TAG FÜNF

19.

»Sie sind Leander Lost«, sagte Miguel Duarte.

»Das ist korrekt. Und das ist Soraia Rosado, meine Lebensgefährtin.«

Miguel saß – den Kopf frisch verbunden – auf der Bettkante in seinem Einzelzimmer und musterte beide mit einer Mischung aus Neugierde und Befremden. Diese distanzierte Miene sollte bis auf Weiteres zu seinem dauerhaften Gesichtsausdruck werden.

»Bom dia, Senhor Duarte «, sagte Soraia und lächelte ihn freundlich und aufmunternd an.

»Bom dia «, sagte er, »kannten wir uns … vorher?«

»Ja, viele Jahre. Ich bin die Schwester Ihrer Vorgesetzten, Graciana Rosado.«

»Und haben wir uns geduzt?«

»Ja, Miguel.«

Er nickte und betrachtete sie mit einem intensiven Blick. Er tastete ihr Gesicht ab, die Augen, ihre ganze Erscheinung. Er bemühte sich mit aller Kraft, etwas wiederzuerkennen. Aber es stellte sich nicht ein.

Er schüttelte den Kopf. »Keine Erinnerungen.«

»Der Neurologe sagt, dass Ihre persönliche Erinnerung lediglich blockiert ist«, stellte Leander fest, »wir haben ein paar Anknüpfungspunkte an Ihr Leben vor Ihrer Verletzung. Vielleicht hilft Ihnen das, einen Zugang zu finden.«

»Aha.«

Seine Reaktion gab ihnen keinerlei Anhaltspunkt dafür, wie er über diesen Plan dachte. Er sagte es, als könne er an diesem Vorhaben teilnehmen – oder es genauso gut sein lassen. Miguel Duarte wirkte unbeteiligt, als ginge ihn das alles im Grunde gar nichts an.

Er richtete seinen Blick wieder auf Leander, musterte ihn sehr genau: »Halten Sie das für den richtigen Schritt, Senhor Lost?«

»Ja, ich halte das für einen sehr sinnvollen Schritt.«

Duarte nickte. Offensichtlich gab ihm Leanders Entschiedenheit die notwendige Sicherheit, sich auf diesen Plan einzulassen.

»Wir haben dir etwas zum Anziehen mitgebracht – es ist aus deiner Wohnung.«

»Wo liegt die?«

»Hier in Faro.«

Sie reichte ihm einen hellgrauen Anzug samt Hemd und Schuhen und Unterwäsche. Duarte schaute alles an, als hätte er noch nie vergleichbare Kleidungsstücke gesehen, geschweige denn: sich selbst gekauft, weil er sie schön fand.

 

Sie verließen die Klinik zu Fuß. Miguel hatte bereits am Morgen ein paar beaufsichtigte Runden mit Doutora Oliveira und dem Neurologen absolviert. Im Anschluss hatte man ihn durchgecheckt. Seine Werte waren in Ordnung gewesen. Das behandelnde Team befand es für gut, dafür zu sorgen, dass er sich so schnell wie möglich wieder in sein altes Leben einfand. Zum einen, damit er seine motorischen Fähigkeiten nicht verlernte, zum anderen, weil persönliche Dinge am ehesten geeignet waren, die Erinnerungsblockade aufzubrechen – im Gegensatz zu einem sterilen Krankenzimmer, das keinen Anknüpfungspunkt an sein bisheriges Leben für ihn bereithielt.

Duarte ging dicht neben Leander, weil er selbst Unsicherheit verspürte, während der Kollege aus seinem alten Leben offensichtlich haargenau wusste, was zu tun war. Schon an der ersten Kreuzung, wo Soraia ihren alten Renault abgestellt hatte, deutete Duarte auf einen Herrenausstatter schräg gegenüber: Trindade e os filhos.

»Das kenne ich.«

»Ein Herrenausstatter«, erklärte Soraia, »du legst großen Wert auf ein gepflegtes, modisches Äußeres.« Sie setzten sich in den Wagen, Lost und Duarte hinten, und schnallten sich an.

»Maßanzüge sind ganz schön teuer. Was verdiene ich denn im Monat?«, fragte Duarte, nachdem sie losgefahren waren.

»Da wir den identischen Dienstrang bekleiden«, antwortete Leander, »gehe ich davon aus, dass Sie auch mit 2.140 Euro brutto besoldet werden.«

»Du weißt, was brutto bedeutet, Miguel?«

»Ja. Vor Steuern.«

»Korrekt.«

Die ganze Zeit während Soraia den Wagen so behutsam wie möglich durch Faro steuerte, plötzliche Bremsungen vermied und beim Anfahren an den Ampeln nur behutsam beschleunigte, schaute Duarte hoch konzentriert aus dem Fenster. Immer auf der Suche nach einem Anhaltspunkt.

