15.

Ein Sonnenstrahl, der durch das Fenster auf ihre Hand fiel, ließ sie aufwachen, noch bevor der Wecker des Smartphones klingelte. Es lag neben der Matratze auf dem Boden, auf der sie miteinander geschlafen hatten.

Sol schaute zur Seite auf den breiten Rücken von César. Er schnarchte leise. Sie fühlte – nichts. Dass sie keine Reue oder gar Schuld empfinden würde, das war ihr vorher klar gewesen. Aber sie hatte sich das Gefühl von Triumph erhofft, zumindest ein klein wenig von jener Befriedigung, die man empfand, wenn man erfolgreich Rache geübt hatte. Beides war ausgeblieben. Vielleicht, weil sie damit rechnete, dass es Ulisses wenig ausmachen würde, wenn er davon erfahren sollte. Der Gedanke daran versetzte Sol Pinho nun doch einen Stich. Und gab der Wut auf ihn Nahrung. Dem Zorn.

Es wäre für sie beide der perfekte Moment gewesen, und er warf all das einfach hin. Was glaubte er denn, wie oft er sein Glück noch herausfordern konnte?

 

Sol stellte sich unter die Dusche. Sie musste ein bisschen mit dem Regler für die Temperatur experimentieren, bis sie das richtige Maß gefunden hatte. Erst gestern war sie in die kleine Wohnung im ersten Stock eingezogen. Hellgrüne Läden vor den Fenstern, den Blick frei auf die São Pedro, die Petruskirche, die Fischer einst für ihren Heiligen errichtet hatten.

Ulisses hatte sich zum Einzug nicht blicken lassen. Er war der Meinung, keiner von ihnen außer Sol sollte sich hier länger als nötig sehen lassen. Also schickte er César. Der Gedanke daran, er könne César aus Kalkül gesandt haben, als Trostpflaster, machte sie noch wütender. Vielleicht war das tatsächlich ein missglückter Versuch, ihr einen Gefallen zu tun. Nachdem er von einem Tag auf den anderen ihre Pläne zunichtegemacht hatte. Mit seiner plötzlichen Erkenntnis, er sei nicht der Mann für »so was«.

Sol trocknete sich ab, putzte die Zähne, schlüpfte in einen kurzen Rock – nicht zu kurz –, dazu eine Bluse und kein BH . Etwas Schmuck, die Haare, ganz dezent. Etwas Schminke. Dann hielt sie inne und betrachtete sich. Da waren kleine Fältchen um den Mund. Es war höchste Zeit, wenn sie in diesem Leben noch Mutter werden wollte.

Als sie die Tür öffnete, um César zu wecken, schlug ihr Kaffeeduft entgegen. César saß frisch gekämmt am kleinen Küchentisch. Irgendwie war es ihm gelungen, zwei Croissants zu besorgen und Kaffeebohnen für die Bicas aufzutreiben.

Damit hatte Sol nicht gerechnet. Und sie merkte zu ihrem Erstaunen, dass es ihr gefiel.

»Komm«, sagte er.

Sie setzte sich ihm gegenüber hin und nahm sich eins der Croissants. Noch warm.

»Sind das etwa …?«

»Sim.«

Er beugte sich nicht vor, er gab ihr keinen Kuss, er tätschelte nicht ihre Hand, er überhäufte sie nicht mit Fragen, sondern er zündete sich eine Zigarette an, er machte alles richtig.

Sol biss in das Croissant, in dem sich Schinken und zerlaufener Käse befand. Der Tag begann ziemlich vielversprechend.

César nippte an seiner Bica. Und lächelte zufrieden.

Vielleicht war das doch gar keine so schlechte Idee gewesen mit César. Vielleicht hatte sie einfach immer auf den falschen Bruder gesetzt. Und wenn Ulisses mit einem ganz bestimmt nicht rechnete, dann, dass die beiden eine ernste Sache aus einem One-Night-Stand machen würden.

