17.

Fuseta lag ihr zu Füßen.

Die Umrisse der Häuser und ihrer Aufbauten zeichneten sich schwarz vor der weiten Fläche des im Mondschein silbrig glitzernden Meeres ab.

Hinter vielen Fenstern brannte Licht, auf einigen Dachterrassen standen Windlichter. Hier und dort war der Grill angeworfen worden, auch unten auf der Straße, wo die Einheimischen und Touristen Wolfsbarsch und Sardinen aßen, Herzmuscheln in einem Sud aus Weißwein und Knoblauch, dazu frisch aufgeschnittenes Weißbrot.

Die Funken des Grills am Kanal, wo die ersten Fischer bereits ihre Boote wieder startklar machten, stoben hoch in den Abendhimmel, orange aufglühend, um dann zu vergehen.

Eine milde Abendstimmung mit einem Rest an Helligkeit tief im Westen. Ein paar einsame Wolken, die sich hierher verirrt hatten, wurden noch von der untergegangenen Sonne bestrahlt und glühten in tiefem Rot auf.

Graciana lehnte am Rand der Dachterrasse in der Virgílio Inglês und genoss die Brise, die feinen Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf, ein Kribbeln ging durch ihren Körper.

Noch war sie alleine. Sie hatte auf dem Rückweg von Faro ihre Mutter begrüßt, ihr einen Kuss gegeben und gesagt, sie müsse mit ihrem Vater sprechen. Die Art und Weise, wie Raquel Rosado daraufhin nickte, zeigte Graciana, dass sie im Geheimen damit gerechnet hatte. »Ich warte oben«, hatte Graciana gesagt. Und hier stand sie also, schaute aufs Meer und auf den aufziehenden Sternenhimmel.

Sie hätte nicht sagen können, warum gerade jetzt, aber plötzlich kam ihr ein Erlebnis aus der Kindheit in den Sinn. Ein Morgen, an dem ihr Vater sie, Soraia und Elias geschnappt hatte, um mit ihnen in seinem Schlauchboot mit dem Außenbordmotor hinaus aufs Meer zu fahren. Antonio Rosado war damals ein braun gebrannter Bär mit einem verschmitzten Lächeln. Ein Berg, eine Bastion. Die Frauen schauten ihm nach, aber die eine hatte er schon gefunden, weswegen er die Blicke der anderen nicht erwiderte.

»Schauen wir Delfine?«, hatte Soraia gefragt, denn das war das letzte Mal das Ziel der Fahrt gewesen.

»Nein, heute hören wir Musik«, hatte Antonio geantwortet und gestrahlt. Graciana meinte noch heute zu sehen, wie die Sonne in seinen Augen reflektierte.

Und was er dann sagte, begriffen ihre Schwester, ihr Bruder und sie nicht, dafür waren sie noch zu klein, nämlich acht und neun und zwölf, aber Graciana merkte sich den Satz – vielleicht sogar gerade deshalb. Er sagte: »Wir hören etwas, was euch für immer begleiten wird.«

Er stoppte den Motor, packte sie drei und sprang mit ihnen auf dem offenen Meer über Bord.

»Legt ein Ohr aufs Wasser«, sagte ihr Vater und tat es dann selbst, um ihnen zu demonstrieren, wie genau er sich das vorstellte. Er ließ sich auf dem Rücken treiben, Toter Mann, und wendete den Kopf zur Seite. Sie taten es ihm gleich.

Und was sie hörten, bohrte sich tief, tief in ihre Persönlichkeit.

Was sie hörten, war der Gesang der Wale. O Canto das Baleias.

Ein Dröhnen, Jauchzen, Pfeifen, dumpf durch das Wasser und dann wieder hell. Ein feines, urtümliches Gewisper, kilometerweit. Graciana wusste noch ganz genau, wie sich das anfühlte. Wie sie zu zerfließen meinte und sich zugleich aufgehoben fühlte und unendlich geborgen. Und eins auch mit den anderen. Alle miteinander verzaubert.

Das Rollen der Gummiräder auf den Fliesen der Dachterrasse hinter ihr.

Sie rührte sich nicht.

Antonio rollte neben sie und kam an der Mauer zum Stehen. Sie wechselten keinen Blick, sie schauten gemeinsam aufs Meer.

»Was gibt es?«

Stille. Der Mond. Das Meer. Die Brise.

Sie hockten ein paar Augenblicke nebeneinander. Stumm. Sie hörten dem Wind zu und beobachteten die Lichter des kleinen Ortes.

»Weißt du mehr als ich?«, fragte er schließlich.

»Nein«, log sie.

Sie sah das Nicken ihres Vaters aus den Augenwinkeln.