Da waren Straßen oder Restaurants, von denen er sicher war, sie zu kennen. Bloß woher? Was hatte er dort gemacht? Mit wem? Dienstlich oder privat?

»Weißt du, was das Ergebnis von 4 mal 9 ist?«

»36.«

»Der Name deines Vaters?«

Duarte senkte den Blick, er starrte auf die Fußmatte im Auto, auf seine Schuhspitzen, er kniff die Augen zusammen vor Konzentration – aber es half nichts.

»Ich weiß nicht.«

»Das ist nicht schlimm«, sagte Soraia sofort und tastete mit ihrer Hand blind nach hinten, bis sie seine berührte und umfasste und drückte. Miguel erwiderte den Druck. Er schien ihn tatsächlich ein wenig zu trösten.

 

Sein Apartment in der Avendia da República befand sich im ersten Stock eines größeren Mietshauses westlich der Marina, das ihm einen großen Balkon mit dem direkten Blick auf die Ria Formosa erlaubte und auf die Boote, die über die Lagune bis ins offene Meer steuerten.

Dem Miguel Duarte von »früher«, erinnerte Soraia sich, war die Formosa eher ein Ärgernis. »Bei Ebbe eine matschige Landschaft mit Zehntausenden Krebsen und Vogelgeschrei und dem Gestank von Meerboden. Und an Pflanzen nur Bodendecker und Gestrüpp, so weit das Auge reichte – ich würde den Atlantik gerne direkt sehen«, hatte sie sein Missfallen noch im Ohr. Er hatte das Apartment trotzdem genommen und nach seinen Vorstellungen umbauen lassen, denn die Lage direkt am Wasser wurde auf dem Immobilienmarkt von allen geschätzt. Für ihn war es vor allem eines gewesen: ein Statussymbol.

Er erkannte nichts wieder.

Selbst sein Namensschild neben der Klingel war für ihn neu. Die Stufen, das Treppenhaus, seine ganze Wohnung. Alles war sauber und gepflegt, was nicht schwerfiel bei der spärlichen Möblierung. Ein großes Futonbett neben einer Schrankwand, die Küche hochmodern und auch blitzblank.

Miguel begutachtete den Herd.

»Koche ich gern? Der Herd sieht so unbenutzt aus.«

»Ich weiß es nicht, Senhor Duarte«, antwortete Lost, während er sich ebenfalls umsah. Offensichtlich war auch ihm der Ort eher fremd.

Duartes Blick wanderte zu Soraia: »Habe ich euch nie eingeladen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Warum nicht?«

»Ich weiß nicht. Miguel«, sagte Soraia.

»Dann hatten wir kein enges Verhältnis.«

»Nein«, bestätigte Leander.

»Aha.«

Der Blick in den Kleiderschrank löste bei ihm ebenso wenig aus wie jener auf die Lagune, was Soraia betrübte. Wenn Duarte sich an etwas erinnern können sollte, dann doch wohl seine geliebten Anzüge. Doch auch diese Hoffnung war vergebens.

 

In dem Gebäude der Kripo verhielt es sich nicht anders. Er erkannte Marisa nicht, Tochter eines Konditormeisters, die ihn umgehend mit ein paar Plätzchen versorgte. Auch Isadora Jordão war ihm nicht bekannt. Doc, der in seinem Korb lag, knurrte nicht, als er Duarte sah. Vielmehr stand er auf, tippelte ihm entgegen und beschnüffelte seine Hand.

Isadora beobachtete das ebenso interessiert wie Leander, denn früher hatte Doc verlässlich geknurrt, sobald er Miguel Duarte erblickte.

»Mochte ich Hunde?«

»Eher nein«, bekannte Isadora.

Miguel zögerte kurz, dann streichelte er den Dobermann sanft am Kopf, was Doc sichtlich gefiel.

»Er mag’s«, sagte Duarte und lächelte jetzt das erste Mal, seit sie die Klinik verlassen hatten.

»Erstaunlich«, sagte Isadora mit hochgezogener Augenbraue zu Soraia, die ihrer Verwunderung mit einem angedeuteten Achselzucken Ausdruck verlieh.

 

Im ersten Stock trafen sie auf Graciana und Carlos, die ihre Arbeit unterbrachen und das Trio begrüßten.

»Miguel, schön dich zu sehen.« Graciana drückte seine Hand besonders lang und herzlich, »wie geht es dir?«

»Ganz gut. Aber es ist noch alles neu für mich. Also: wirklich alles.«

»Lass dir Zeit, hetzt ja keiner«, sagte Carlos aufmunternd.