Sie stellte sich vor, was passieren würde. Erst würde Ulisses die Sache nicht an sich heranlassen. Aber die Eifersucht war ein Ding, das sich stetig weiterfraß, Tag für Tag, tiefer und tiefer. An irgendeinem bitteren Morgen würde er aufwachen und begreifen, was er verloren hatte. Sol war sich der Übersichtlichkeit ihrer Idee bewusst, sie war ein profaner Klassiker. Aber eben deshalb, weil sie seit Menschengedenken zuverlässig aufging.

Sie lächelte.

»Ich mag’s, wenn du lächelst.«

Es rührte sie, dass Ulisses’ Trostpflaster nicht den Hauch einer Ahnung vom Plan seines Bruders hatte. Und offenbar auch keine von ihrem.

 

César ging voraus, er hatte sich einen dieser Fischerhüte aufgesetzt, die meist von Touristen getragen wurden, die auch mit Socken in Sandalen herumliefen. Außerdem eine Sonnenbrille mit großen Gläsern, sodass praktisch die Hälfte seines Gesichts verdeckt war. Er ging hinüber zum Jardim Manuel Bivar, einem kleinen Stadtgarten, oval angelegt, gepflastert und mit Blumenbeeten, Sträuchern und verschiedenen Bäumen gesäumt, in deren Schatten Einheimische wie Besucher gerne eine Pause einlegten, die Zeitung lasen oder ein Buch, ein Eis aßen und auf die Marina schauten. Der Platz befand sich unmittelbar zwischen dem Jachthafen und der Altstadt.

César setzte sich in den Schatten einer Palme auf eine der grünen Parkbänke und gab vor, die Público zu lesen. Tatsächlich galt seine Aufmerksamkeit aber dem Gebäude gegenüber. Dem Hauptsitz der Banco de Portugal in Faro und an der Algarve. Ein anmutiger Bau, der traditionell und trotzdem modern wirkte, weil er verschiedene Baustile mixte. Die Säulen der Römerzeit, die den Eingang flankierten, der sich bald sieben Meter hoch erhob, um dann in einem maurischen Halbkreis zu enden. Wappen und Azulejos fanden sich darüber. Die Fenster waren mit Ornamenten verziert, und sogar ein Nachwehen der manuelischen Phase – eine Architektur, die in der Blütezeit des Landes unter König Manuel I. entstanden war und auf Portugal beschränkt blieb –, nämlich die steinernen Schiffstaue, die unter den Fenstern des ersten Stocks kleine Schlaufen bildeten.

Sol ging nun die Stufen zum Eingang hinauf. Sie hatte eine Brille aufgesetzt. Und sie machte, das musste man ihr lassen, eine ziemlich gute Figur.

César warf einen Blick auf seine Armbanduhr: halb elf.

 

»Bom dia, Senhora, mein Name ist Sol Pinho, und ich möchte mich erkundigen, ob ich bei Ihnen ein Schließfach eröffnen kann«, sagte Sol und dachte schon, ihr ganzer Aufzug sei für die Katz gewesen. Doch dem war nicht so. Die Frau am Schalter, ein junges Ding Mitte zwanzig, winkte – um momento, Senhora  – einen etwas beleibten Mann mit Stirnglatze an den Schalter, der eine behäbige Gutmütigkeit ausstrahlte.

Zunächst kniff er die Augen etwas zusammen und machte das Gesicht eines Mannes, der jetzt nicht gestört werden wollte, während er etwas Wichtiges tat (die Geldzählmaschine überwachen). Bis sein Blick von der Angestellten zu Sol fand. Die ihm ein knappes Lächeln schenkte.

Daraufhin schaltete er die Maschine mit einem lässigen Klaps aus und kam zum Schalter.

»Senhor Pontes«, sagte die junge Frau, »die Senhora würde gern ein Schließfa…«

»Gut, ich mach das«, unterbrach er sie. »Starten Sie währenddessen die Maschine neu, ja?« Als sie gegangen war, schenkte er Sol Pinho ein Lächeln: »Ein Schließfach, sagen Sie?«

»Genau.«

»Wir haben drei Größen anzubieten, Senhora –«

»Pinho.«

»Ah, Ihr Nachname beginnt auch mit ›P‹, vielleicht ein Zeichen?«, fragte er und lachte ein wenig über seine Bemerkung.

