16.

Es gab im Leben die erfreulichen Dinge und die anderen.

Marcos Serra hatte manchmal mitten unter der Dusche solche philosophischen Sternstunden. Vielleicht war es das Wasser, vielleicht die Entspannung, die er dort verspürte, oder was ganz anderes. Natürlich, diese Weisheit war von einer gewissen Überschaubarkeit, aber war das nicht allen großen Weisheiten gemein?

Am späten Nachmittag jedenfalls kreuzten die beiden Männer aus der Kategorie »und die anderen« auf. Der Mann im Anzug und der andere, kräftigere mit seinem zerknautschten Leinenjackett und dazu kurzen Hosen und Espadrilles. Als hätte ein Blinder ihn eingekleidet.

»Boa tarde, Senhor Serra«, begrüßte ihn Carlos Esteves.

Kein Wunder, dass Miguel Duarte seine Zeit lieber als Sicherheitsberater hier im Club verbrachte, dachte Serra und sagte: »Wie schön, Sie wiederzusehen. Monte Rainha begrüßt Sie.«

Er stand hinter der Rezeptionstheke des Hauptgebäudes. Hohe, spitz zulaufende Decken aus geöltem Holz in einem warmen Farbton. Parkett am Boden, die Theke der Rezeption aus Marmor. Überall standen kleine Kübel mit Pflanzen – verteilt im Raum, ohne ein bestimmtes Muster zu ergeben, wie Leander erfasste. Das Foyer verfügte über einen kleinen Steinbrunnen, der beruhigend vor sich hinplätscherte, eine Lounge mit gemütlichen Sofas und Sesseln und sogar eine kleine Bibliothek. Außerdem gab es drei frei zugängliche Computer und natürlich die Bar, in der man auch tagsüber schon Fingerfood gereicht bekam.

»Wir benötigen die Ausweiskopie des letzten Mieters der Villa Ria«, kam Leander sofort zur Sache, »außerdem die Zahlungsdaten: Kreditkartennummer, ausstellende Bank, die Mail seiner Buchungsanfrage und die Bänder der Überwachungskamera, um die Inspetora Graciana Rosado Sie ersucht hat.«

Sie ersucht hat. Wenigstens einer von beiden hatte ein wenig Schliff und Manieren.

»Kommen Sie doch bitte hier nach hinten in mein Büro«, sagte er und ging voran, überquerte einen Flur und schaffte sie so außer Sichtweite der anderen Gäste.

Ein Ventilator drehte sich an der Holzdecke, eine Reihe von drei Bonsais zierte die Fensterbank, ein Rollo war bis zur Hälfte heruntergezogen. Von hier aus schaute man zu den Löchern 12, 13 und 21. Nicht allzu weit entfernt fuhren zwei Mittvierziger in weißen Polohemden auf einem Cart vorbei. Serras Arbeitsplatz bestand aus einem kleinen Mahagonitisch mit einem schwarzen Monitor und einem Telefon. An der Wand hing eine Übersichtskarte des Geländes.

Er trat an ihn heran und zog einen USB -Stick ab, den er dem Mann mit den guten Umgangsformen reichte: »Die Überwachungsbänder aus der Nacht vor dem … Unglück, Senhor.«

»Obrigado. Aus welchen Kameras sehen wir darauf die Villa Ria?«

»Aus einigen.«

Er trat an die Karte und deutete auf die Positionen der Kameras.

»Ich habe Ihnen eine Folie anfertigen lassen, aus der Sie die Aufnahmewinkel entnehmen können«, sagte Serra und pinnte mithilfe von vier Heftzwecken eine Folie auf die Übersichtskarte.

Carlos und Leander traten näher. Tatsächlich ging von jeder Kameraposition ein Kegel aus, der veranschaulichte, welchen Bereich die jeweilige Aufzeichnung abdeckte.

Serra hatte keine Mühen gescheut und alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit der Aufenthalt der Polizei auf dem Gelände auf ein Minimum beschränkt blieb.

»Drei Kameras, zwei davon sind näher dran«, erkannte Carlos und tippte auf die Positionen.