Miguel ließ den Blick durch den Raum schweifen, über die Schreibtische, die Computer, die Stühle, den großen Fernseher.

»Wofür ist der Fernseher? Werden hier Filme geschaut?«

»Manchmal«, sagte Carlos, »zum Beispiel Mitschnitte aus Überwachungskameras. Aber eigentlich wollten wir beide das Ding gerne haben für Fußballübertragungen.«

Carlos schenkte ihm ein konspiratives Grinsen.

»Ah ja. Wir … wir haben hier Fußball geguckt, du und ich?«

»Hin und wieder, ja. Weißt du, was dein Lieblingsclub ist?«

»Nein.«

»Der FC Porto«, log Carlos.

Graciana und Soraia verdrehten die Augen.

»Aha. Und welcher ist mein Tisch?«

»Ich zeig ihn dir, komm«, sagte Graciana und führte ihn über den Flur in einen anderen Raum, in dem sich nur ein einziger Tisch samt Stuhl befand.

Miguel sah sich nicht lange um, sondern stutzte jetzt sofort.

»Warum habt ihr mich abseits von euch hier arbeiten lassen?«

»Weil du das so gewollt hast«, antwortete Graciana ruhig.

Duarte blickte ihr ins Gesicht auf der Suche nach einem Scherz, aber er wurde nicht fündig. Ihre Aussage machte ihn offensichtlich nachdenklich.

In dem Augenblick näherten sich schnelle Schritte, dann stand Isadora in der Tür. »Nennt es Spielerei oder Langeweile«, begann sie ohne Umschweife. »Ich habe die Fingerabdrücke aus der Villa Ria mit denen des unbekannten Toten abgeglichen: Volltreffer.«

Duarte, der hier mit ratloser Miene und mittendrin doch ganz alleine unter ihnen stand, hätte noch vor einer Woche jede noch so kleine Erkenntnis seinerseits lautstark beweihräuchert. Isadora hingegen stellte ihr Licht gerne eher unter den Scheffel. »Großartig«, lobte Graciana, die das nur zu gut wusste.

»Der Mann mit dem Tarnnamen Mario Guerra ist also der Tote«, stellte Carlos Esteves fest.

»Ja. Zwei Tage vor dem Überfall auf den Werttransporter hat er im Monte Rainha übernachtet«, sagte Isadora.

»Und ist dort in das Ferienhaus eingestiegen, das von Senhora Deveraux angemietet worden war«, ergänzte Lost.

»Aber wir wissen nicht, wer sich hinter dem Namen verbirgt«, sagte Graciana.

Carlos nickte.

Immerhin. Es war eine Parallele – hing der Aufenthalt im Monte Rainha also mit dem Überfall zusammen?

»Sagt dir das was«, wandte Soraia sich an Miguel, »der Überfall am Berg?«

Sofort waren alle still. Sie hatten in der Begeisterung über die neue Information kurz vergessen, dass Miguel vermutlich kein Wort verstand. Tatsächlich schüttelte der den Kopf. Das Gespräch der Kollegen war für ihn ein einziges Rätsel.

»Ich weiß«, sagte er in die Stille hinein, »dass Monte Rainha ein Golfresort ist. Aber ich weiß nicht, ob ich da war.«

Duartes Stimme klang müde und zunehmend verzweifelt.

»Kannst du tanzen, Miguel?«, fragte Soraia, und alle schauten sie verwundert an.

»Ich … ich weiß nicht.«

»Okay«, sagte Soraia, ging zum Radio und drehte es auf. Es lief ein Mas Que Nada.

Sie lächelte und ging auf Duarte zu, den einen Arm erhoben, den anderen angewinkelt.

»Darf ich bitten?«

»Lass es langsam angehen, So«, ermahnte Graciana sie sanft.

»Keine Sorge. Wir machen kleine Schritte.«

Für einen Moment stand Duarte nur reglos da.

Dann war es, als würde in den Tiefen seines Körpers und Gehirns ein Programm aufgerufen. Miguel ging in die Grundstellung und nahm Haltung an – hier war unverkennbar, dass er Sohn eines Vaters war, dem Grandezza über alles ging –, um dann mit Soraia in seinem sonst leeren Büro einen Samba zu tanzen.

Duarte war, das musste man ihm lassen, ein ausgezeichneter Tänzer, der den Rhythmus im Blut hatte und Soraia hervorragend führte. Er erwiderte jetzt sogar das aufmunternde Lächeln, mit dem sie ihn bedachte.