Dann lehnte sie den Kopf zur Seite. Musterte sein Profil. Das vorgeschobene Kinn.

»Muss ich mir Sorgen machen?«, fragte er weiter.

»Nein.«

»Was ist mit dem Toten?«

»Ich hab Raul darauf angesetzt.«

Antonio nickte: »Das ist gut.«

Wieder der Blick aufs Meer.

Sie schwiegen und waren eins in diesem Moment, das spürten sie wohl beide.

Elias gesellte sich zu ihnen, auch das war unausgesprochen klar. Manchmal hatten sie ihn vergessen, verdrängt aus ihrem Alltag, und wenn sie sich selbst dabei ertappten, empfanden sie Schuld und Scham. War es normal, dass man nach vielen Jahren einen Tag durchlebte, an dem er in Gedanken nicht ein einziges Mal auftauchte? Oder vermisste man ihn einfach nicht genug? Hatte man ihn dann überhaupt geliebt? So tief, wie man glaubte, wie es einem die Erinnerung weismachen wollte?

»Deine Schwester war heute hier.«

»Schön«, sagte Graciana mechanisch, weil die Bemerkung ihr einvernehmliches Schweigen brach. »Hast du eine Zigarette für mich?«

Er reichte ihr eine Selbstgedrehte und steckte sich auch eine in den Mund. Dann zückte Antonio Rosado sein Feuerzeug. Graciana beugte sich zu ihm. Ganz nah, sie hielten die Zigarettenspitzen in die Flamme. Die Spitzen glommen auf und erhellten ihre Gesichter.

Dann schauten sie wieder über die Schattenrisse der Häuser. Die Antennen und SAT -Schüsseln hoben sich schwarz gegen den Himmel ab, alles wirkte wie ein großer Scherenschnitt.

»Was für ein schönes Bild«, sagte sie.

Ihr Vater nickte, sie sah es aus den Augenwinkeln.

»Wirst du nicht müde, darauf zu schauen?«

»Nein«, sagte Antonio Rosado ruhig.

»Ich auch nicht.«

Ihr stiegen die Tränen in die Augen. Sie fühlte sich ihrem Vater so nahe wie als kleines Mädchen, als er Soraia und ihr abends im Bett Geschichten erzählte, in denen sie natürlich immer die Heldinnen waren, bis sie schließlich eingeschlafen waren. Behütet und beschützt.

»Denkst du, das oben am São Miguel waren die Männer von damals?«, fragte er schließlich. Und sie hatte mit der Frage gerechnet.

Ja, wollte sie sagen, das waren sie. Natürlich.

Denn für Graciana lag es auf der Hand. Einer von denen hatte Elias ins Herz geschossen und ihren Vater in den Rollstuhl. Was auch immer in der Zwischenzeit geschehen war, ob sie wegen anderer Taten eingesessen hatten oder woanders neue begangen hatten, spielte für Graciana auch keine Rolle. Sie waren es gewesen, und nun waren sie wieder da. Und kaltblütig genug, um genau hier erneut zuzuschlagen.

Stattdessen schwieg sie.

»Diese Frage haben mir heute auch schon zwei Menschen gestellt, Graciana. Deine Schwester und deine Mutter.«

Deshalb war Soraia hier gewesen.

»Was hast du gesagt?«

»Ja. Ich habe ›Ja‹ gesagt. Ich weiß nicht, wie du darüber denkst, aber für mich ist es klar.«

Sie schaute ihn an. Er zog an seiner Zigarette, die Glut leuchtete auf und damit sein altes, noch immer schönes Gesicht.

»Deine Mutter«, sprach er weiter, »sie hat mich gefragt, was ich tun würde, wenn der Mann, der … der auf Elias geschossen hat, hier vor mir stünde.«

»Und?«

»Ich habe geantwortet, dass er dieses Haus nicht lebend verlassen würde.«

»Ja«, sagte sie unwillkürlich. Einfach nur ja. Bevor ihr Verstand es stoppen konnte.

Sie sah, wie ihr Vater aufmerkte, wie zwei Gefühlsregungen aufblitzten – Stolz und Sorge.

»Und Mãe und Soraia?«

»Deine kleine Schwester hat den Kopf geschüttelt. Und Raquel …« Kurz zog ein sentimentales Lächeln über sein Gesicht, dann atmete er einmal durch. »Sie hat gesagt, ich würde für meine Rache die Zukunft von ihr und euch zerstören. Sie war … richtig wütend.«

Graciana nickte. Sie hatte verstanden.

»Wird frisch jetzt«, fügte er hinzu, wendete den Rollstuhl und fuhr zurück zur Terrassentür, um sich vom Treppenlift nach unten befördern zu lassen.

Graciana stand alleine.

All das galt und war wahr.