»Ja, wer weiß«, gab sie mit undurchsichtiger Miene zurück. Sie beugte sich vor, sodass er einen besseren Blick auf ihr Dekolleté hatte, was Senhor Pontes zu einem Räuspern veranlasste, aber nicht dazu, den Blick abzuwenden.

»Was denn für Größen, bitte? Ich habe etwas Familienschmuck geerbt und möchte ihn nicht in meiner Wohnung aufbewahren, dazu ist er zu wertvoll.«

»Verstehe. Da passt vermutlich die kleinste Größe: pequena. Wieder ein ›p‹«, sagte Pontes und lächelte noch breiter.

»Das ist dann wohl wirklich kein Zufall mehr!«, antwortete sie und lachte herzerfrischend, sodass ein Kunde am Nachbarschalter einen Blick auf sie warf und auch lächeln musste, weil ihre Heiterkeit so ansteckend war.

»Gut. Das Schließfach in der Pequena-Klasse kostet allerdings 139 Euro Miete im Monat.«

»Das ist der Schmuck mir wert, Senhor Pontes. Man kann ihn mit Geld ohnehin nicht aufwiegen.«

»Aber natürlich. Haben Sie denn schon ein Konto bei uns, Senhora Pinho?«

»Nein, ehrlich gesagt bin ich gerade erst nach Faro gezogen, bis jetzt war ich bei der CA

»Verstehe. Schön, dass Sie nun bei uns sind.«

»Ich zahle die erste Monatsrate gleich bar.«

»Sehr gerne. Dann benötige ich bitte einmal Ihren Personalausweis.«

Sie schob ihn über den Schalter-Tresen.

Sol hatte die Wohnung direkt neben der Kirche am Largo de São Pedro vor drei Wochen angemietet. Die Besitzerin wohnte in Lagos. Sie hatte die Wohnung aus einer Scheidung behalten und die Vermietung an Touristen mittlerweile satt. Auch wenn dabei gutes Geld für sie herumgekommen war. Nach einigen weniger guten Erfahrungen und Beschwerden der Nachbarn wegen ausschweifender, lärmender Partys hatte sie Ausschau nach etwas Verlässlichem gehalten – da kam Sol ihr gerade recht.

Pontes füllte – ganz der Gentleman – die Einträge auf dem Formular aus, die er ihr abnehmen konnte.

»Vielleicht hat Ihr Mann oder Freund ein Konto bei uns?«

»Der Mann meines Lebens hat sich aus meinem Leben verabschiedet«, sagte sie und musste sich nicht bemühen, traurig zu klingen.

»Oh, das tut mir leid, dann …«, er schob ihr das Formular zu, »sind Sie ganz alleine in der Stadt?«

In Pontes Worte hatte sich nicht der Hauch eines Mitleids verirrt.

»Bis jetzt ja.«

Sie unterschrieb.

 

Über eine Treppe führte er seine neue, äußerst attraktive Kundin einen Stock tiefer zu den Schließfächern. Vom Treppenhaus ging auch eine gläserne Tür ab zu einem Parkhaus.

»Oh, wenn ich mit dem Auto komme, kann ich hier sogar parken?«

»Selbstverständlich können Sie das Parkhaus benutzen«, sagte Pontes und deutete durch die Tür hinaus. »Sie müssen aber trotzdem den Haupteingang benutzen. Hier hat nur das Personal Zugang. Die Tür ist außen gesichert.«

Der aufmerksame, unbefangene Blick, ihre Augen, die feine Nase, der Schwung ihrer Lippen – sie weiß nicht mal, wie schön sie ist, dachte er und musste schlucken.

»… besondere Karte?«

»Pardon, wie bitte?«

»Ich habe gesagt, dass ich dann als Kundin vermutlich eine besondere Karte brauche, oder?«

»Da muss ich Sie leider enttäuschen, wir dürfen die Karte nur an einen engen Kreis des Personals ausgeben.«

»Ach, dann laufe ich eben, ich bin sonst immer so faul«, erklärte sie fröhlich und ungezwungen.