Nach dem letzten Takt drückte Soraia noch einmal Duartes Hände fest. Er sah glücklich aus. Alle im Raum waren ergriffen und schwiegen.

Am meisten staunte Leander. Der Anblick dieses tanzenden Paares, Soraia mit Miguel, hatte spürbar seine Herzfrequenz erhöht, ohne dass ihm eine Begründung dafür eingefallen wäre. Auch war ihm wärmer geworden und der Mundraum trocken. Wie bei einem Fieberschub. Er schluckte leer. Lost empfand einen leichten Druck auf seinem Brustkorb, ein merkwürdiges Ziehen, das er noch nie gespürt hatte.

Das letzte Mal, als er wegen Herzklopfens einen Kardiologen aufgesucht hatte, war der nach wenigen Minuten zu einem belustigten Lächeln übergegangen.

»Sie sind verliebt, Senhor Lost«, diagnostizierte er, »Ihr Herz funktioniert einwandfrei. Sie sind kerngesund.«

Auf einmal hatte es Sinn ergeben, dass seine Herzfrequenz immer sprunghaft nach oben gegangen war, wenn er sich in der Nähe von Soraia befunden hatte. Und Hunger hatte er in ihrer Anwesenheit auch nie verspürt. Für den Herzspezialisten passte das alles.

Dieses Mal, während sie mit Duarte tanzte, konnte es da schon wieder Verliebtheit sein?

Der Kardiologe würde ihm in ein paar Tagen von etwas erzählen, was Leander aus der Literatur kannte, aber vermutlich noch nie empfunden hatte: Eifersucht.

»Ja«, sagte Soraia nun anerkennend, »du kannst tanzen, Miguel. Du konntest es früher, du kannst es immer noch ganz genauso. Du hast dich nur nicht mehr daran erinnern können.«

»Genau«, pflichtete Carlos ihr bei, »wie heißt dein Vater, Miguel?«

Das Lächeln von Miguel erstarb mit jeder Sekunde, mit der er darauf keine Antwort geben konnte. Er versuchte sich zu konzentrieren, seine Lippen bewegten sich, als murmle er irgendein geheimes Mantra, das ihm die verschlossene Tür zum Namen seines Vaters öffnen würde.

Carlos blickte zu Boden – seine Frage machte die fragile Hoffnung zunichte, die beim Anblick des Tanzes von ihnen allen Besitz ergriffen hatte.

»Ah, das war eine blöde Frage«, erkannte Carlos Esteves zerknirscht, aber es war zu spät.

 

Während Graciana sich von Carlos über all die Informationen in Kenntnis setzen ließ, die er am Vortag zusammen mit Leander Lost im Monte Rainha und Heavenly Homes gesammelt hatte, fuhr Lost mit Soraia und Miguel zurück in die Casa Canto das Baleias. Graciana hatte ihn für den Rest des Tages vom Dienst entbunden, damit er an Duartes Seite blieb und sie sich ganz auf die Ermittlung der Täter konzentrieren konnte.

Carlos dagegen hätte sie nicht einfach wegschicken können.

 

Da Miguel auf dem Weg über die N 125 von Faro über Olhão der Magen knurrte und auch Soraia und Leander ein wenig Hunger hatten, legten sie dort einen Zwischenstopp ein.

Die Stadt der Würfel verdankte ihren Spitznamen den kubisch wirkenden Häusern, die gleichzeitig den maurischen Einfluss symbolisierten und zwischen denen viele kleine und enge Gassen verliefen und wo Geschäfte und kleinste Restaurants so versteckt lagen, als wollten sie lieber gar nicht erst entdeckt werden.

Oben auf den Häusern, die sich meist nicht mehr als zwei oder drei Stockwerke in die Höhe reckten, gab es zahllose Dachterrassen, die Açoteias. Ganz so, als verfüge die Stadt noch über eine zweite Ebene, auf der sich ab dem späten Nachmittag und erst recht am Abend ein gesondertes Leben abspielte.

Auf jeden Fall gab es niemanden, den der Anblick eines Sonnenuntergangs von hier oben nicht verzauberte – mit einem Farbverlauf von gesättigtem Gelb bis zum tiefen Blau des Atlantiks.

Olhão hatte lange gut vom Fischfang gelebt und sogar Konservenfabriken unterhalten, die heutzutage leer standen.

Seinen Platz in der Geschichte sicherte Olhão sich aber 1808. In dem Geheimvertrag von Fontainebleau ein Jahr zuvor hatten das spanische und französische Königshaus eine Vereinbarung getroffen: Die napoleonischen Truppen durften Spanien für die Eroberung Portugals durchqueren. Und im Gegenzug würde Spanien die Algarve zum Dank für diesen Verrat erhalten.