»Aber keine«, wandte Leander ein, »die das Gebiet zwischen der Villa Ria und dem Golfteich zeigt, in dem Senhora Riemann gefunden worden ist.«

Serra räusperte sich vernehmlich und lenkte so die Blicke der beiden Kripobeamten auf sich: »Um Ihnen die Arbeit zu erleichtern, habe ich die Videos bereits im Schnelldurchlauf gesichtet. Leider existiert keine Aufnahme, auf der irgendjemand zu dem Golfteich geht und eine Person versenkt.«

»Dieser Bereich befindet sich ja auch im toten Winkel«, sagte Leander. »Darf ich mir die Bänder an Ihrem PC anschauen?«

»Ich bitte darum«, antwortete Serra und reichte Carlos Esteves den Ausdruck mit den Daten des Personalausweises von Mario Guerra.

»Kein Lichtbild?«, fragte der etwas enttäuscht, als er lediglich die erfassten Daten auf dem Papier, aber kein Passfoto sah. Serra schüttelte den Kopf. Leander öffnete derweil die Aufnahmen aller drei Kameras um die Villa Ria herum, die er gleichzeitig im schnellen Vorlauf checkte.

»Da, um 16:55 Uhr kommt eine Person von rechts zur Villa Ria. Klein, gedrungen, lange Haare – vom Phänotyp könnte das mit hoher Wahrscheinlichkeit Karen Riemann sein.«

 

Die an der Hotelrezeption des Monte Rainha erfassten Daten des Gastes entsprachen den Angaben, die Maja Witt ihnen im Pangaio gezeigt hatte: Mario Guerra aus Tomar.

Esteves schnappte sich sein Handy und rief bei Marisa in der PJ an – zum Glück war sie noch da. Er hörte im Hintergrund das Geräusch einer Sprühflasche. Pft-pft-pft … Sie marschierte also gerade an ihren Pflanzen entlang und benetzte die Blätter.

»Marisa, ich brauche einen Check.«

»Ich hab einen Stift.«

Er gab die Daten durch: ID -Kennung, Name, Adresse, ausstellende Behörde, Datum und Ablaufdatum. Der Zerstäuber wurde durch das Klappern der Tastatur ersetzt.

»Und die Kreditkarte?«, wandte er sich an Senhor Serra.

»Gar nicht. Er hat bar bezahlt.«

Carlos’ Miene spannte sich.

»Um 19:25 Uhr verlässt jemand das Haus und bewegt sich nach …«, Lost schaute über seine Schulter und brachte seine Beobachtung in Deckung mit den Gegebenheiten auf der Übersichtskarte hinter ihm, »… Südsüdwest – also in Richtung Loch 4.«

»Er war zum Abendessen im O Céu, der Senhor Guerra«, kürzte Marcos Serra ab, »Sie sehen auf Kamera 5, wie er im Restaurant ankommt.«

»Und hat da auch bar bezahlt?«, hakte Lost nach.

»So ist es. Viele zahlen hier bar.«

»Die Nummer stimmt nicht«, meldete Marisa sich bei Carlos zurück. »Also die Hausnummer in Tomar.«

»Travessa do Vasco No. 11 steht hier, Marisa.«

»Und der Name auch nicht. Er ist im Einwohnermeldeamt nicht gelistet.«

Carlos gab die Info an Leander und Marcos Serra weiter, der seufzte, weil offenbar dunkle Wolken über seinen public relations aufzogen. Carlos Esteves stellte das Gespräch auf laut.

»Es gibt keinen Mario Guerra in der Travessa do Vasco«, sagte Marisa. »Es gibt in ganz Tomar keinen. Kann ich sonst was tun für dich?«

»Nein, danke, das wäre es vorerst. Bis morgen.«

»Ja. Aber ich bin nicht im Büro, sondern Ablage machen. Wenn du was brauchst, ruf an. Wenn nicht: até amanha.«

Damit war das Gespräch beendet.

Wie Senhor Serra gesagt hatte, konnte Leander die Ankunft des Gastes Mario Guerra im O Céu über Kamera 5 beobachten.

»Der Typ benutzt einen falschen Pass«, konstatierte Carlos.

»Da trifft das Rainha aber keine Schuld«, sagte Serra rasch, »wir sind lediglich verpflichtet, die Daten auf dem Pass zu erf…«

Carlos hob abwehrend die offene Hand und Serra schwieg.

»Das sagt doch niemand. Er hat einen falschen Pass benutzt.«

»Statistisch gesehen gibt’s diesbezüglich nur zwei Varianten, die einen Sinn ergeben«, sagte Lost, während er die Mitschnitte weiter studierte. »Variante 1: Es ist jemand, der straffällig geworden ist und sich seiner Festnahme im Nachhinein entziehen will. Variante 2: Es ist jemand, der vorhat, eine strafbare Handlung zu begehen und dafür eine falsche Identität annimmt. Ich tendiere zu Variante zwei.«

»Warum?«, fragte Serra.

