Schwer zu sagen, für wen es der Gang nach Canossa war an diesem späten Nachmittag. Vermutlich für beide.
Das Estabelecimento Prisional de Faro war eine Strafvollzugsanstalt an der Ausfallstraße von Faro, keine 200 Meter von der Ria Formosa entfernt. Ein mit weißen Mauern umgebenes Areal, aus denen an den Eckpunkten geduckte Wachtürme mit Fenstern aus Panzerglas wuchsen. Zur Straßenseite hin war ein hohes, bordeauxrotes Tor in den Komplex eingelassen. Eine Miniaturausgabe in Form einer normalen Tür befand sich rechts daneben. Über einen kleinen Sehschlitz konnten Besucher hier Verbindung mit den Wachhabenden im Inneren des Gebäudes aufnehmen. Das war das einheitliche Prozedere. Auch für Angehörige der Polizei.
Graciana klingelte also zuerst am Tor, gab durch den Sehschlitz Auskunft über ihr Anliegen, wurde zur Anmeldung eingelassen, musste sich ausweisen und wie jede andere ein Formular ausfüllen und unterschreiben. Nur ihre Wartezeit verkürzte sich auf nicht mal zwei Minuten. Dann ließen die Kollegen sie eintreten, ihre Dienstwaffe wurde in einem abschließbaren Fach verwahrt.
Ein Schließer führte sie einen langen Flur entlang. Es roch nach Reinigungsmitteln und Schuhcreme, ein ganz leichter Essensgeruch hing auch noch in der Luft und erzählte von dem Eintopf, der den Insassen zum Mittagessen serviert worden war. Der Hall, den die schweren Stiefelschritte des Mannes erzeugten, war enorm. Für jemanden, der hier das erste Mal eingeliefert wurde, musste das durchaus einschüchternd wirken.
Im Flur gab es ebenso wenig natürliches Tageslicht wie im Besucherraum, in den sie geführt wurde. Vier mal sechs Meter, mehr nicht. Eine durch ein Metallgitter geschützte Neonlampe an der Decke, dazu vier Plastikstühle, an denen sich kein Metall befand, nicht mal eine Schraube. Keine scharfe Kante. Der Raum wurde durch einen großen, massiven Holztisch geteilt – eine Seite für Besucher, die andere für die Gefangenen. Berührungen waren streng verboten, und durch die Maße und Anordnung des Tisches konnte auch keiner von beiden etwas heimlich unter der Tischplatte durchreichen, denn der Tisch reichte wie ein großer Klotz bis hinab zum Boden. In zwei Ecken direkt unter der Zimmerdecke befanden sich kleine Überwachungskameras.
Ihr Begleiter war mit eingetreten, hatte die Tür hinter ihnen geschlossen und sich daneben postiert.
»Nehmen Sie gerne Platz, Senhora«, sagte er. Sie nickte und setzte sich.
Würde er heute kommen?
Sie schloss die Augen, um sich auf ihren Gehörsinn zu konzentrieren. Kein Geräusch. Keine Schritte auf dem Gang, die sich näherten. Keine schweren Stiefel, die durch den Flur hallten.
»Wissen Sie, ob er kommt?«, fragte sie den Schließer an der Tür.
»Tut mir leid, nein. Ich habe nur Weisung, Sie in diesen Raum zu bringen.«
Bevor Graciana ihm eine weitere Frage stellen konnte, wurde ein Schlüssel im Schloss der Tür gegenüber gedreht. Ein älterer Schließer mit einem grauen Vollbart und einem tätowierten Unterarm trat ein. Auf seinem Namensschild konnte Graciana den Namen T. Pena lesen.
Und dann kam er herein.
Er war um mehr Jahre gealtert als vergangen waren. Der Gang ein wenig schleppend, die Schultern gerade, sein Blick ernst, gelassen und von einer unbestimmten Traurigkeit. Raul da Silva setzte sich ihr gegenüber hin, und der Schließer nahm ihm die Handschellen ab. Dann schloss er die Tür und postierte sich wie sein Kollege daneben.
»Von mir aus können Sie auch gerne den Raum verlassen«, sagte Graciana zu den Schließern. Der Mann, der sie hergebracht hatte, machte dankend von dem Angebot Gebrauch und verwies auf die Klingel an der Tür, über die sie jederzeit jemanden rufen konnte, wenn sie den Raum wieder verlassen wollte.
T. Pena blieb.
Von da Silvas linkem Ohr bis hinab zum Hals zog sich eine Narbe. Sie stammte von einer Messerattacke vor zweieinhalb Jahren. Als ehemaliger Polizist stand er nach seiner Einlieferung in der internen Knasthierarchie nicht viel höher als ein Kinderschänder.