Die Geschichte der beiden Staaten auf der Iberischen Halbinsel war durchsetzt von Übergriffen der Spanier auf den kleineren Nachbarn, doch diese Episode war besonders unappetitlich und den Portugiesen bis heute im kollektiven Gedächtnis.

Lissabon fiel am 30. November 1807, der portugiesische König João VI . floh ins Exil nach Rio de Janeiro.

Nachdem die Franzosen auch Faro und Teile der Algarve besetzt hatten und die Steuern in astronomische Höhen schraubten, erhoben sich die Fischer von Olhão und leisteten zusammen mit anderen Gemeinden Widerstand.

Die Sache gipfelte in einer Schlacht zwischen Moncarapacho und Olhão und führte in der Folge erst zu dem Rückzug der Franzosen an der Küste und aus dem ganzen Land, wobei die Briten die Portugiesen unterstützten.

Siebzehn Männer aus Olhão legten daraufhin – von Begeisterung über die Geschehnisse ergriffen – am 6. Juli an der Ria Formosa ab und schipperten mit einem Einmaster namens Bom Successo, der eigentlich eher für flache Gewässer konstruiert worden war, über den Atlantik. Ausgestattet mit einer Seekarte, die es mit den maritimen Gegebenheiten und Küstenverläufen und Distanzen im Allgemeinen etwas lax nahm, gelang ihnen das Husarenstück, Brasilien zu erreichen. Nach zweieinhalb Monaten Überfahrt, am 22. September 1808, verkündeten sie dem König höchstpersönlich die frohe Kunde – und der erhob dafür dankend Olhão zur Stadt und gab ihr den Beinamen da Restauração: Stadt der Wiederherstellung.

 

Der Ort verfügte auch heute noch über keinen eigenen Strand und lag relativ weit von den vorgelagerten Inseln Armona und Culatra entfernt. Im Gegensatz zu anderen Küstenorten an der Ostalgarve konnte man hier nicht innerhalb weniger Minuten mit der Barkasse oder dem Wassertaxi übersetzen – was Olhão das Glück bescherte, in den Ferien nicht an Touristenströmen zu ertrinken. Sicher, es gab immer ausreichend Gäste, besonders die Promenade mit ihren Restaurants war gut besucht. Aber schon hundert, zweihundert Meter stadteinwärts nahm mit jedem Schritt die Zahl der Touristen ab und das wirkliche Leben der ansässigen Portugiesen übernahm das Straßenbild, wodurch Olhão bis heute seine Authentizität bewahrt hatte.

Es war auf erfrischende Weise ungehobelt. Und eines der ungehobeltsten Lokale war zweifellos das Escondido.

Es befand sich in einer schmalen Gasse, der Rua Dr. Manuel Arriga, 50 Meter hinter einem kleinen Supermarkt, dessen einstufiger Eingang auf einer Hausecke lag und der mit einem bunten Schild auf einem dünnbeinigen, roten Ständer Eissorten anbot. Zwei der Fenster waren mit schönen Fotos von Gemüse und einem Rotwein verziert – drinnen sah es anders aus. Dunkel, eng, die Besitzerin hielt hier noch einen ausgiebigen Plausch mit ihren Kunden aus der Nachbarschaft.

An der zweiten Kreuzung dahinter lag das Escondido. Es sah bis auf vier Tische mit Holzstühlen und schwarzen, flachen Sitzkissen gar nicht nach einem Lokal aus. Lediglich eine Nationalflagge aus Plastik hing in der Windstille über der dunkelgrünen Doppeltür, von der nur eine Seite offen stand.

Aber es war der Geruch, der das Lokal in dem Gebäude verriet, das auf den ersten Blick wie ein Wohnhaus wirkte. Die Fenster mit dünnen, weißen Eisenstäben in Rautenform gesichert. Im ersten Stock kleine Austritte mit geschwungenen Geländern.

Das Escondido war ein Lokal, in dem es nur fünf oder sechs Gerichte gab, die je nach Angebot des Marktes und der Laune des Koches variierten.

Der Innenraum bestand aus einer Theke, einer Vitrine mit Fischen und drei Tischen sowie einem Fernseher. An einem der Tische hatten sich die Enkel ausgebreitet, ein Mädchen, ein Junge, zehn und elf Jahre. Sie starrten entweder auf den Fernseher (praktisch durchgängig) oder auf ihre Hausaufgaben (wenn ihre Großmutter vorbeikam), die unerledigt vor ihnen auf der Tischplatte lagen.