»Wegen der Logik.«

»Wenn Sie so freundlich wären …«

Leander sah ihn fragend an: »Könnten Sie bitte Ihren Satz vollenden oder einen neuen bilden?«

»Senhor Serra meint, er versteht’s nicht, und ob Sie es … ob Sie ihm Ihren Gedankengang vollständig darlegen könnten«, erklärte Carlos. Als ihn Serras beleidigter Blick traf, schob er nach: »Und mir auch.«

Serra nickte: »Könnten Sie so freundlich sein, mir zu erklären, warum Ihnen die zweite Variante logischer erscheint?«

Geht doch, dachte Carlos.

»Gerne«, sagte Lost. »Für eine Person, die dauerhaft untertauchen will, ist es nicht vorteilhaft, einen Pass fälschen zu lassen, dessen Angaben nicht stimmen – weil man damit bei einer beliebigen Verkehrskontrolle aufzufliegen riskiert. Wer auf Dauer in den Untergrund geht, benötigt also gefälschte, aber korrekte Papiere. Das spricht für Variante 2: Die Person benötigte ihre Tarnung nur für kurze Zeit, zum Beispiel, um hier einzuchecken. Danach konnte sie den Ausweis einfach wegwerfen.«

»Klingt plausibel«, sagte Carlos. »Dann ist es gut möglich, dass der unbekannte Gast hier im Monte Rainha eingecheckt hat, um seine Tat zu begehen.«

»Zum Beispiel den Mord an Senhora Riemann.«

»Mord? Ist das ganz sicher? Gran dios, sagen Sie bitte, dass das ein Scherz ist.«

»Das ist ein Scherz.«

»Puha«, hauchte Serra und griff sich an die Brust: »Sie ist also nicht ermordet worden?«

»Doch.«

»Aber Sie haben gerade gesagt, das ist ein Scherz.«

»Ja. Weil sie mich gebeten haben, ich solle das sagen. Aber es war keiner. Ich scherze nicht.«

»Das stimmt«, bestätigte Carlos.

Marcos Serra musste sich setzen, ihm wurde etwas schummrig.

»Wenn das bekannt wird …«, sagte er und sprach nicht weiter. Ob aus Atemnot oder weil ihm die passenden Worte für so eine Apokalypse fehlten, war nicht klar.

»Um 20:19 Uhr verlässt er das O Céu wieder. Bis jetzt ist niemand sonst aus der Villa Ria aufgetaucht. Also auch Senhora Riemann nicht«, kommentierte Lost seine Beobachtung auf dem Monitor. Carlos trat hinter ihn, um auch einen Blick auf die Bänder zu werfen.

»Er hatte Tisch 6«, sagte Marcos Serra mit schwacher Stimme, »Seezungenfilet in Thymianaromen mit gegrilltem Fenchel, Limonen-Jus und weißem Pfefferschaum. Dazu ein Wasser und zwei Gläser Quinta da Pedra Alta Reserva, Handlese. Das ist ein weißer Dourowein.«

»Wie weit schätzen Sie den Fußweg zwischen der Villa Ria und dem O Céu, Senhor Serra?«

»Vier Minuten? Fünf?«

»Dann ergibt sich eine zeitliche Lücke von rund 35 Minuten«, stellte Leander fest.

Der Manager runzelte die Stirn und kam nun auch um den Tisch herum, um Leander über die Schulter zu schauen. Der deutete auf die Gestalt von Mario Guerra, der sich laut der im Bildausschnitt mitlaufenden Uhr exakt um 20:53 wieder in Höhe der Villa Ria einfand und um 20:54 in ihr verschwand.

Carlos blickte zu Serra.

Der sagte: »Nun ja …«

Leander Lost stand auf und warf einen intensiven Blick auf die Übersichtskarte samt der Folie der Bildwinkel aller Kameras.

»Das ist Ihnen noch nicht aufgefallen, oder?«, fragte Carlos mit leicht genervtem Unterton.

