemüse.«
»Bitte?«
»Sein Verstand«, sagte Don Pablo Esteban Duarte. In seiner Stimme hielten sich Bestürzung und Vorwurf die Waage. »Ist doch nur noch Gemüse. Er erkennt mich nicht mal mehr.«
»Bitte, beruhigen Sie sich.«
»Ich bin ruhig. Er verlangt nach dem Schwarzen Mann – wer soll das sein?«
»Ich weiß nicht.«
»Tja … ich auch nicht. Der Mann da drinnen ist …«– der Kopf des Mannes senkte sich, ein tiefes Seufzen – »… ist nicht mehr mein Sohn.«
Ohne eine Reaktion oder Antwort abzuwarten, drehte Miguels Vater sich weg und verließ die Klinik.
Graciana und Carlos tauschten einen ernsten, bestürzten Blick.
Sie traten zu Doutor Gaspar und begrüßten ihn.
»Der Mann eben, das war sein Vater, oder?«, fragte Carlos.
»Gut geraten«, sagte der Arzt. »Ein eindrücklicher Charakter.«
»Er hat etwas von ›Gemüse‹ gesagt.«
Der Doutor seufzte und wandte kurz den Blick ab, um sich auf die richtigen Worte zu fokussieren.
»Senhor Duarte erkennt seinen Vater nicht mehr. Wir gehen von einer partiellen Amnesie aus.«
Sie schauten ihn fragend an.
»Er hat keinerlei Probleme zu sagen, was das Ergebnis von zwei plus zwei ist«, präzisierte der Arzt, »wer er selbst ist und wie er heißt, kann er aber nicht sagen. Das hat seinen äußerst sensiblen Vater zu der charmanten Umschreibung ›Gemüse‹ gebracht.«
»Er … kennt seinen eigenen Namen nicht mehr?«, fragte Carlos erstaunt.
»Nein. Seinen Namen nicht, seinen Geburtsort nicht. Die Bezeichnungen für die Gegenstände im Raum konnte er abrufen – Stuhl, Fenster, Bett und so weiter. Auch war er in der Lage zu benennen, wo er sich befindet – in einer Klinik. Er weiß, dass es den Fußballverein namens Real Madrid gibt – aber nicht, dass er ein Fan des Clubs ist.«
»Dann ist es wirklich heftig«, folgerte Carlos, der sich der unfreiwilligen Komik seiner Feststellung nicht bewusst war.
»Das heißt, er verfügt über sein Allgemeinwissen«, sagte Lost.
»Das ist korrekt. Ebenso wie über sein prozedurales Gedächtnis – Lesen, Greifen, Sprechen und Laufen. Alles da.«
»Zu dem Allgemeinwissen gehört aber auch, dass das eben sein Vater war«, warf Graciana ein.
»Nein, leider nicht«, widersprach Doutor Gaspar, »sonst wüsste es jeder Mensch. Rom ist die Hauptstadt von Italien. Das gehört zum Allgemeinwissen. Und Senhor Duarte weiß das. Was momentan wie gelöscht erscheint, ist sein episodisches Gedächtnis.«
»Das heißt?«, fragte Carlos.
»Alles Autobiografische – sämtliche persönlichen Erlebnisse. Der erste Schultag, der erste Kuss, das erste Bad im Meer. All das wird, davon müssen wir zum jetzigen Zeitpunkt ausgehen, aktuell wie gelöscht sein.«
»Aber nicht für immer, oder?« Graciana schauderte bei der Vorstellung, solche Erinnerungen unwiederbringlich zu verlieren.
»Wir hoffen es«, sagte Doutor Gaspar und wog den Kopf hin und her. »Bei einer Amnesie ist häufig nur der Zugang zu diesem Teil des Gedächtnisses blockiert – aber die Erinnerungen müssen nicht zwangsläufig verloren sein. Möglicherweise findet Senhor Duarte diesen Zugang. Möglicherweise aber auch nicht. Die Verbindungen zu seinen Erinnerungen liegen für ihn im Dunkeln.«
»Und wenn er den Zugang nicht findet?«
»Dann wird er ein neues Leben beginnen müssen.«
»Konnte er sich denn daran erinnern, was geschehen ist?«, fragte Carlos.
»Nein. Aktuell weiß er weder, dass er bei der Polícia Judiciária in Faro arbeitet, noch wo er wohnt, noch was zu seiner Verletzung geführt hat. Was er aber mehrfach gesagt hat, ist: ›Ich muss den Schwarzen Mann sehen.‹ Haben Sie eine Idee, wer das sein könnte?«
Carlos und Graciana schauten sich an und dann simultan hinüber zu Leander Lost. Der Arzt verstand.