Ihre Großeltern betrieben das Lokal in einer Größe, die überschaubar und für sie leistbar war. Er kochte und nicht selten gab es andere Beilagen zu den Gerichten als die, die seine Frau mit dem Tablett unter dem Arm den Gästen draußen angekündigt hatte.

Bis auf ein paar Briten hatte daran nie jemand Anstoß genommen, und denen berechnete man die Hälfte – was sie sehr freute – und legte ihnen ans Herz, unbedingt noch Abstecher nach Cabanas und Alvor zu machen.

 

Soraia und Leander begrüßten die Frau, die sie kannte und ihnen den besten Tisch gab – im Schatten und in der Nähe der Kreuzung, wo stets eine leichte Brise vom Meer kommend durch die Gasse wehte. Sie stellte ihnen Wasser hin, Brot und Käse und Oliven.

Heute empfahl sie Arroz de Marisco, Reis mit Meeresfrüchten, einer Paella nicht unähnlich.

Die drei Männer Anfang vierzig am Nebentisch hielten es tatsächlich dafür und hatten es deshalb bestellt. Jeder patriotische Spanier genauso wie jeder Portugiese mit dem Herz am rechten Fleck hätte die Verwandtschaft der beiden Gerichte entschieden zurückgewiesen. Enttäuscht werden würden die Touristen aber nicht.

Miguel hatte Lost einmal lang und breit die Unterschiede zwischen dem spanischen und dem portugiesischen Gericht erklärt, und Lost hatte sich jedes Detail eingeprägt. Die Portugiesen servierten es im Topf, deswegen gab es mehr Brühe, und sie verzichteten auf Safran (wobei auch die Köche in Spanien, das wusste Lost, aus Kostengründen gerne mal auf das Gewürz verzichteten und dem Reis die typische Gelbfärbung durch Zugabe von Lebensmittelfarbe verliehen). Während die Spanier den Reis erst ganz zuletzt den anderen Zutaten beimischten, wurde er bei den Portugiesen gleich nach Zwiebeln, Knoblauch und Tomaten in die Mischung aus Fischsud und Portwein gegeben.

All das wusste Duarte nach wie vor, als sie ihn danach fragten. Er steuerte sogar noch das Detail bei, dass der Reis erst nach der Eroberung der Algarve durch die Mauren seinen Weg ins Land gefunden hatte. Aber ansonsten war es wie verhext: Miguel konnte sich nämlich nicht entsinnen, ob ihm Arroz de Marisco schmeckte. Mochte er überhaupt Fisch?

»Ich erinnere mich an einen Abend bei Soraias Eltern«, half Leander ihm, »da gab es verschiedene Petiscos mit Fisch. Sie haben sie alle probiert.«

»Ich danke Ihnen, Senhor Lost. Dann wird es wohl so sein.«

Daraufhin bestellte Soraia Arroz de Marisc o für sie drei.

 

Im Gegensatz zu ihrer Sekretärin sprach Madame Deveraux nicht nur Englisch, sondern auch Portugiesisch.

Ihre Sekretärin hatte sie von ihrem Büro in Vichy zu ihr durchgestellt. Den Hintergrundgeräuschen nach zu urteilen, befand sie sich gerade in einem Auto. Es klang nach einer regennassen Straße.

Graciana und Carlos saßen im Gemeinschaftsbüro und hatten das Telefon auf Lautsprecher gestellt. Während sie direkt davor saß, stand Carlos am offenen Fenster und rauchte. Über ihnen rotierte der Ventilator.

»Boa tarde «, sagte die Geschäftsfrau. »was kann ich für Sie tun?«

»Boa tarde, Madame Deveraux, wir untersuchen zwei Verbrechen, die miteinander in Verbindung stehen«, sagte Graciana, »und in einem kommen Sie am Rande vor.«

»Oh. Wie das?«

»Am 22. September haben Sie in einem Haus auf dem Gelände vom Monte Rainha übernachtet. Das zumindest belegen die Unterlagen, die das Resort uns zur Verfügung gestellt hat.«

»Ja, das ist korrekt.«

»Ein Manager vom Monte Rainha hat uns gegenüber versichert, dass es von Ihrer Seite bei der Abreise keinerlei Beschwerden gab.«

»Auch das stimmt. Wieso haben Sie sich danach erkundigt?«

»Weil eine Person in der Zeit, in der Sie im O Céu gegessen haben, in Ihr Ferienhaus eingebrochen ist.«

»Wie bitte?«

»Sie haben richtig verstanden. Er hat die Alarmanlage ausgetrickst und sich rund zehn Minuten in Ihrem Haus aufgehalten.«