»Und nun«, sagte er nicht ohne Stolz, als sie unten angekommen waren, »betreten wir das eigentliche Herzstück dieser Bank.« Er öffnete eine massive Brandschutztür. »Ich präsentiere: die uneinnehmbare Festung, die Ihren Schmuck absolut sicher aufbewahren wird.«

Und tatsächlich: der Raum war beeindruckend. Nicht wegen seiner Größe, er ähnelte mehr einem Vorraum, sondern wegen der Tresortür. Pontes deutete mit der offenen Hand darauf: eine große, kreisrunde Tür, die sich vom Boden bis knapp unter die Decke in einer Höhe von mehr als vier Metern erstreckte.

»Purer Stahl«, sagte er, »30 Zentimeter dick. Da kommt niemand rein. Außer mir.«

Sol schaute in alle Richtungen, damit die kleine Kamera im Brillenbügel alles haarklein aufzeichnete. Die Überwachungskameras entdeckte sie mit bloßem Auge.

Maximilian Pontes verdeckte ihr mit seinen Schultern die Sicht – dachte er – als er eine Zahlenkombination an der Tür eingab. Anschließend zückte er einen langen Metallschlüssel, den er oben im Schalterbereich aus einem anderen Tresor entnommen hatte. Ein langer Stiel mit einem komplexen Bart. Nach zwei Drehungen zog Pontes mit ziemlichem Kraftaufwand an dem dafür angebrachten Bügel, und die Stahltür schwang majestätisch auf. Es gab sogar ein leises Geräusch durch entweichenden Unterdruck, als hätte Pontes gerade ein überdimensionales Einweckglas geöffnet.

Hinter der Tür tat sich ein quadratischer Raum auf mit einer Unmenge an Schließfächern. Groß, mittel, klein. Allesamt mit einem Schlüsselloch und einer kleinen Tastatur für die persönliche PIN -Eingabe. Der Boden war gefliest, die Decke weiß. Die Schließfächer befanden sich links, rechts und gegenüber. Eingelassen in drei große Stahlwände, die sich vom Boden bis zur Decke erstreckten. Die Fächer selbst begannen erst auf einer Höhe von einem Meter.

»Kommen Sie, Senhora«, sagte Pontes feierlich und überschritt die Schwelle hinein. Sie folgte ihm. Der Raum erinnerte sie an einen riesigen, metallischen Adventskalender. Als Kind hatte sie es kaum abwarten können, die nächste Tür zu öffnen. Während im Adventskalender ein Stück Schokolade wartete, verbargen sich hinter diesen schlichten Schließfachklappen Millionenwerte.

»Der sicherste Ort für etwas, was du geklaut hast, ist das Schließfach einer Bank«, hatte sie Ulisses’ Stimme im Ohr. Und er hatte recht.

Senhor Pontes reichte ihr einen kleinen Metallring, an dem sich zwei identische, kleine Schlüssel befanden.

»Bitte schön. Schließfach 77.«

»Und was passiert«, fragte sie, »wenn die Tür hinter uns zufällt?«

»Da gibt es einen Knopf, links neben der Tür, da können Sie draufdrücken.«

»Oder man wartet hier«, meinte Sol, während sie die 77 suchte und er sie begleitete, »bis einen jemand über die Kamera entdeckt.«

»Hier unten im Schließfachraum selbst gibt es keine Kameras, Senhora Pinho. Die Politik des Mutterhauses in Lissabon lautet, dass zwischen den Kunden und ihren Schließfächern eine Art Privatsphäre herrscht, die nicht beobachtet oder aufgezeichnet gehört.«

Sol schwenkte den Raum mit ihren Augen und damit auch mit der Kamera im Brillengehäuse sorgsam ab.

»Ja, ich glaube, das ist die richtige Entscheidung, Senhor Pontes. Hier ist der Schmuck wirklich bombensicher.«