»Wegen des schwarzen Anzugs?«
»Vielleicht. Senhor Lost, Sie haben Senhor Duarte erstversorgt, richtig? Ist er noch mal aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht, während Sie bei ihm waren?«
»Kurz, ja.«
»Und was hat er gesehen?«
»Die Menschen, die über ihn gebeugt waren, nehme ich an. Und zu denen zählte ich.«
Duartes Kopf war rund um die Wunde verbunden und die Schwellung an seiner Stirn bereits sichtlich zurückgegangen. Er trug das gepunktete Hemdchen des Krankenhauses und wurde über einen Tropf, der an einem Infusionsständer hing, mit einer Kochsalzlösung versorgt.
Aus dem dritten Stock hatte er durch das große Fenster freien Blick über die Dächer der Stadt. Weiter hinten erstreckte sich das Blau des Atlantiks.
In seinen Augen, die auf den Doutor und seine Begleiter gerichtet waren, lag Neugierde und … ein wenig Angst.
»Miguel, wie geht es dir?«, fragte Graciana mit einem Lächeln, aber Duarte sah sie nur hoch konzentriert an, als versuchte er sich mit aller Kraft zu erinnern, wer diese Frau war, die ihn offenbar kannte. Vergeblich, wie es schien, denn er schwieg. Dann wanderte sein unruhiger Blick zu Carlos.
»Hey, Miguel, Real Madrid führt 3:1 gegen Bayern München.«
Duarte quittierte das mit einem unbeteiligten Nicken. Doch mit einem Mal öffneten sich seine Augen, sein Mund, seine Lippen spannten sich zu einem dankbaren Lächeln. Und sein Blick galt Lost.
Den anderen war Duartes Reaktion auf den Alemão nicht entgangen.
»Bitte, Senhor, können Sie mir helfen?«
»Ich vermute nicht, nein.«
Miguels Miene bekam etwas Flehendes: »Aber Sie waren da im … im …«
»Gestern?«, fragte der Arzt.
»Ja«, sagte Duarte sofort und hielt den Blick weiter auf Leander gerichtet: »Wie ist Ihr Name?«
»Leander Lost.«
Duarte schien bekümmert, weil der Name offensichtlich nichts in ihm auslöste.
»Man sagt mir, also: die Doutora, ich habe mein Gedächtnis verloren.«
»Das hat sie mir auch gesagt.«
Graciana trat dicht an Leander heran.
»Setzen Sie sich doch zu ihm, Senhor Lost.«
Leander zögerte kurz, als sei die Verringerung von Distanz kein plausibles Mittel, um Duartes Erinnerung auf die Sprünge zu helfen – aber wer wusste das schon? Mit Sicherheit auszuschließen war es nicht. Schließlich befanden sie sich praktisch auf einem Gebiet, das noch niemand betreten hatte.
Also zog sich Leander einen Stuhl ran und nahm neben dem Bett Platz. Duartes Gesichtsmuskulatur erschlaffte, der Unterkiefer senkte sich so weit ab, dass der Mund sich leicht öffnete – Leander decodierte Entspannung. Seine Nähe sorgte also vermutlich für Entspannung.
Das, worauf Graciana mit ihrer Aufforderung an Leander offenbar gehofft hatte.
Einmal mehr bewunderte er das, was Carlos und sie Intuition nannten. Am Verstand vorbei aus dem Bauch eine Situation und ihre Erfordernisse zu erfassen. Etwas, was ihm in dieser Vollendung immer verwehrt bleiben würde. Denn es befand sich jenseits der Grenzen des Intellekts.
»Sie haben mich versorgt nach meiner Verletzung, richtig?«
»Ja.«
»Daran kann ich mich erinnern. Wer … in welchem Verhältnis stehen wir zueinander?«
»Wir sind Kollegen.«
»Sind wir Freunde, Sie und ich?«
»Nein, wir sind Kollegen bei der Kriminalpolizei. Wir haben zusammen schon einige Fälle erfolgreich gelöst. Übrigens auch mit Ihrer Vorgesetzten Senhora Graciana Rosado hier und Ihrem Kollegen Carlos Esteves.«
»Und du hast ein echt tolles Jaguar-Cabrio, Miguel!«, rief Carlos.
»Aha.«
Ganz offensichtlich löste diese Bemerkung nichts bei ihm aus. Weder Freude noch Enttäuschung. Es schien ihm einerlei zu sein.
»Hatte«, flüsterte Graciana Carlos zu.
»Das weiß er ja nicht«, sagte der ebenso leise.
»Ich bin in Sevilla geboren, das weiß ich auch schon, aber ich arbeite in Portugal?«
»Ja, es hat dich hierher verschlagen«, sagte Graciana, weil Lost das nicht hätte beantworten können, denn das war lange vor seiner Ankunft in Fuseta geschehen.
»Ich glaube, es hat Ihnen hier besser gefallen als in Spanien.«
»Ah ja«, sagte Duarte, und man konnte ihm ansehen, dass er auch diese Information über sich abspeicherte.
»Habe ich Geschwister?«
»Einen Bruder«, antwortete Graciana, »er ist Geistlicher oben in Bilbao.«
»Und meine Eltern? Leben sie?«
»In Sevilla«, sagte Carlos.