»Das ist ja was. Ich habe nichts bemerkt.«

»Es waren auch keine Einbruchspuren sichtbar. Vielleicht hatte er einen Zweitschlüssel, vielleicht konnte er ein Fenster aufhebeln.«

»Was ich mit Sicherheit sagen kann: Ich hatte das Schlafzimmerfenster in der gekippten Position, um am Abend etwas frische Luft reinzulassen. Der Raum hatte sich über den Tag ganz schön aufgeheizt.«

»Das könnte genügt haben, Madame Deveraux. Was uns allerdings irritiert: Wie kann es sein, dass jemand unbemerkt bei Ihnen eingebrochen ist, ohne etwas zu entwenden? Haben Sie bei der Abreise wirklich nichts vermisst?«

»Ich schaue gerade noch einmal nach, aber«, es raschelte kurz in der Leitung, »alle Kreditkarten sind noch da, Ausweis. Bargeld auch. Ich habe da nie den genauen Überblick«, schloss sie und lachte wegen der letzten Worte ein wenig entschuldigend, damit es nicht arrogant klang.

»Wobei«, sagte sie dann, »das war ein Denkfehler. Mein Portemonnaie hatte ich im Restaurant dabei. Ich war da verabredet und habe meinen Gast natürlich eingeladen.«

»Natürlich«, sagte Carlos leise.

»Könnte sonst etwas entwendet worden sein, das Ihnen bislang nicht aufgefallen ist?«

»Ich habe zumindest nichts vermisst … aber lassen Sie mich kurz überlegen, bitte.«

»Gehen Sie alles ganz in Ruhe durch.«

»Also: Ich war für zwei Nächte da. Am 22. September bin ich mit einer Maschine am späten Nachmittag aus Rom gekommen. Dann das Abendessen, von dem ich Ihnen gerade berichtet habe. Am nächsten Tag war ich in Faro unterwegs, und am Abend dann nicht mehr aus. Das war auch gut so, denn ich musste am Morgen darauf die erste Maschine nehmen. Ich hatte nur ein paar Kleider dabei, das Übliche für so einen kurzen Trip.«

Carlos trat näher heran.

»Pardon, Madame, ich bin Sub-Inspektor Esteves, der Kollege von Senhora Rosado. Wie sieht es aus mit Wertsachen wie Schmuck, ein Smartphone, so was?«

»Nein. Meine Ohrringe und die Halskette habe ich getragen. Das Handy hatte ich sogar tatsächlich im Haus liegen gelassen. Und es war noch da. Ich telefoniere sogar gerade damit.«

»Hatten Sie es vergessen?«

»Nein. Ich bin süchtig nach neuen Nachrichten. Ich könnte auf dem Sterbebett liegen – wenn eine neue Nachricht reinkommt, muss ich einfach draufschauen. Das ist geradezu verhaltensauffällig«, sie lachte verhalten. »Wie auch immer – es war ein wichtiges Treffen, ich wollte mich voll auf meinen Gesprächspartner konzentrieren. Das ging nur ohne Handy. Mein Laptop war übrigens auch im Ferienhaus. Auch den habe ich dabei.«

»Beides passwortgeschützt, nehme ich an«, fragte Graciana.

»Geht ja gar nicht mehr ohne, heutzutage.«

»Sagen Sie, haben Sie vielleicht sensible Daten auf Ihren Geräten?«

»Nun ja, das will ich meinen.«

»Nämlich?«

»Ich arbeite für Saint Rivage. Wir investieren hauptsächlich in Start-ups, bevorzugt auf dem Neuen Markt. Ich selbst leite aber eine Abteilung, die renommierte Firmen aufkauft, die ins Trudeln geraten sind.«

»Sie sanieren die Unternehmen?«

»Ja. Oder übernehmen sie.«

»Und wickeln sie ab?«

»Non, non, non … das machen wir nicht. Ich übernehme nur Firmen mit einer Zukunft. Das heißt, wenn mein Team und ich diese Zukunft gestalten können. Sonst ziehen wir weiter.«

Carlos schrieb etwas auf ein Stück Papier und hielt es hoch, sodass Graciana es lesen konnte: Industriespionage?

»Madame Deveraux«, sagte Graciana. »Was für eine Art sensibler Daten befinden sich denn auf Ihrem Laptop? Können Sie das konkretisieren?«

»Na ja, die Details von Firmenübernahmen. Zahlen, die ihren wirtschaftlichen Wert beziffern. Ganze Gigabyte.«

»Ich möchte Sie nicht beunruhigen ohne mit soliden Beweisen aufwarten zu können«, sagte Graciana vorsichtig, »aber es ist nicht ausgeschlossen, dass Ihre Daten der Grund für den Einbruch waren. Eine Datenkopie bemerkt man nicht sofort als Diebstahl. Halten Sie das für möglich?«

Kurz herrschte Stille in der Leitung. Madame Deveraux schien nachdenklich geworden zu sein.