Raul da Silva war ihr Vorgesetzter gewesen. Mehr noch: ein väterlicher Mentor. Wohlwollend, weise und überlegt. Geldsorgen hatten ihn Dinge machen lassen, die sie nicht für möglich gehalten hatte. Und er selbst vielleicht auch nicht. Er hatte einen Mann im Zorn erschlagen und einen anderen getötet, um das erste Verbrechen zu vertuschen. Graciana, seine berufliche Ziehtochter, hatte all das aufgedeckt und ihn schweren Herzens hinter Gitter gebracht. Seitdem ließ sie sich in regelmäßigen Abständen von der Gefängnisleitung darüber informieren, wie es ihm ging. So hatte sie auch von der Sache mit dem Messer erfahren. Einige Male hatte Graciana Rosado den Versuch unternommen, ihn zu besuchen. Immer war die gegenüberliegende Tür verschlossen geblieben. Bis heute.
»Boa tarde «, sagte er.
»Ich freue mich, dass du gekommen bist, Raul«, antwortete sie mit einem warmherzigen Lächeln.
Seine Mundwinkel zuckten ein wenig, konnten sich aber doch nicht zu einem Lächeln durchringen. Stattdessen nickte er.
Es entstand ein Augenblick der Stille. Wie sollte es auch anders sein nach all der Zeit, in der sie nicht miteinander gesprochen hatten?
Graciana beschloss, sachlich zu bleiben und über etwas zu reden, was nicht auf persönlicher Ebene zwischen ihnen verhandelt werden musste: den Grund ihres Besuches.
»Es gab vor ein paar Tagen einen Überfall auf einen Werttransporter«, sagte sie.
Raul da Silva nickte in seiner in sich ruhenden Art: »Ich habe davon gehört. Auch von der Sache mit Miguel. Nur was erbeutet wurde, weiß ich nicht.« Er schaute sie direkt an.
Erstaunlich, dachte Graciana, so dicke Mauern und doch keine Barriere für Informationen von draußen.
Sie dachte nach. Was geklaut worden war, gehörte zum Täterwissen. Aber wenn sie Raul für ihr Anliegen gewinnen wollte, durfte sie ihn nicht von diesen Informationen aussperren, das spürte sie. Es hätte ihn beleidigt. Der implizite Verdacht, er könne wichtige Informationen an die Täter weitergeben. Also ging sie ins Risiko.
»Die Täter haben Schmuck erbeutet im Wert von 60.000 bis 80.000 Euro«, sagte sie. »Alles andere haben sie nicht angerührt.«
Da Silva nickte. Er hatte die Geste verstanden. »Wie geht es Miguel?«
»Er hat überlebt. Aber er hat das Gedächtnis verloren.«
»Vielleicht nicht das Schlechteste«, sagte da Silva, und es war klar, dass er dabei nicht nur an Duarte dachte. Vergessen, was man getan hatte, konnte auch ein Privileg sein. Das Wissen, zwei Menschen getötet zu haben, zwei Biografien ausradiert zu haben plus der möglichen Kinder und Kindeskinder. Raul da Silva war genau der Typ Mensch, der solche Gedanken nicht abschalten konnte und von ihnen in den Wahnsinn getrieben wurde.
»Was kann ich für dich tun?«, fragte er schließlich.
Wortlos schob sie ihm das Foto des unbekannten Toten über den Tisch zu. T. Pena trat nur kurz heran, um zu sehen, um was es sich handelte, dann nahm er wieder seine Position an der Tür ein.
Da Silva genügte ein kurzer Blick auf die Fotografie, bevor er ihn wieder hob: »Der Mann ist tot.«
»Ja.«
»Einer der Täter.«
»Genau. Kennst du ihn?«
»Nein.«
Sofort registrierte er das Bedauern in ihrer Miene. Und damit war klar, weshalb sie ihn heute aufsuchte.
»Ihr wisst nicht, wer das ist«, sagte er.
»So ist es. Fingerabdrücke und DNA sind nicht in der Datenbank hinterlegt. Papiere hatte er natürlich keine dabei.«
»Wenn du möchtest und ich das Foto haben kann, kann ich mich umhören.«
»Ich hatte gehofft, dass du das anbietest, Raul.«
Er gab nur ein leises Brummen von sich, das sie von Carlos her kannte und als Zustimmung deutete. Dann stand er auf und nahm das Foto an sich.
Pena öffnete die Tür, und da Silva ging zu ihm, ließ sich die Handschellen wieder anlegen. Bevor er hinausging schauten sie sich noch einmal an.
»Danke«, sagte Graciana. »Darf ich doch noch etwas fragen?«
»Natürlich«, sagte da Silva.
»Warum bist du heute gekommen und all die anderen Male nicht?«
»Weil ich wusste, dass du heute kommst, um mich um Hilfe zu bitten.«