»Ich bin hier für Öffentlichkeitsarbeit angestellt, Senhor Sub –Inspektor Esteves, nicht als Hercule Poirot. Was weiß ich, warum er so lange gebraucht hat? Vielleicht stand er in der schönen Landschaft und hat telefoniert? Oder er hat einen kleinen Verdauungsspaziergang unternommen.«

Bevor Carlos etwas erwidern konnte, kam ihm Leander Lost zuvor: »Die Richtung, in der der Mann aus dem Restaurant hier am Bildrand verschwindet. Das müsste laut der Folie von den Kameras 18 und 9 aufgezeichnet worden sein.«

Serra trat mit mürrischer Miene an seine eigene Folie: »Ja.«

»Haben Sie die hier?«

»Nein, die geht an den Server. Wir haben nur das Backup von gestern hier im Haus. Die Aufnahmen vom 22. September, die Sie sich hier ansehen, musste ich auch anfordern.«

»Wie lange dauert das?«

Serra sah auf seine Armbanduhr, ein edles Designerstück, versteht sich.

»Na, ich denke vor morgen … da wird sich wohl schlecht was machen lassen.«

»Ich treffe heute Abend in Olhão einen guten Freund zum Essen.«

»Das freut mich für Sie.«

»Der arbeitet für die Correio da Manhã. «

Lost erkannte die Lüge – Serra nicht. Der hing bereits an seinem Handy, damit Inspektor Esteves nicht ganz versehentlich im Plausch mit seinem Freund eine Information fallen ließ und um zu ermöglichen, dass die benötigten Bänder allesamt hierher geliefert wurden. Und zwar pronto.

Denn die Correio da Manhã war nicht berühmt für ihre Recherche oder sachlichen Schlagzeilen.

»Muito obrigado «, sagte Esteves und meinte es so.

»Warum gehen Sie im fernen Olhão essen? Seien Sie doch Gast im O Céu «, schlug er vor und wandte sich hastig auch an Leander Lost: »Sie natürlich ebenfalls, Senhor Lost.«

Dessen Smartphone vibrierte in seiner rechten Brusttasche im Morsealphabet: kurz-lang-lang-lang: J. Lang-lang-lang: O. Und: kurz-lang-kurz: R. Seine interne Abkürzung für Isadora Jordão. Selbst wenn er in einer Situation mal nicht den Anrufer auf dem Display sehen konnte, wusste Leander doch, wer ihn gerade erreichen wollte.

»Sim, Senhora Isadora?«

»Sie hatten mich gebeten, den Cloud-Speicher für Fotos bei dem Provider von Senhora Riemann auslesen zu lassen. Ich sende Ihnen gerade die Fotos, die seit Monatsanfang gespeichert wurden. Eine Kopie der kompletten Mediathek geht dann noch an Sie, Graciana und Carlos.«

»Ich danke Ihnen.«

»Haben Sie es mal mit Golf versucht?«, fragte Serra Carlos.

»Nein.«

»Ich weiß, es hat mitunter einen elitären Ruf, aber es ist ein guter, echter Sport.«

Leander ignorierte das Geplauder und sah sich stattdessen die Fotos an, die Karen Riemann vor ihrem Tod geschossen hatte.

Ihn wunderte, dass die Cloud nicht gelöscht worden war. Möglicherweise hatte Riemanns Mörder das Passwort nicht mehr von ihr erpressen können, weil er sie vorher erschlagen hatte. Schlechtes Timing, sozusagen.

»Ich glaube, ich passe nicht so recht ins Umfeld«, gab Carlos zurück. »Sehen Sie mich mal an.«

»Das Jackett ist doch lässig.«

»Ich muss zu Senhora Witt«, sagte Lost.

Marcos Serra und Carlos schauten ihn an: »Weil?«

Er zeigte Carlos zur Veranschaulichung seiner Aussagen die Rasteransicht der letzten Fotos, die Riemann gemacht hatte, auf seinem Smartphone: »Weil sie uns gegenüber ausgesagt hat, dass Frau Riemann in der Villa Ria ein Foto aufgenommen hat. Von den Ameisen, erinnern Sie sich?«

Carlos nickte.

»Dieses Foto ist hier nicht vorhanden. Wohl aber Fotos vom 22. September.«

»Sie meinen, das Foto könnte ein Indiz sein.«

»Ja.«

»Aber es ist doch gelöscht, oder etwa nicht?«

»Korrekt. Deshalb gehe ich davon aus, dass sich auf diesem Foto – oder mehreren – etwas befindet, das möglicherweise Aufschluss über die Identität des Täters gibt.«

»Aber es ist doch immer noch gelöscht, Senhor Lost. Oder?«

»Ja. In der Cloud. Und das Handy hat vermutlich der Mörder – aber vielleicht hatte Senhora Riemann auf ihrem Rechner am Arbeitsplatz ebenfalls eine Mediathek, mit der ihr Handy sich synchronisiert hat.«