»Ich wüsste nicht, wie ich das ausschließen könnte – vorausgesetzt, dass es spurlos vonstatten ging. Aber so ein Passwort ist doch nicht einfach zu knacken!«

»Da Sie es sofort ändern sollten«, sagte Carlos, »können Sie uns auch sagen, wie es lautet.«

Schweigen.

»Es ist eine Ziffernfolge. Das Geburtsdatum meiner Tochter.«

Carlos schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.

»Augenblick, Madame.«

Graciana googelte ihren Namen mit dem Zusatz »Tochter«.

Bei dem dritten Link wurde sie fündig. Deveraux mit Tochter bei einer Benefizveranstaltung von Saint Rivage für ein Entwicklungshilfeprojekt im Sudan.

Name der Tochter: Chloé Deveraux.

Graciana suchte jetzt gezielt nach ihr und dem Geburtstag.

Dieses Mal war es der vierte Link – pünktlich zu ihrem 18. Geburtstag, hieß es in einem Ausschnitt aus einem Zeitungsartikel, hat Chloé Deveraux aus Vichy beim Halbmarathon in ihrer Altersklasse den 1. Platz erlaufen.

Die Zeitungsmeldung war mit einem Datum versehen. Als Graciana und Carlos subtrahierten, kam die Ziffernfolge 041202 dabei heraus.

»0–4–1–2–0–2«, sagte Carlos deshalb.

Irgendwo aus dem regnerischen London drang ein tiefes Seufzen an ihre Ohren.

»Es ist mir unendlich peinlich«, sagte die Geschäftsfrau, »was für ein Anfängerfehler.«

»Könnten Sie bitte überprüfen, ob sich der Datenbestand auf Ihrem Laptop zwischen dem 21. und dem 22. September verändert hat?«

»Ich weiß nicht, wie das geht. Aber ich habe jemanden in Reichweite, der das für mich erledigen kann. Ich gebe Ihnen dann umgehend Bescheid. Und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich auch auf dem Laufenden halten könnten, insbesondere, wenn sich von Ihrer Seite aus herausstellt, dass sich tatsächlich jemand heimlich an meinem Rechner bedient hat. Ich müsste nun langsam Schluss machen, weil ich in fünf Minuten einen wichtigen Videocall habe. Gibt es noch etwas, was im Augenblick keinen Aufschub duldet?«

»Ja«, antwortete Graciana sofort, »eine Frage habe ich noch: Mit wem, wenn ich fragen darf, haben Sie sich in dem Restaurant auf dem Monte Rainha Golfresort getroffen?«

»Mit Senhor João Coelho. Er ist Schmuck- und Kunstsachverständiger. Da wir gerade einen angeschlagenen Versicherungskonzern übernommen haben, hat er sich als Experte angedient, also habe ich die Gelegenheit ergriffen, weil er gerade in Faro zu tun hatte.«

»Könnten Sie uns bitte seinen Kontakt mailen?«, bat Carlos und gab ihr die Mailadresse der Polícia Judiciária durch, bevor sie ihr Gespräch beendeten.

 

Carlos setzte sich neben Graciana an den Tisch. »Fassen wir zusammen, was wir haben«, sagte er. »Der Mann, der an dem Raubüberfall beteiligt war und von Kollegin Romão erschossen wurde, war vorher im Monte Rainha «, begann Graciana. »Er ist in das Ferienhaus eingebrochen, in dem Madame Deveraux außer ihrem Smartphone und ihrem Laptop nichts Persönliches deponiert hatte. Er hat nichts gestohlen.«

»Oder das, was er gesucht hat, war nicht da«, wandte Carlos Esteves ein.

»Oder er hat gefunden, wonach er suchte, aber keine Spuren hinterlassen. Das spricht für die Theorie mit der Datenkopie«, fuhr Graciana fort. Ihr Blick hatte was Fokussiertes bekommen, es war ein wenig so, als schaue sie durch ihn hindurch und sehe dort Dinge, die ihm verborgen blieben.

»Vielleicht«, sagte sie dann leise, »ist alles noch einmal ganz anders. Und Karen Riemann hat am nächsten Morgen unbeabsichtigt das gesehen oder sogar fotografiert, was der unbekannte Mann aus dem Haus von Deveraux entwendet hat.«

Carlos nickte: »Lass uns die Fotos noch einmal ganz genau ansehen – am besten bei Isadora.«