Duarte dachte nach, dann wandte er sich erneut an Leander: »Wann besuchen sie mich?«
»Ihr Vater war schon da«, antwortete Leander, »aber …«
»Der Mann vorhin?«
»Ja.«
»Das war mein Vater?«
»Ja.«
»Nein«, entschied Miguel Duarte, »nein, nein, nein.«
»Wie können Sie sich so sicher sein?«, fragte Leander interessiert. Er hatte noch nie direkt mit einem Menschen zu tun gehabt, der an einer Amnesie litt. Er spürte ein aufrichtiges Interesse an diesem Syndrom. Vielleicht wurde ja ein echtes Steckenpferd daraus?
»Ich habe es gespürt«, antwortete Miguel.
»Hast du dich schon mal im Spiegel angeschaut?«, fragte Graciana.
Duarte überlegte.
»Gute Idee«, sagte der Arzt. »Ich bin gleich wieder da.«
»Bin ich verheiratet?«, fragte Duarte unbeirrt weiter.
»Nein.«
»Und … habe ich eine Freundin?«
»Das entzieht sich meiner Kenntnis.«
»Kinder?«
Leander schaute fragend zu den anderen.
Graciana verstand: »Soweit wir wissen, nein.«
»Aha.«
Kurz grübelte er wieder mit Blick auf seine Bettdecke, bevor er erneut Leander Lost ansah: »Ich erinnere mich einfach an nichts. Die erste Erinnerung, die ich habe – sind Sie. «
Doutor Gaspar kam mit einem Handspiegel zurück und reichte ihn Duarte.
»Schauen Sie sich mal an. Und keinen Schreck bekommen: der Verband ist beeindruckend, aber Sie sind gut versorgt und nicht in Gefahr.«
Der zögerte kurz, warf dann aber einen Blick hinein.
Seine Miene zeigte wie schon bei der Erwähnung seines Cabrios kaum ein Gefühl.
»Das bin also ich?«, fragte er mit leiser Stimme, und es war mehr Feststellung als eine Frage.
»Ja, das sind Sie«, bestätigte Leander.
Duarte atmete tief durch: »Ich kann mich nicht erinnern.«
Damit gab er Doutor Gaspar den Spiegel zurück. Und fügte hinzu: »Ich glaube, ich wäre jetzt gerne allein.«
»Aber natürlich. Klingeln Sie einfach, wenn Sie was brauchen.«
»Die wenigsten Totalamnesien sind von Dauer«, erklärte Doutor Gaspar den dreien auf deren Weg zurück zum Parkplatz, »irgendwann kommen kleine Fetzen zurück, wir nennen sie Flashs. Kurze Blitze aus dem alten Gedächtnis. Es ist noch nicht ganz klar, wodurch sie ausgelöst werden. Ob es bekannte Menschen sind, ein Lied, der Aufenthalt an einem Platz, der einem vielleicht viel bedeutet hat … Alles ist denkbar und liegt nahe. Aber es gibt keinen Universalschlüssel. Die Situation mit Ihnen oben am Schauplatz des Überfalls«, sagte er an Lost gewandt, »oder Sie als Person sind das Einzige aus dem alten Gedächtnis, an das Senhor Duarte sich erinnert. Ich glaube, es wäre von Vorteil für den Genesungsprozess, wenn Sie sich nach seiner Entlassung in seiner Nähe aufhalten könnten. Zumindest als Ansprechpartner. Ich kann mir vorstellen, dass Ihre Anwesenheit weitere Erinnerungen auslöst. Im besten Fall. Meinen Sie, Sie könnten das in irgendeiner Form einrichten?«
»Ja, selbstverständlich«, antwortete Lost ohne zu zögern, »wenn ich irgendwas tun kann, damit Senhor Duarte in seine alte Identität zurückfindet, werde ich das gerne tun. Wir haben in unserem neuen Haus in Bias do Sul zwei Casinhas. Eines bewohnt Zara Pinto. Aber das andere ist für andere Gäste vorgesehen. Ich könnte mir gut vorstellen, dass wir Senhor Duarte vorerst dort unterbringen. Bis wir sehen, ob er ein eigenständiges Leben führen kann.«
Kurz war Stille, weil alle drei – Graciana, Carlos und Gaspar – zu überrascht oder zu verwundert oder beides waren, um sofort darauf zu reagieren.
Leander dagegen nahm ihr Schweigen als jene berüchtigte Pause in einem Small Talk wahr, in der niemand etwas zu sagen wusste und dieser Umstand allen ebenso bewusst wie unangenehm war. Und zwar je länger dieser Moment andauerte.
Leander dagegen war ein großer Freund des Schweigens. Keine Stille war so absolut (und ein Genuss!) wie die, in der Menschen schwiegen. Außer natürlich, es drehte sich um eines seiner Spezialinteressen.
Damit seinen drei Begleitern die Situation nicht zusehends unangenehm wurde, spielte er den Weißen Ritter des Small Talks: »Was glauben Sie, wie wird wohl das Wetter morgen?«